Christen feiern zu Ostern, dass in Jerusalem ein leeres Grab vorzufinden war. Gelegenheit, sich mit dem Rechtsproblem des Leichenraubs zu befassen – der damals vor der theologischen Fall-Bearbeitung in Betracht gezogen wurde.
In seiner Kurzgeschichte "Der Trauzeuge" erzählt der in Bonn lebende Übersetzer und Schriftsteller Gisbert Haefs (1950–) vom emeritierten römischen Offizier Sextus Pomponius Alba, der sich als betagter Mann auf der griechischen Insel Patmos niedergelassen hat. Weil er mit schwach gewordenen Augen die Schriftrollen seiner privaten Bibliothek nicht mehr genießen kann, versichert sich der alte Legionär der Dienste eines soeben nach Patmos verbannten mutmaßlichen religiösen Aufrührers, der sich ihm als Iochanan vorstellt.
In der christlichen Überlieferung kennt man diesen Iochanan als den Verfasser des Johannes-Evangeliums. Haefs porträtiert ihn als psychisch nicht ganz koscheren Kopf, der sich wenig erfreut darüber zeigt, was ihm Pomponius aus seinen jungen Jahren als eine Art römischer Verfassungsschutzbeamter zu Jerusalem erzählt. Der alte Offizier war dort einem gewissen Iesos Christos begegnet – und macht seinen Vorleser beispielsweise auf die juristischen Unstimmigkeiten in den Berichten zum Prozess gegen Jesus von Nazareth aufmerksam. Bestürzt ist Iochanan, als er hört, dass sein Messias bei der "Hochzeit von Kana" nicht etwa ein Gast, sondern der Bräutigam gewesen sei.
Ein Grab ist leer, aber die römische Justiz ermittelt nicht?
Die Idee, seine Beobachtungen aus dem wilden Jerusalem der Jugendjahre selbst zu Papyrus zu bringen, kann Pomponius nicht mehr verwirklichen – Haefs formuliert eine hierzu passende böse Pointe auf den religiösen Fanatismus.
Doch es gibt noch mehr Stoff für historisch-fantastische Überlegungen. In einer rechtswissenschaftlichen Dissertation, die selbst schon wieder historischen Wert hat, finden sich beispielsweise Hinweise, worüber der fiktive römische Geheimdienst-Mann und der frühchristliche Eiferer mit Blick auf die Ostergeschichte noch in einen weiteren Streit hätten geraten können. In der biblischen Erzählung (nach Johannes) heißt es:
Vor jeder theologischen Überhöhung des Tatbestands hin zur Wiederauferstehung stand hier also schlicht der Verdacht des Leichenraubs.
Unter dem Titel "Der Leichenraub. Eine historische und dogmatische Studie" legte ein Erich Merkel 1904 in Leipzig seine rechtswissenschaftliche Doktorarbeit zum Thema vor. Von einem Referendar im deutschen Kaiserreich waren natürlich keine Frechheiten wider die christliche Religion zu erwarten. Immerhin betont Merkel, dass der Leichenraub jedenfalls materiell-rechtlich im römischen Reich eine große Sache gewesen sei – ein Verbrechen, das einen gewitzten Verfassungsschutzbeamten des Imperium Romanum zumindest im Fall des soeben standrechtlich gekreuzigten Aufrührers Iesos Christos zu der vorsichtigen Bewertung hätte anleiten können, dass es sich bei den kursierenden Gerüchten, wonach hier jemand von den Toten auferstanden sei, um eine gezielte Falschinformation handelte, um die Sache einer dissidenten jüdischen Sekte voranzubringen.
Römisches Recht – ein Nonplusultra des Leichenraubrechts?
Verlassen wir aber das Feld der theologisch-märchenhaften Spekulation. Denn das Anliegen, das Erich Merkel 1904 in seiner "Leichenraub"-Studie umtrieb, ist auf ernste Weise interessant genug.
Merkel war mit dem deutschen Leichenraubrecht lege lata sehr unzufrieden. Die einschlägige Vorschrift, § 168 Strafgesetzbuch (StGB) hatte seinerzeit folgenden Wortlaut:
"Wer unbefugt eine Leiche aus dem Gewahrsam der dazu berechtigten Personen wegnimmt, ingleichen wer unbefugt ein Grab zerstört oder beschädigt, oder wer an einem Grabe beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden."
Hinzu kam, gedacht als strafrechtliche Privilegierung vor allem für Medizinstudenten, die beispielsweise aus humoristischen Gründen mit einer Leiche nicht nur im Präparierkurs hantierten, der Übertretungstatbestand des § 367 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Merkel näherte sich dem Problem des Leichenraubs im umfassenden, aber zeittypisch knappen Zugriff eines angehenden juristischen Doktoranden. Beispielsweise klärt er in einer sprachhistorischen Untersuchung darüber auf, dass es einst zulässig war, von einem "toten Leichnam" – im Gegensatz zu einem "lebenden Leichnam" – zu sprechen, da "lîh-hamo" zunächst die lebendige "Fleisch-Hülle" der Seele bezeichnete (von "lih" = Fleisch, "hamo" = "Hülle", heute noch im Wort "Hemd" zu finden).
Ein Leichnam zeichne sich dadurch aus, dass in ihm noch die beseelte Persönlichkeit eines lebendigen Menschen erkennbar sei. Sobald er nicht mehr von "Bändern und Sehnen" zusammengehalten werde, liege kein Leichnam mehr vor, der durch § 168 StGB geschützt sei. Wo der Zusammenhalt künstlich hergestellt sei, entfalle nach erheblicher Zeit doch die schützenswerte soziale Persönlichkeit:
"(D)ie Mumie ist mehr Kuriosität als toter Mensch. Allerdings ist der Mumie eines Ramses II. noch immer der Adel der kraftvollen Persönlichkeit aufgedrückt, die vor Jahrtausenden gewirkt hat, doch kann an einer ägyptischen Mumie, zumal sie kein Gegenstand religiöser Achtung mehr ist, das Pietätsgefühl nicht verletzt werden; Mumien sind keine Leichname mehr."
Strafrechtsdogmatisch kritisierte Merkel unter anderem, dass der § 168 StGB unnötig mit den schon im Diebstahlsrecht problematischen Gewahrsamsfragen belastet wurde. Zu fordern sei nicht der Schutz des – ohnehin ein gutes Stück außerhalb des Sachenrechts liegenden – Gegenstands "Leichnam", vielmehr sei die Pietät das zentrale Rechtsgutanliegen.
Ein Mangel des deutschen Straftatbestands liege zudem darin, dass würdelose Praktiken mit der Totenasche nicht pönalisiert seien. Berücksichtigt werden sollten de lege ferenda auch bisher nicht erfasste beleidigende Umgangsformen zulasten von Leichen, etwa ein ehrwidriges Anspucken. Zu bedenken sei auch, dass immer wieder von sexuellen Perversionen berichtet werde.
In Sachen Leichenraub: Selektive Aufnahme der Rechtswissenschaft
In der juristischen Presse des Jahres 1904 wurde Merkels Dissertation zum Leichenraub wohlwollend, aber mit dem Hinweis besprochen, sie enthalte keine wesentlich neuen Erkenntnisse.
Dass sich der Tatbestand des "Leichenraubs" nicht unbedingt mit der Gewahrsamsproblematik belasten müsse, weil die Strafnorm nicht das Eigentum, sondern die Pietät zu schützen habe, war damit bereits zu Kaisers Zeiten anerkannt. Berücksichtigt hat dies der Gesetzgeber in den vergangenen 115 Jahren jedoch nicht – immer noch muss auch hier ein Gewahrsamsbruch geprüft werden. Die "Asche eines verstorbenen Menschen" schützt die Norm immerhin seit 1953. Für diesen Lückenschluss waren also gemächliche knapp 50 Jahre notwendig – so viel Geduld zeigt das Parlament heute leider beim Lückenschließen nicht mehr.
Ob er sich dabei von der Rechtswissenschaft allzu eng leiten ließ, lässt sich bezweifeln. Denn Merkel hatte beispielsweise deutlich gegen einen strafrechtlichen Schutz des tot zur Welt gekommenen Nasciturus Stellung bezogen – der Pietätsschutz sollte Menschen vorbehalten bleiben, die als lebende, soziale Person jedenfalls kurz ans Licht der Welt getreten waren. Als vorbildlich galten ihm hier wieder die alten Römer, die um die Leibesfrucht wenig Umstände machten.
Ob das römische Recht zum "Leichenraub" wirklich so vorbildlich war, wie es ein Jurist im deutschen Kaiserreich noch sah, mag offen bleiben – es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen.
Trotz des dunklen Themas immerhin ganz amüsant mag die Frage am Osterfeiertag sein, was aus der Weltgeschichte geworden wäre, hätte es damals in Jerusalem römische Ermittler gegeben, bereit, dem Verdacht der Maria Magdalena nachzugehen, dass ein Leichenraub stattgefunden habe.
Denn was ist noch das klügste materielle Recht ohne Behörden wert, die es ernst nehmen?
Martin Rath, Strafrecht zu Ostern: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34983 (abgerufen am: 25.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag