Die NS-Justiz war reich an Skandalen, das ist heute Allgemeinwissen. Doch welche Rechtsprobleme gaben etwa Anlass zum Überfall auf Polen? Und warum mochten sich Jurastudenten über den Krieg freuen? Ein Blick ins Groß- wie Kleingedruckte.
Die historische und moralische Einordnung der Rolle von Recht und Justiz im NS-Staat folgt heute oft skandalösen, aber damals doch normalen Beispielen wie dem Fall des Anwalts Dr. iur. Otto Thorbeck (1912–1976).
Als am 9. April 1945, also vier Wochen, bevor der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende fand, in den KZ Sachsenhausen und Flossenbürg unter anderen der Jurist Hans von Dohnanyi, der Theologe Dietrich Bonhoeffer und der Geheimdienstoffizier Wilhelm Canaris getötet wurden, war dem ein Standgerichtsverfahren vorangegangen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) sprach Thorbeck, der in dieser "Justiztravestie" – so der Historiker Volker Ullrich – als SS-Richter mitgewirkt hatte, mit Urteil vom 19. Juni 1956 vom Vorwurf der Teilnahme am Mord frei und fand auch für den Anklagevertreter, Walter Huppenkothen (1907–1978), ein milderes Urteil als zuvor das Landgericht Augsburg. Als wesentlichen Makel des "Standgerichts" mochte der BGH nur erkennen, dass die Männer des Widerstands nackt und ohne Bestätigung des militärischen Gerichtsherrn erhängt worden waren (Az. 1 StR 50/56).
Zum 100. Geburtstag Hans von Dohnanyis äußerte BGH-Präsident Günther Hirsch sein Bedauern über dieses "dunkle Kapitel" seines Gerichts. Viel weiter reicht die Neugier, etwa zum Versagen des Bürgertums, meist nicht. Im Fall von Dohnanyis wissen wir etwa wenig über seine Funktion als Mitarbeiter von Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke (1874–1945) oder als Referent im NS-Justizministerium. Vielen dürfte bereits die Frage als ehrenrührig gelten.
Als der Zweite Weltkrieg begann
Dabei müsste das Versagen des Bürgertums, auf Umwegen, ein Leitthema sein.
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg bekanntlich mit dem Angriff des Linienschiffs "Schleswig-Holstein" auf das befestigte Munitionsdepot, das die polnische Armee auf der Westerplatte, auf dem Staatsgebiet der Freien Stadt Danzig unterhielt.
Es lässt sich nicht behaupten, dass der Untergang dieses deutschen Staates – der Freien Stadt Danzig – oder gar seine Rechtsgeschichte, bisher Gegenstand breiten Interesses gewesen wären – ungeachtet der Tatsache, dass ein symbolisch geführter völkerrechtlicher Streit um besagtes Grundstück – also das Depot auf der Westerplatte – und den Status Danzigs als äußerer Anlass zum Beginn des Weltkriegs herhalten musste.
Obwohl von den Parteien des Versailler Vertrages als Zugang der neu gegründeten Republik Polen zum Meer gedacht, hatten sich die Hafenarbeiter Danzigs 1920 geweigert, Munitionstransporte für das von der Russischen Sowjetrepublik tödlich bedrohte Polen abzuwickeln – während die Rote Armee vor Warschau stand und nur rund 100 Kilometer von Danzig entfernt.
Das Depot auf der Westerplatte wurde alsbald durch den rasanten Ausbau von Gdingen zur zentralen polnischen Hafenstadt überflüssig. Der Völkerbund billigte der Republik Polen gleichwohl den Militärstandort auf dem Gebiet der Freien Stadt zu, der neben den drei polnischen Postämtern zum Gegenstand eines zugleich lächerlich lokalen wie völkerrechtlichen Dauerkonflikts wurde.
Dies rächte sich. Während die überlebenden Soldaten der Westerplatte sich in Ehren ergeben durften, wurden die 38 polnischen Postbeamten, die sich am 1. September 1939 gegen den Überfall der vor Ort aufgestellten "SS-Heimwehr Danzig" auf ihre Dienststelle verteidigt hatten, ab dem 8. September unter dem Vorsitz von Dr. iur. Kurt Bode (1895–1979) als Freischärler zum Tod verurteilt, obwohl die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) hier noch nicht in Kraft gesetzt worden war und sie die Waffen offen geführt hatten.
Der Publizist und SPD-Kulturpolitiker Michael Naumann (1943–) erzählte von der Farce, dass Bode nach dem Krieg – er setzte seine Karriere in Bremen fort – dort justament dafür zuständig gewesen sei, Günter Grass' Roman "Blechtrommel" unter Gesichtspunkten des Sittlichkeitsstrafrechts zu prüfen.
Danziger Rechtsordnung: Freiwilliger Bürgerverrat
Der andere Skandal, jener des Scheiterns der Freien Stadt Danzig, geriet dabei ganz aus dem Blick: Am 17. November 1920 hatte sich dieser teilsouveräne deutsche Staat eine solide Verfassung gegeben, die ihre Vorbilder in der Reichsverfassung von 1919 und im preußischen Gemeinderecht erkennen lässt.
Als Völkerrechtssubjekt hatte sich Danzig wohl nicht ganz schlecht im Umgang mit den Reparationsschulden geschlagen, die nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Deutschen Reich lasteten. Neben dem deutschnationalen Streben nach Wiederanschluss ans Reich machte jedoch die wirtschaftliche Konkurrenz Gdingens die vage Hoffnung auf eine Art 1930er-Jahre Hongkong an der Ostsee zunichte.
Ungeachtet des besonderen Status von Stadt und Umland gewann die Danziger NSDAP am 28. Mai 1933 bei den Wahlen zum Volkstag die Mehrheit der Sitze. Dieses frei gewählte Parlament vollzog in der Folge die zumeist von der Berliner Reichsregierung und nur noch gelegentlich vom Reichstag erlassenen Gesetze vielfach mit einem gewissen Zeitversatz nach.
Durch das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat" vom 24. Juni 1933 entmachtete sich das Danziger Parlament beispielsweise nach dem Vorbild des deutschen Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 selbst. Das rassistische Nürnberger "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurde vom Danziger Senat mit unwesentlichen Abweichungen als Verordnung vom 21. November 1938 übernommen.
Den Verfall einer einst stolzen deutsch-polnischen Stadtrepublik, die 1793 vom verhassten Preußen annektiert worden war und sich 1920 eine gute liberale Verfassung gegeben hatte, zu einem Gebilde, das weit vor seiner Besetzung am 1. September 1939 die Normen des NS-Staates übernahm – dieser "Bürgerverrat" (Ernst-Wolfgang Böckenförde) an sich selbst, blieb ausgeblendet – vor dem Streit, ob das völkerrechtliche Kuriosum der "Westerplatte" oder der polnischen Postämter zu dulden sei.
Reichsgesetzblatt vom 30. August bis 2. September 1939
In seiner Sitzung vom 1. September 1939, bekannt durch die Rede Hitlers, in der er den Überfall auf Polen rechtfertigte, beschloss der Reichstag in Berlin – "einstimmig", wie das Reichsgesetzblatt in ungewöhnlicher Weise dokumentiert – das "Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich", das die vom lokalen NS-Anführer bereits proklamierte Aufhebung der Danziger Verfassung von 1920 bestätigte, im Übrigen aber eine vorläufige Fortgeltung des einfachen Danziger Rechts anordnete.
Es ist kaum nachzuvollziehen, warum in den 1950er Jahren die beliebte, von Hermann Weinkauff (1894–1981), dem ersten BGH-Präsidenten, in Umlauf gesetzte These, die an sich ehrbare Justiz sei durch ihre rechtspositivistische Schulung ohnmächtig gegenüber den falschen Werten der NS-Führung gewesen, nicht mit galligem Gelächter bedacht wurde.
Da verkündete der NS-Gesetzgeber am 1. September 1939, dass in Danzig vorläufig das örtliche Recht weiterzugelten habe – und eine Woche später werden contra legem die Verteidiger der Polnischen Post kurzer Hand nach Reichsrecht zum Tod verurteilt? Gehorsam vor dem positiven Recht sieht wohl anders aus.
Auch im Übrigen durfte sich der juristisch informierte Bürger pünktlich zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gut ins Bild gesetzt fühlen, was auf ihn zukommen würde.
Durch Verordnung vom 31. August 1939 wird beispielsweise das erst 1929, nach langem Widerstand der chemischen Industrie Deutschlands etablierte Kontrollregime für Opiate wieder ein wenig gelockert. Solange die später raren Schmerzmittel noch verfügbar sind, soll ihr Weg in die frontnahen Krankenhäuser nicht bürokratisch behindert werden.
Pünktlich zum Kriegsbeginn wird auch die Ausführung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 weitgehend ausgesetzt, es sei denn, dass "die Unfruchtbarmachung wegen besonders großer Fortpflanzungsgefahr nicht aufgeschoben werden darf" – Mediziner und Juristen ziehen in den Krieg, ihre Arbeitszeit soll nicht an den geistig oder körperlich behinderten Menschen vergeudet werden.
Zum 1. September stiftet Hitler unter anderem das "Eiserne Kreuz". Ab dem 2. September wird in Grenznähe das "Umherziehen von Zigeunern und nach Zigeunerart" verboten.
In der gleichen Ausgabe des Reichsgesetzblatts publiziert Reichsarbeitsminister Franz Seldte (1882–1947) detaillierte Regelungen zum sogenannten Luftschutz. Sie reichen von der Pflicht, die Gasmaske bei sich zu führen, über das Ausnutzen "jeder möglichen Deckung (Gräben, Höhlen usw.)" im Freien bis hin zur Frage, wie viel Trümmergewicht je Quadratmeter die Decke eines Luftschutzkellers tragen müsse – gestaffelt nach Stockwerken, die zusammenstürzen könnten.
Weitere Vereinfachung der Juristenprüfungen
Ein wenig beachteter brauner Fleck: Die "Verordnung über die Vereinfachung der juristischen Staatsprüfungen" vom 2. September 1939 erlaubte schließlich Studenten, sich bereits nach fünf Semestern, statt mindestens sechs, zu einer vereinfachten Prüfung anzumelden.
Hatte die Juristenausbildungsordnung vom 22. Juli 1934 – die nach dem Krieg entnazifiziert in Landesrecht überging – neben der Hausarbeit noch fünf Klausuren je vier Stunden vorgesehen, war nun nur noch eine Klausur zu schreiben. Wer seine Hausarbeit abgegeben oder eine Klausur schon geschrieben hatte, wurde von weiteren Klausuren befreit.
Bereits seit 1934 waren Fälle zur Gefährdungshaftung, zur Geschäftsführung ohne Auftrag, zur ungerechtfertigten Bereicherung sowie zur unerlaubten Handlung kein Prüfungsstoff mehr. Gefordert waren stattdessen Leibesertüchtigung und NS-Weltanschauung.
Vielleicht liegt darin der Grund, warum beispielsweise das Weinkauff-Märchen vom bösen Rechtspositivismus in den 1950er Jahren so bereitwillig geglaubt wurde: Wer zwischen 1934 und 1945 Jurist wurde, hatte womöglich nicht viel positives Recht lernen müssen.
NS-Justiz: . In: Legal Tribune Online, 01.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37361 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag