In den bürgerlichen Hausapotheken des 19. Jahrhunderts stand ein Fläschchen Opium-Tinktur. Arbeitern diente Opium als Ersatzdroge, wenn Alkohol zu teuer war. Heroin wurde von einem großen deutschen Pharmakonzern als Allheilmittel vermarktet. Die juristische Wende zur heutigen restriktiven Drogenpolitik begann im Januar 1912. Ein Stück Rechtsgeschichte von Martin Rath.
Drei Wochen bevor der letzte Kaiser von China, ein sechsjähriges Kind, zur Abdankung gezwungen wurde, unterzeichnete sein außerordentlicher Gesandter im fernen Den Haag das Internationale Opiumabkommen. Vertreter aller sogenannten Kulturnationen – ermächtigt vom US-Präsidenten über den deutschen Kaiser bis zum König von Siam – hatten seit dem 12. Januar 1912 verhandelt. Am 23. Januar setzten sie ihre Unterschriften unter den Vertrag.
In seinen ersten Kapiteln benannte das Abkommen Opium in seinen verschiedensten Verarbeitungsformen, zudem fügte es, ein bisschen lieblos, Kokain und Diacetylmorphin hinzu. Die Kontrolle des Handels wurde verpflichtend, eine Beschränkung auf medizinische und "andere gesetzliche" Anwendungen sollte durchgesetzt werden.
Die Kulturnationen ließen sich Zeit damit. Das Deutsche Reich setzte seine Verpflichtungen erst mit dem Opiumgesetz von 1920 um, dem Vorgänger des heutigen Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). Bis heute lästern Historiker gelegentlich, die mächtigste chemische Industrie der Welt, also die deutsche, habe zur Verzögerung beigetragen. Freilich focht ein Großteil der "Kulturnationen" zwischenzeitlich den ersten echten Weltkrieg aus. Dafür ging die Ratifikation recht schnell vonstatten.
Opium, Morphium, Heroin zwischen Salon, Kneipe und Apotheke
Pu Yi (1906-1967), dem kleinen Kaiser von China, nützte es nichts, dass sich die internationale Gemeinschaft Anfang des 20. Jahrhunderts dazu durchrang, eine Anzahl psychoaktiver Substanzen unter juristische Kautel zu stellen. Nicht allein, dass seine Mutter sich 1921 mit Opium vergiftete. China war das Schlachtfeld der internationalen Drogenpolitik gewesen. Mit militärischen Mitteln hatten die Briten das Land im Lauf des 19. Jahrhunderts für den Opiumhandel geöffnet. Ihr wirtschaftliches Kalkül war schlicht. Man wollte chinesischen Tee und Porzellan kaufen. Das nötige Silber erwarben die britischen Kaufleute mit dem Verkauf von Opium, das in indischen Manufakturen professionell hergestellt wurde. Es fehlte dem Westen an besseren Handelsgütern.
Der Opiumkonsum verbreitete sich in China, korrumpierte die Gesellschaft von Grund auf. Kaum ein Beamter, der ohne Bestechung mit Opium tätig wurde – wenn er denn nach dem Konsum noch tatkräftig war. Während die berüchtigten "Opiumkriege" heute jedem kulturell sensiblem Manager geläufig sein sollten, der mit den kommunistischen Nachfolgern Pu Yis Geschäfte machen will, ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass auch die europäische Drogengeschichte nicht erst begann, als 1968 das erste Heroin aus Vietnam in Frankfurt und Schweinsfurth auftauchte, Mitbringsel von US-Soldaten.
Schon im 19. Jahrhundert begründeten mit ihrem notorischen Alkohol-, Haschisch- und Opiumkonsum Künstler wie der dekadente französische Dichter Charles Baudelaire (1821-1867) den Mythos, Kreativität und psychotrope Substanzen stünden in einem positiven Zusammenhang. Auch der wegen seiner esoterischen Ideen bis heute verehrte Wiener Arzt Sigmund Freud (1856-1939) mühte sich, einen Freund von seiner Morphiumabhängigkeit zu kurieren, sein "Gegengift" hieß Kokain.
Britische Arbeiter konsumierten, nach Angaben des Berliner Historikers Wolfgang Schivelbusch, Opiumtinkturen, wenn das Geld zum Kauf hochprozentiger Alkoholika fehlte. Modern war die chemische Bearbeitung altbekannter Substanzen. Morphin, eine Teilsubstanz des Opiums, gewann erstmals 1804 ein Apotheker aus Paderborn – das erste genau zu dosierende Schmerzmittel der Weltgeschichte. Den US-amerikanischen Bürgerkrieg oder den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 verließen zahlreiche Soldaten als Opiatabhängige. Bürgerliche Salons konsumierten die modernen Substanzen, neben dem Morphium das neuentdeckte Kokain.
Zur leichten Verbreitung trug eine erstaunlich liberale Gesetzgebung bei. Der englische "Pharmacy and Poisons Act" von 1868 schrieb vor, was ohnehin Regel war: Drogen und Gifte durften nur von Apotheken vertrieben werden, ganz gleich ob Rattengift oder Kokain. Immerhin sollte der Apotheker seinen Kunden persönlich kennen.
Chinesen als Gastarbeiter, Apotheker als Kunden
Nicht nur, dass ein Sigmund Freud selbst zeitweilig dem Kokain zugetan war. In den USA soll jeder zehnte Apotheker und Arzt sein bester Kunde für psychotrope Substanzen gewesen sein. Dazu, dass der Konsum solcher Stoffe zum Gegenstand politischer Kampagnen modernen Zuschnitts wurde, genügte indes ihr schädlicher Einfluss auf die Arbeitsmoral allein nicht. Der typische Kapitalist sorgte für Zucht in seiner Fabrik und für "Trinkhallen" vor ihren Toren. Politisch wurde der Kampf gegen die Trunksucht in den USA – Hand in Hand im Kampf um das Frauenwahlrecht. Nicht zufällig wurden das Frauenstimmrecht und die Prohibition fast zeitgleich in die Verfassung der Vereinigten Staaten aufgenommen.
Aufgerüttelt wurde die US-Öffentlichkeit mit Blick auf Opiatprobleme wohl weniger durch morphinistische Apotheker als durch exotische Gefahren: Seit den 1850er-Jahren lebten einige tausend chinesischer Arbeiter im Land. Sie wurden nicht nur das erste Opfer einer fremdenfeindlichen Gesetzgebung der USA ("Chinese Exclusion Act", 1884), auch ihr Opiatkonsum taugte als Stoff, mit dem man Kampagnen befeuern kann. So zählte die US-Regierung zu den treibenden Kräften hinter einer ersten Opium-Konferenz in Shanghai und jener zweiten Konferenz von 1912, deren Ergebnisse sich bis heute in der deutschen Gesetzgebung nachweisen lassen.
Leverkusener als Verkaufsgenies, Berliner als Bremser
Ruß, Industriestaub, partikelreiche Luft in den Städten des rasch industrialisierten Deutschen Reichs hinterließen ihre Spuren in den Lungen der Untertanen. Die Lösung des Problems: Mit Hustenmitteln ließ sich Geld verdienen. Unter anderem als solches wurde das 1897 von Chemikern des heutigen Bayer-Konzerns synthetisierte Diacetylmorphin vermarktet, für das sich Bayer nur den Markennamen "Heroin" reservieren lassen konnte, weil die Substanz selbst bereits 1873 von einem britischen Chemiker entdeckt worden war – ohne ihr Potenzial zu sehen.
In die Apotheken gelangte das Heroin als Wundermittel, hilfreich gegen Husten und Schmerzen. Frauenleiden war mit heroinhaltigen Tampons abzuhelfen. Mengen bis zu 25 Gramm wurden in eleganten Gläsern vertrieben. Die Firma Bayer und, weil es für die Substanz am Patentschutz fehlte, ihre Mitbewerber erschlossen den Weltmarkt. Der Berliner Mediziner Michael de Ridder, der sich Ende der 1990er-Jahre erstmals unter Hinzuziehung der Firmenakten von Bayer mit der Geschichte beschäftigen konnte, nennt für 1898 eine Produktionsmenge von 45 Kilogramm Heroin, zehn Jahre später waren es 783 Kilogramm. Ridders‘ Studie widmete der SPIEGEL im Jahr 2000 einen instruktiven Artikel.
Das Opiumabkommen von 1912 zählte das Diacetylmorphin zwar bereits zu jenen Substanzen, deren Herstellung, Vertrieb und Ausfuhr ins Ausland genehmigungspflichtig zu machen sei – vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es aber nicht zur Umsetzung in deutsches Recht. Das ließ bis 1921 Freiheit in Herstellung und Vertrieb. Für das Jahr 1926, Bayer war inzwischen Teil des berühmt-berüchtigten Chemiemonopolisten IG Farben geworden, findet sich eine Menge von 1,8 Tonnen in Deutschland produzierten Heroins.
Erste "BtMG"-Kommentare stiften keine Juristentradition
Vor Inkrafttreten des Opiumgesetzes am 1. Januar 1921, knapp neun Jahre nach der Unterzeichnung des Opiumabkommens in Den Haag, fand die ärztliche Verordnung von Opiaten oder Kokain-Zubereitungen ihre rechtlichen Grenzen nur im allgemeinen Strafrecht. So bestätigte das Reichsgericht mit Urteil vom 12. Juli 1902 (RGSt 35, 392) die Verurteilung eines Apothekers wegen fahrlässiger Körperverletzung, weil er einer Frau "ungeheure Mengen der zur Hälfte aus Opiumtinktur bestehenden Arznei" ausgehändigt hatte. Die reduzierte Willenskraft im Zustand der Abhängigkeit behandelte das Gericht unter dem Gesichtspunkt der Kausalität.
Den ersten Kommentar zum Opiumgesetz legten 1928 der angesehene Toxikologie-Professor Dr. Louis Lewin und der Rechtsanwalt Dr. Wenzel Goldbaum vor. Ihr Verlag ging 1938 unter ungeklärten Bedingungen in "arischen" Besitz über, weshalb es heute keinen "BtMG"-Kommentar gibt, der an diese beiden bemerkenswerten Pioniere erinnert. Louis Lewin (1850-1929) hatte sich aus dem jüdischen Elendsquartier Berlins, dem Scheunenviertel, zum Professor an der TU Berlin hochgearbeitet und gilt als Vorreiter der Sozialmedizin. Anwalt Goldbaum (1881-1961) war auf Fragen des Urheberrechts spezialisiert und bewegte sich in Berliner Theaterkreisen, was bei der Idee Pate gestanden haben mag, ihn mit der Kommentierung des Opiumgesetzes zu betrauen – in der zweiten und letzten Ausgabe von 1931 erwähnt er die Schauspielerin Maria Orska als Opfer der neuen Rauschgiftkrankheit, stellvertretend für zahllose begnadete Künstler.
Mitleid klingt in der Kritik von Lewin/Goldbaum an einer weitreichenden Entscheidung des Reichsgerichts zum Opiumgesetz an (Urt. 05.10.1928, RGSt 60, 365): Ein praktischer Arzt hatte in Dresden zwischen September 1924 und Januar 1925 nicht weniger als 3.000 Rezepte über insgesamt mindestens drei Kilogramm Kokain ausgestellt, mit denen sich "Kokainisten" überwiegend selbst versorgten, mit einigen Rezepten aber auch Handel trieben. Schöffengericht und Landgericht Dresden sprachen den Arzt frei, weil dieser vom Handel mit den Rezepten nichts gewusst habe.
Ein zusätzliches Argument des LG Dresden kassierte das Reichsgericht mit Nachdruck: Die Dresdner waren der Meinung, dass das "Verschreiben" der Droge schon vom Wortsinn her nicht als "Inverkehrbringen" gewertet werden dürfe. Das Reichsgericht argumentiert dagegen teleologisch, dass eine "Verschreibung" nur dann vorliegt, wenn der "den Regeln der ärztlichen Wissenschaft entsprechende Gebrauch zu Heilzwecken" beabsichtigt sei, "nicht aber die regelmäßige Fortgewährung an Kokainsüchtige, wodurch diesen Kranken nicht geholfen, sondern geschadet wird".
In dieser Argumentation des Reichsgerichts sahen Lewin/Goldbaum eine Überschreitung des Wortlauts, die rechtspolitisch zwar vertretbar sei, zu der das Gericht aber keine Kompetenz besessen habe.
Was vom Opiumgesetz bleibt und was nach 100 Jahren fehlt
Ein Jurist, der das Opiumgesetz zur Hand nimmt und das BtMG danebenlegt, erkennt die Gemeinsamkeiten auf den ersten Blick: Am Anfang stehen die psychotropen Substanzen, deren Herstellung und Handhabung zum Rechtsproblem gemacht werden soll. Weil in 100 Jahren so viele dazugekommen sind, verweist das Gesetz heute auf Listen im Anhang. Bis heute fehlen aus Gründen der Traditionspflege die wohl tödlichsten Substanzen, Alkohol und Tabak.
Das Opiumgesetz von 1920 sah eine Höchststrafe von sechs Monaten vor, die Novelle von 1924 eine von drei Jahren. Das BtMG kennt einen Strafrahmen von bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug.
Der vielleicht blauäugig liberalen Großzügigkeit, mit der die Dresdner Richter 1926 den Arzt mit seinen 3.000 Kokainrezepten davonkommen lassen wollten, steht heute eine regulative Kleinlichkeit gegenüber, die dem Gesetzgeber aufgab, ausdrücklich festzuschreiben, dass die Verteilung von Einwegspritzen an Straßenjunkies erlaubt sei.
Kluge Vorschläge wie sie etwa der Hamburger Rechtsökonom Michael Adams 1994 vorgelegt hat – Titel: "Heroin an Süchtige – Kollektiver Wahnsinn oder das gesuchte Konzept zur Zerstörung des Drogenmarktes?" (ZRP 1994, 106-111 [teilidentisches PDF]) – geraten nach ihrer Publikation schnell wieder aus dem Blick. Seine Idee war, holzschnittartig notiert, dass eine beaufsichtigte Gabe von Heroin an Abhängige bei gleichzeitigem Einsatz freiwerdender Strafverfolgungsressourcen gegen jene, die weiter am illegalen Drogenmarkt agierten, diesen nachhaltig zerstören würde.
Für eine gegensätzliche, mehr kulturhistorische Idee steht beispielsweise Claudius Seidl, der in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung forderte: "Gebt die Drogen frei!" – weil die Drogenmafia, in Mexiko beispielsweise, längst über mehr Feuerkraft verfüge als die Polizei und letztlich gesellschaftliche Vernunft überwiege – Nikotinkonsum etwa ginge zurück, weil Rauchen nicht mehr "cool" sei.
Auch das könnte durchaus etwas für sich haben. Hochprozentiger Alkohol, ursprünglich eine vornehmen Kreisen vorbehaltene harte Droge aus der Klosterdestillerie, wurde preisgünstig verfügbar, als ostelbische Rittergutsbesitzer ihre überzähligen Kartoffel- und Getreidebestände industriell zu verwerten begannen. In der elenden Industriearbeiterschaft fanden sie ihre Abnehmer, die Gesellschaft war über ein, zwei Generationen alkoholisch durchseucht. Dann wurde der hochprozentige Konsum "uncool".
Als die Firma Bayer ihre Heroin-Tinktur vermarktete, kam kein Käufer (von ein paar US-Apothekern und ihren chinesischen Kunden abgesehen) auf den Gedanken, diese Droge zu spritzen oder zu inhalieren, sie wurde brav in Tropfen konsumiert. Ob die Gesellschaft von der Tinktur durchseucht worden wäre, wie zuvor mit ostelbischem Schnaps, oder ob die Bayer-Kunden gleich bei diesem "cool"-vernünftigen Gebrauch geblieben wären?
Wir werden es nicht erfahren. Jenes völkerrechtliche Vertragswerk, das im Januar 1912 seinen Lauf nahm, beraubt bis heute unsere Gesellschaft der Chance, solche Erfahrungen am Markt zu machen und von einem demokratischen Gesetzgeber reflektieren zu lassen.
Anders als beim Europarecht, dessen sich "die Politik" funktionsähnlich bedient, können wir hier auf die Frage, wer dafür verantwortlich ist, immerhin mit gutem Gewissen antworten: der Kaiser von China.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Opiumkonferenz im Januar 1912: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5300 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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