Pessimismus für Juristen: Depres­sive Schwarz­ma­lerei oder rea­lis­ti­sche Welt­sicht?

von Martin Rath

07.01.2024

In der juristischen Praxis kann "Pessimismus" zur steuerrechtlichen Phrase ohne tieferen Sinn werden. Grundsätzlich taugt er dazu, den Staat zu rechtfertigen. Zum Jahresbeginn eine Tour durch das nicht zuletzt juristische Poesie-Album.

"Eh' der Herbstwind heult um's Dach, / Sind die Vögel aufgebrochen. / Blatt und Blüten, die verwehen, / Mögen sie nicht fallen sehen. / Bange Wochen / Folgen nach.

Lieber schweigen, Spiel und Scherz, / Die wir pflegten froh gemeinsam. / Wie gewonnen sind zerronnen / Auch der holden Liebe Wonnen. / Ernst und einsam / Ward das Herz. 

Lebenslust und Kraft verloht. / Nebelhauch umhüllt die Sterne, / Und die Hoffnung geht zur Neige. / Durch die raschentlaubten Zweige / Grüßt von ferne / Schon der Tod."

Mit diesen Zeilen zeigt sich ein höherer Verwaltungsbeamter vom Weltschmerz ergriffen. Wie man sieht: Es ist in einem solchen Fall nicht unbedingt zu erwarten, dass sich die Qualität der Lyrik auch noch mit seiner Besoldungsstufe deckt.

Der Jurist Anselm Rumpelt (1853–1916) stand Zeit seines Berufslebens im Dienst des Königreichs Sachsen, zuletzt als Ministerialdirektor im Innenministerium. Unter seinem edel geflügelten Pseudonym Alexis Aar (und weiteren) hinterließ er eine ganze Anzahl von Gedichten – darunter etwa, wenig liebevoll, einen "Studententraum", der auf komische Weise einem imaginierten reichen Onkel in Amerika den Tod an den Hals wünscht, um Geld für die eigene Trinkfreude zu erhalten. 

Das zitierte "Herbstlied" macht den Anfang in einer insgesamt etwas seltsamen Sammlung lyrischer Leistungen aus dem deutschsprachigen Raum: Im Jahr 1884 gab der Lehrer und Journalist Otto Kemmer (1858–ca. 1923) ein "Pessimisten-Gesangbuch" heraus.

Es gibt in diesem Werk naturgemäß keine freiwillig heiteren Zeilen. Vom Dichter Wilhelm Müller (1794–1827), der durch das Lied "Das Wandern ist des Müllers Lust" bis heute bekannt ist, findet sich zum Beispiel in epigrammatischer Kürze: "Springst du freudig durch die Thüre in dein neugebautes Haus, / Denk', aus dieser selben Thüre tragen sie dich einst hinaus."

Heute mag das zwar noch die Stimmung von Baurechtsexperten bei der Bearbeitung von Nachtragsforderungen treffen, zugeben würde man es aber wohl nicht.

Im 19. Jahrhundert war allerdings ein ausdrücklich als Pessimismus bezeichnetes Gefühls- und Gedankenleben für einige Zeit regelrecht populär. Das "Pessimisten-Gesangbuch" gab damals nur ein Beispiel unter vielen Werken für eine düstere Popkultur avant la lettre.

Pessimismus: eine intellektuelle Modeerscheinung

Bevor der tendenziell populärkulturelle Begriff "Pessimismus" Eingang auch in den professionellen juristischen Sprachgebrauch fand, machte er eine eigenartige Entwicklung durch – vom intellektuellen Scherz zur tiefgründigen Philosophie und zurück zu einer weniger belastbaren volkstümlichen Semantik.

Zunächst war die Sache also ein Witz.

Den Anfang machte im 18. Jahrhundert die Idee des deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), einem unter Juristen etwas vernachlässigten Vordenker auch von Systemen gerade des deutschen Rechts: Unsere Welt sei die beste aller denkbaren Welten. Dieser – von anderen – als "Optimismus" bezeichnete philosophisch-theologische Ansatz wurde Gegenstand sehr harscher intellektueller Auseinandersetzungen. Der Begriff "Pessimismus" gesellte sich als gebildeter Scherz hinzu – streng genommen bezeichnet er die Idee, es sei die schlechteste aller denkbaren Welten, mit der unsereins zu tun hat.

Dann wurde die Sache ernst, insbesondere mit dem Werk des in Danzig geborenen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860). In einem neuen Versuch, ihn für ein liberales Staatsdenken der Gegenwart nutzbar zu machen, schreibt die an der Universität Magdeburg tätige Philosophin Christina Kast:

"Schopenhauers profundes Misstrauen wider Leben und Existenz, das in seinem metaphysischen Pessimismus wurzelt, zieht eine tiefe Skepsis wider das Politische nach sich: Der Mensch ist als objektivierter Wille zum Leben bestimmt von Egoismus, sein Dasein geprägt von der Allgegenwart des Leidens. Der Staat vermag beides – Egoismus und Leiden – zwar einzuhegen, jedoch niemals im Kern zu überwinden, wodurch die Grenze von Politik und Staatlichkeit markiert ist. Der Mensch ist in seiner existentiellen Bedingtheit jeder staatlichen Verfügbarkeit enthoben, sein Inneres vermag der Staat nicht zu greifen – er muss sich dieser Faktizität beugen und so in dem ihm Möglichen und Machbaren verbleiben." – Dem Staat sei es aufgegeben, das "summum malum" zu verhüten, Freiheit zu ermöglichen, nicht den Menschen zu verändern oder zu verbessern.

Auch der geflügelte Satz von Wilhelm Busch (1832–1908) – "Das Gute – dieser Satz steht fest – / ist stets das Böse, was man lässt" ist schon ein popularisiertes Schopenhauer-Denken. Strafrechtsdogmatiker können ein Leben damit zubringen, es in die Formen ihrer Fakultät zu übersetzen.

Der metaphysische Ernst geriet dann noch im 19. Jahrhundert mit einem populären Kulturpessimismus wieder in die Nähe von alltagsüblicher Schwarzmalerei, behielt aber zunächst eine relativ hohe Qualität bei, wie der philosophische Feuilletonist Ludwig Marcuse (1894–1971) meinte:

"Der Kultur-Pessimismus entstand als eine Reaktion auf die strahlenden Bilder vom Siegeszug der Menschheit, von Herder bis Hegel. Er klagt nicht (ganz allgemein, wie noch das Barock des Gryphius) über die Welt als 'Schauplatz der Eitelkeit', als 'Jammertal', als 'Folter reiner Herzen' – sondern gerade über das Zwielichtig-werden des letzten Himmels, der vom 'Jammertal' ablenkte: über das Zwielichtig-werden der Kultur."

Juristische Pessimismus-Phrasen

Ein auch nur halbwegs feinsinnig ausgearbeiteter Pessimismus sollte sich, folgt man Marcuse darin, jedenfalls dadurch auszeichnen, dass er den Verlust der tröstenden Kräfte von Lyrik und Musik, von Literatur und Schauspiel analytisch erkennt. Allerdings erklärte Marcuse bereits 1958, dass sich der "Kultur-Pessimismus zur Kultur-Gleichgültigkeit" entwickelt habe.

Damit ist der Pessimismus heute regelmäßig wieder ohne großen metaphysischen Apparat zu denken. Das geht so weit, dass im juristischen Sprachgebrauch schon die bloße kaufmännische Vorsicht als pessimistisch gilt.

Ohne jeden Gedanken daran, dass hinter den Begriffen Optimismus und Pessimismus rund 300 Jahre philosophischer Probleme lauern, grenzte beispielsweise der Bundesfinanzhof (BFH) in einem Urteil vom 3. Juli 1956 (Az. I 118/55 U) die steuerlich begünstigten Rückstellungen eines Unternehmers von nicht begünstigten Rücklagen ab: Ein Kaufmann dürfe nicht allein wegen seiner pessimistischen Beurteilung einer künftigen Konjunktur bereits Rückstellungen bilden, es müsse dazu ein greifbares, seinem Unternehmen eigenes Risiko vorliegen.

Entscheidend ist hier – wie in vielen späteren BFH-Entscheidungen, in denen es auf die prognostischen Fähigkeiten von Wirtschaftsakteuren ankommt – eigentlich, dass ein geschäftliches Risiko für eine Unternehmensbilanz zurechenbar und eingrenzbar, für den konkreten Geschäftsgang plausibel ist. Einem Kaufmann unter der Hand zu unterstellen, er neige in seiner letztlich politischen Einschätzung der Lage, also der Konjunktur, zu einem Mangel an Optimismus, ist damit ein bisschen übergriffig.

Ein klares Bekenntnis dazu, dass es Richtern nicht zusteht, die Haltung einer Prozesspartei zur Welt, zur Zukunft in derart großen Dimensionen zu erfassen, findet sich hingegen in einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (Az. 4 CB 1.90) zur Einschätzung der künftigen Lärmentwicklung des Flughafens Stuttgart:

"Wenn die Behörde eine skeptische, ja pessimistische Haltung im Hinblick auf die Ereigniswahrscheinlichkeiten einnimmt, so kann dem aus Rechtsgründen nicht entgegengetreten werden. Das Gericht kann der planenden Behörde nicht vorhalten, eher zu optimistisch oder eher zu pessimistisch zu sein."

Zu unterscheiden sind von dieser unmittelbaren richterlichen Würdigung, was von – mutmaßlich – pessimistischen Überlegungen eines Verfahrensbeteiligten zu halten sei, unzählige mittelbare Bewertungen von Pessimisten.  Fraglich ist es beispielsweise häufiger, ob "nicht realitätsbezogene, absolut pessimistische, depressive Überzeugungen" vorliegen. Gefragt wird dann der medizinische, psychiatrische Gutachter (stellvertretend für viele: Bundesgerichtshof, BGH, Urt. v. 25.10.2023, Az. 5 StR 104/23).

In der medizinischen Lesart wird der Pessimismus pathologisch, wenn er "absolut" ist, sich also vollständig oder doch sehr weitgehend von einer allgemeinen Wahrnehmung der Realität abgelöst hat.

Von einem ernsthaft philosophischen Pessimismus ist das denkbar weit entfernt. Denn dieser versteht sich, um noch einmal Christina Kast zu zitieren, beispielsweise als realitätstüchtige Motivation für den Staat, sich der "Verhütung äußerer Leidenserfahrung" zu widmen, beim Bürger, ein politisches Handeln zu entwickeln, "das sich einen stets wachen Geist für die Unwägbarkeiten von Mensch und Welt bewahren muss. Bescheidung, Mäßigung und Gleichmut sind einem solchen Politikverständnis inhärent."

Jedoch borgt sich der Jurist den pathologisierenden "absoluten" Pessimismus nur von Medizinern aus, um schwierige Kundschaft zu beurteilen. Nichts hindert ihn daran, sein eigenes Denken in "Bescheidung, Mäßigung und Gleichmut" pessimistisch zu grundieren.

Selbstmitleidsbekundung trotz Abstand vom offenen Grab

Zur Warnung soll aus dem "Pessimisten-Gesangbuch", publiziert im Jahr 1884, zum Schluss noch ein kurzes Gedicht zitiert werden:

"So manches Herz, das edel schlägt, / Bleibt unbeachtet Jahr um Jahr, / Und erst wenn man's zu Grabe trägt, / Bringt man zu spät ihm Kränze dar;

Die schmücken dann noch kurze Frist / Ein Grab statt einer Lebensbahn, / Und mit dem Todten selbst vergißt / Die Welt was er für sie gethan."

Verfasst hat diese Zeilen unter dem Titel "Undank" ein Jurist, der nicht nur als Rechtsanwalt und Notar erfolgreich war, sondern auch alle Würden seiner Zeit genoss – Louis Engelbrecht (1857–1934) erhielt den Ehrentitel Justizrat, war Ratsmitglied in Zeiten des Dreiklassenwahlrechts, Reserveoffizier und zählte zu einem von den höchsten Kreisen seiner Stadt frequentierten Stammtisch, bekannt als "Die ehrlichen Kleiderseller zu Braunschweig", dem Professoren und Politiker, steinreiche Unternehmer und gehobene Geistliche angehörten.

Die Klage darüber, dass die Welt keinen Dank für die eigenen Leistungen übrig habe, wirkt etwas selbstmitleidig. Und spätestens mit Selbstmitleid sollte für seriöse Pessimisten der Spaß aufhören.

Hinweise: Christina Kast (Hg.): "Pessimistischer Liberalismus. Arthur Schopenhauers Staat". Baden-Baden (Nomos), 2021, enthält eine Reihe von interessanten Aufsätzen, unter anderem zur Staats- und Rechtsphilosophie Schopenhauers. Ludwig Marcuses "Kultur-Pessimismus" erschien im "Merkur", November 1958, S. 1002–1016 (€). Das "Pessimisten-Gesangbuch" ist als Digitalisat greifbar.

Zitiervorschlag

Pessimismus für Juristen: . In: Legal Tribune Online, 07.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53568 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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