Am Ostersonntag oder -montag 1942 kommt ein jugendlicher Arrestant vorzeitig auf freien Fuß. Sein Richter lügt – womöglich – den verantwortlichen Justizwachtmeister in die Armut. Zwölf Jahre später schafft der Bundesdisziplinarhof Recht.
Die hier zu berichtende Geschichte erinnert ein wenig an den Film "Rosen für den Staatsanwalt", der 1959 unter der Regie von Wolfgang Staudte (1906–1984) entstand – und dementiert ihn zugleich ein gutes Stück in seinen Prämissen.
In dem Film "Rosen für den Staatsanwalt" entgeht der schlicht gestrickte Soldat Rudi Kleinschmidt (Walter Giller) durch einen glücklichen Zufall der Vollstreckung seines Todesurteils, das ihn wegen unerlaubten Besitzes von zwei Dosen "Fliegerschokolade" ereilt hatte. Jahre nach dem Krieg begegnet Kleinschmidt dem seinerzeitigen Kriegsgerichtsrat Dr. Wilhelm Schramm (Martin Held), der ihn – nunmehr Oberstaatsanwalt im Wirtschaftswunderland – bald von Neuem wegen Schokoladen-Diebstahls vor Gericht bringen darf.
Die durchaus vergnügliche Staudte-Komödie spielt mit dem Eindruck, das Nachkriegsdeutschland sei von einer kaum zu überwindenden Schlussstrich-Mentalität geprägt gewesen – nicht zuletzt unter den Amtsträgern der Justizbehörden. Später hat sich dieser Eindruck noch verfestigt – vermutlich weil es galt, "1968" als das Wunderjahr westdeutschen Gesellschaftswandels erst zu zelebrieren, dann zu verfluchen.
Und die Krähen hackten ihresgleichen durchaus
Am Ende der nun folgenden Geschichte, die im Beschluss des Bundesdisziplinarhofs vom 4. August 1954 (Az. II DW 7/54) zu finden ist, hacken die sprichwörtlichen Krähen sehr kräftig auf eine der ihren und stellen damit für einen eher schlicht gestrickten kleinen Mann das Recht wieder her. Ausgangspunkt war ein Vorgang aus dem Jugendstrafrecht, das auch zu NS-Zeiten sehr milde ausfallen konnte:
Im Jahr 1942, zwischen dem Karsamstag, 16.30 Uhr, und dem Ostermontag, 7 Uhr, sollte "der damals 17-jährige Schlosser T., ein HJ-Führer und Mitglied des NS-Fliegerkorps, einen Wochenendarrest verbüßen" und "wurde dementsprechend in ein Dienstzimmer des Amtsgerichts, das zu einem Zellenraum umgewandelt war, eingeliefert".
Wir dürfen uns diese Lage als durchaus komfortabel vorstellen: Das paramilitärisch ausgerichtete Fliegerkorps hatte eine elitäre Anmutung – wie die Fliegerei zu jeder Zeit –, das Paratmachen eines Dienstraums erinnert zudem an die ehrenvolle Festungshaft älterer Zeiten. In Hamburg gingen jugendliche Jazz-Freunde 1941 ins KZ, für junge Polen war das Jugendstrafrecht gleich ganz außer Kraft gesetzt. Dass sein Richter dem Arrestanten vermutlich überaus wohlwollend begegnete, wird auch aus dem Weiteren deutlich werden.
Entlassung wegen Unwohlseins des Arrestanten
Jugendrichter war ein Amtsgerichtsrat Dr. Schubert. Die Verantwortung für die Beaufsichtigung des jungen Mannes trug ein Justizwachtmeister, der sich an diesem Ostertag auf Jahre um seine Zukunft brachte:
Am Sonntagabend, gegen 22 Uhr, – so der Justizwachtmeister – habe er einen Zettel vorgefunden, auf dem notiert gewesen sei: "Der Arrestant ist vorzeitig entlassen. Dr. Schubert"
Dieser Dr. Schubert sagte im nun gegen den Justizwachtmeister angestrengten Disziplinarverfahren aus, jener habe sich bereits am Karsamstag nicht im Gerichtsgebäude aufgehalten, er, Schubert, habe den Arrestanten erst am Montagmorgen gegen 5 Uhr wegen eines Unwohlseins entlassen.
Wegen seiner vorgeblichen Pflichtverletzung bei der Aufsicht über den Arrestanten und seiner Ungehörigkeit, den Richter Dr. Schubert im Disziplinarverfahren der Unehrlichkeit geziehen zu haben (der Zettel lag nicht mehr vor), wurde der Wachtmeister zunächst durch Urteil vom 17. September 1942 unter Bewilligung eines Unterhaltsbeitrags von 50 Prozent auf fünf Jahre und eines Ruhegehalts von 30 Prozent auf Lebenszeit aus dem Dienst entfernt. Der Dienststrafsenat beim Reichsgericht verschärfte das Urteil im Berufungsverfahren, indem er die Bezüge auf 75 Prozent für drei Jahre kürzte – und dem vormaligen Justizwachtmeister die Altersversorgung von 30 Prozent strich.
2/3: Wiedergutmachung scheitert zunächst
Die Streichung der Altersversorgung wog schwer: Im Jahr 1889 geboren, war der Mann 1913 als Hilfsgerichtsdienter eingestellt worden und "nach ehrenvoller Teilnahme am 1. Weltkriege" seit 1919 als Justizwachtmeister beim Amtsgericht beschäftigt. Mit Anfang/Mitte 50 war er in einem Alter, in dem man damals noch weit weniger als heute große berufliche Sprünge macht.
Zwischen dem Justizwachtmeister, einem gerichtsbekannt gläubigen Katholiken, der "sich stets von dem Nationalsozialismus" ferngehalten hatte, und dem Amtsgerichtsrat Dr. Schubert herrschten zum Zeitpunkt des Vorgangs bereits seit rund zwei Jahren Animositäten – dieser wollte den Wachtmeister u.a. als politisch unzuverlässigen, vermeintlichen Polen aus dem Dienst entfernt haben.
Bemühen um Rehabilitation
Dr. Schubert, der als Zeuge im Disziplinarverfahren auftrat, belastete den Wachtmeister schwer. Wir dürfen uns diesen Amtsgerichtsrat wohl als einen Kopf jener schneidigen und teils radikal nationalistischen Juristengeneration vorstellen, deren Angehörige sich dem Nationalsozialismus umso mehr zuwandten, als sie zu jung waren, um selbst den Ersten Weltkrieg erlebt zu haben und zu karriereorientiert, als dass sie sich an "verdrängten" jüdischen, liberalen, sozialdemokratischen Kollegen oder an der Hirnverbranntheit der NS-Weltanschauung hätten stören wollen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühte sich nun der aus dem Beamtenverhältnis entfernte Wachtmeister a.D. wiederholt um Rehabilitation, die zuletzt der Bundesminister des Inneren mit Bescheid aus dem Jahr 1954 zurückwies: Die Dienststrafkammer habe 1942 "erhebliche Verstöße des Antragstellers (Anm. des Autors: des Wachtmeisters) gegen seine Beamtenpflichten festgestellt, insbesondere habe er seine gehässigen Angriffe gegen seinen Vorgesetzten, Amtsgerichtsrat Dr. Schubert, auch noch in der Hauptverhandlung in uneinsichtiger und geradezu empörender Art hartnäckig aufrechterhalten".
Im Ergebnis liege, so der Bundesinnenminister, in der wirtschaftlichen Vernichtung des ehemaligen Beamten keine spezifisch nationalsozialistische Härte.
3/3: Ja, wo hacken sie denn?
Der Bundesdisziplinarhof sah dies mit Blick in die Akten anders.
Über den "Kronzeugen" des Verfahrens gegen den Wachtmeister, den Kollegen Amtsgerichtsrat Dr. Schubert, hielten die Bundesrichter fest: "Schubert war ausweislich seiner Personalakten nicht – wie er nach dem Zusammenbruch angegeben hat – nur SS-Mann, sondern SS-Rottenführer und in der NSDAP-Ortsgruppe auch Personalamtsleiter gewesen."
Weiterhin habe, so der Bundesdisziplinarhof, der seinerzeit in das Verfahren gegen den Wachtmeister involvierte Oberlandesgerichtspräsident dem Amtsgerichtsrat gelegentlich "seine schärfste Mißbilligung deshalb ausgesprochen, weil Schubert unbefugt Gerichtsakten erst in seinem Zimmer im Gerichtgebäude und dann in seiner Wohnung aufbewahrt hatte, von denen er annahm, sie könnten für die Beurteilung des Antragstellers (Anm. des Autors: des Wachtmeisters) von Bedeutung sein. Schubert hatte also in seiner Eigenschaft als Richter Akten in dem Verfahren … beiseite geschafft."
Unter den Gründen, die der Bundesdisziplinarhof 1954 an höchste Stelle setzte, wenn es darum ging, die Glaubwürdigkeit des Kollegen Dr. Schubert in Zweifel zu ziehen, nennt der Beschluss freilich an erster Stelle einen bis heute beliebten:
"Wie die von dem Senat herbeigezogenen Personalakten des Dr. Schubert ergeben, hatte er sich von 1950 ab um eine Anstellung im württembergischen Staatsdienst mit der Behauptung beworben, er habe die große juristische Staatsprüfung im früheren Reichsjustizministerium am 20. August 1930 mit 'befriedigend' bestanden. Tatsächlich hatte er sie am 31. Mai 1929 nicht und bei der Wiederholung nur mit 'ausreichend' bestanden."
Ende gut, alles gut?
All diese Erkenntnisse über den promovierten Juristen bewogen die Bundesrichter dazu, in der vollständigen Beseitigung des Wachtmeisters aus dem Beamtenverhältnis nun doch eine spezifisch nationalsozialistische Härte zu erkennen.
Der darauf fußende Beschluss des Bundesdisziplinarhofs beseitigte die zuletzt vom Bundesminister des Inneren aufrecht erhaltene Rechtslage dahingehend, dass die gegen den Wachtmeister 1942 verhängte Höchststrafe "in eine Gehaltskürzung von 10 von Hundert auf die Dauer von 3 Jahren zu mildern" war.
Es ging also doch, und zwar schon 1954, möchte man zufrieden feststellen, in dieser Dorfrichter-Adam-Posse mit nazibraunem Richter und aufrecht konservativem Justizwachtmeister.
Schlussstriche unter justizförmiges Unrecht
Ganz dementiert der Fall die Prämissen der bösen Justizkomödie "Rosen für den Staatsanwalt" freilich nicht: Der Wachtmeister hatte viele wichtige Fürsprecher, die massiv intervenierten. So sagte beispielsweise ein leibhaftiger Oberlandesgerichtsrat für den Wachtmeister aus, in der Dienststrafkammer des Jahres 1942 habe ein mitwirkender Senatspräsident, "ein NSDAP-Mitglied und politischer Scharfmacher", den dritten Beisitzer, "einen Justizwachtmeister, beeinflußt, gleichfalls für die Höchststrafe" gegen den Wachtmeister-Kollegen zu stimmen.
Derart viel Herzblut, hier sogar aus der Mördergrube des Beratungsgeheimnisses herauszutreten, brachten damals gewiss nicht viele Richter auf bzw. nicht für jeden Geschädigten – aus Gründen auch eigenen Interesses, Schlussstriche unter justizförmiges Unrecht zu ziehen.
Angesichts der zahllosen, in den Jahren der Gewaltherrschaft weitaus schwerer geschädigten Männer und Frauen, die niemals oder doch erst Jahrzehnte später in ein bescheidenes Recht gesetzt wurden, lässt sich wohl festhalten: Ja, diese schöne Geschichte zeigt, dass sie damals auch anders konnten – wenn sie denn wollten.
Hinweis: Als Erkenntnisquelle für das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Voraussetzungen und persönlichen (Karriere-) Interessen in der Welt des Rechts gar nicht oft genug zu empfehlen ist Ulrich Herberts "Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft" (2. Auflage, München 2016).
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Disziplinarrecht: Hat der Amtsgerichtsrat zu Ostern gelogen? . In: Legal Tribune Online, 16.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22662/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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