Abgaben, die für einmalige Zwecke erfunden werden, kennen einen magischen Moment: Wenn der Fiskus entdeckt, dass er sie gerne länger als geplant erheben möchte. Kurzlebiges Vorbild für den "Soli" war das "Notopfer Berlin".
Seine bisher jüngste Wiederauferstehung feierte dieser steuerrechtliche Zombie nach dem Frühlingshochwasser des Jahres 2013: Um die Schäden an nicht hinreichend versicherten Hinterlassenschaften der Sintflut zu ersetzen, schlug der Bundestagsabgeordnete Gerhard Drexel (1964–) seinerzeit vor, die Kosten durch eine "Flut-Notopfer"-Briefmarke im Wert von fünf Cent auf alle Postsendungen zu sozialisieren.
Dem FDP-Politiker war vermutlich nicht geläufig, wie unbeliebt und ordnungspolitisch fragwürdig das erklärte Vorbild seines Vorschlags war: Denn unter der Bezeichnung "Notopfer Berlin" wurde in den Jahren 1948 bis 1958 ein ganzes Bündel von Abgaben erhoben.
Mehr als die blaue Steuermarke auf den Postsendungen
Seit dem 1. Dezember 1948 war auf einen Gutteil der privaten Briefsendungen innerhalb der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone eine Steuermarke im Wert von zwei Pfennigen zu kleben, das sogenannte "Notopfer".
Die Erinnerung an diesen steuerrechtlichen Zombie ist merkwürdig rosig eingefärbt. Das mag an einer Psychologie des schlichten Gemüts liegen: Indem eine Notopfer-Marke verklebt wird, wird vermeintlich freiwillig Hilfe geleistet. Ideen zu Flächennutzungsplänen, Hochwasserschutz oder Gebäudeversicherungen sind schwerer zu vermitteln und weisen auf vergangene Fehler hin.
Vergessen ist, dass das historische "Notopfer" schon beim Briefversand tief ins Portemonnaie der Bürger griff, zumal die Post- und Fernmeldedienste der Post alternativlos waren. Und noch weiter entrückt scheint, dass es ein umfangreiches Steuerpaket war, das der Rat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets für die Besatzungszonen Westdeutschlands schnürte – ein knappes halbes Jahr, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht am 24. Juni 1948 die Straßen- und Zugverbindungen nach Berlin (West) gekappt hatte und die Versorgung der westlichen Sektoren Berlins nur noch über die Luftbrücke aufrecht erhalten werden konnte.
Unbeliebter Zuschlag zu den Steuern auf Einkommen
Das "Gesetz zur Erhebung einer Abgabe 'Notopfer Berlin'" vom 8. November 1948 belegte nicht nur die privaten Postkunden in den westlichen Besatzungszonen, sondern grundsätzlich alle Arbeitnehmer und zur Einkommensteuer herangezogenen natürlichen Personen sowie alle "Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die der Körperschaftssteuer [sic] unterliegen" mit einer monatlich zu entrichtenden Abgabe – dem "Notopfer Berlin" (§§ 1, 2 Notopfergesetz 1948 – im Weiteren kurz "NOG")
Für lohnsteuerpflichtige Arbeitnehmer und zur Einkommensteuer Veranlagte ordnete § 14 NOG 1948 ein monatliches Notopfer – zusätzlich zur eigentlichen Steuer – in Höhe von 0,60 bis 1 Deutsche Mark (DM) je angefangenen 100 DM Einkünften an, abhängig davon, ob diese ober- oder unterhalb von 500 DM Monatslohn lagen. Körperschaften wurden mit 1,20 DM je 100 DM Einkommen belastet, hatten unabhängig davon jedoch monatlich mindestens 20 DM zu entrichten. Zur Einordnung: Die Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages sollten bald darauf 600 DM monatlich beziehen, plus 30 DM je Sitzungstag.
Dass allzu schnell aus Berlin (West) volkswirtschaftlich nichts werden würde, musste den deutschen Politikern des Vereinigten Wirtschaftsgebiets und den westalliierten Militärregierungen bewusst gewesen sein, lag die vormalige Reichshauptstadt doch weitgehend in Trümmern und mussten die westlichen Sektoren auch nach einem möglichen Ende der sowjetischen Blockade mit einer staatsozialistischen Nachbarschaft zu tun haben.
Obwohl Berlin (West) also unabsehbar lange am Tropf westdeutscher Hilfe hängen würde, war das Notopfer nur für die Monate November und Dezember 1948 sowie den Januar und Februar 1949 fällig.
Jeder Sondersteuer wohnt der Zauber der Verlängerung inne
Bei dieser nur über drei Monate akuter Not erhobenen Sondersteuer auf Einkommen sowie Postsendungen blieb es jedoch nicht.
Denn das "Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets" vom 26. Februar 1949 sollte den Steuerpflichtigen bekannt geben, dass die politisch Verantwortlichen das Notopfer erstmals verlängerten – um die Monate März und April 1949.
Durfte diese erste Verlängerung noch als "soziales Lernen" der westdeutschen Politiker verbucht werden, die nach zwölf Jahren des erratischen NS-Maßnahmenstaats und der Hoheit fremder Besatzungsmächte wieder herauszufinden hatten, was sie dem Volk zumuten konnten, schufen sie sich mit dem Grundgesetz nunmehr Rahmenbedingungen, die für immer neue Veränderungen der Sonderabgabe sorgten.
Nach Art. 106 Abs. 3 Grundgesetz (GG) war der Bund in der Frage, welchen Anteil die Länder ihm vom Einkommen- und Körperschaftsteueraufkommen überlassen sollten, vom guten Willen des Bundesrats abhängig. Erst seit 1. April 1955 stand dem Bund ein fester Anteil von einem Drittel der Einnahmen zu.
Das "Notopfer Berlin" wurde daher als Möglichkeit gesehen, der relativ finanzschwachen Bundesebene abseits der 1949 bis 1955 greifenden Aufteilung gesonderte Mittel zufließen zu lassen. Dass die Einnahmen aus dem "Sonderopfer Berlin" über einige Jahre die Subventionen überstiegen, mit denen der Bund das finanzielle Überleben von Berlin (West) sicherstellte, wurde selbstverständlich gern in Kauf genommen.
Knapp zehn Jahre Streit ums "Sonderopfer Berlin"
Den ersten Antrag, die wiederholt verlängerte Erhebung des "Sonderopfers Berlin" zu beenden, stellte die Bundestagsfraktion der Kommunistischen Partei Deutschlands am 1. November 1949.
Die soziale Schieflage der Abgabe war zwar nicht zu übersehen, denn die Progression des Notopfers auf Einkommen war unzureichend geregelt. Auch die starre Abgabe auf Briefpost, ein damals fast alternativloses Kommunikationsmittel, traf einkommensschwache Kreise deutlich härter als Vermögende. Doch versäumte es der KPD-Abgeordnete Friedrich Rische (1914–2007) im Bundestag die soziale Belastung sachlich zu kritisieren. Stattdessen polemisierte er im Bonner Parlament lieber dagegen, dass die "Zwangssteuer" einen alliierten "Brückenkopf" im Osten finanziere. Eigentlich hätten auch die westlichen Mächte die Blockade von Berlin (West) zu verantworten, denn sie seien es, die eine Zusammenarbeit der Berliner Wirtschaft mit jener der Sowjetischen Besatzungszone abschnitten.
Dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Mellies (1899–1958) konnte daher als Gegenrede genügen, festzustellen, die KPD wolle mit der Abschaffung des "Notopfers" bewirken, was die sowjetische Berlin-Blockade bis zum 12. Mai 1949 nicht vermocht hatte: die westlichen Sektoren an Stalin auszuliefern.
Eine ordnungs- und sozialpolitisch fundierte Kritik erfuhr das Notopfer erst sechs Jahre nach seiner Einführung. Der Kieler Ökonomie-Professor Willi Albers (1918–2000) führte in den "Gewerkschaftlichen Monatsheften" 1955 die systematischen Absurditäten der "Notopfer"-Gesetzgebung vor. Während Arbeitnehmer im Schnitt ein Notopfer zu zahlen hatten, das 11,3 Prozent der Lohnsteuer entsprach, hatte der Einkommensteuerpflichtige nur 6,7 Prozent zusätzlich abzuführen, die Körperschaften nur 6,2 Prozent. Dass zu den Forschungsschwerpunkten Albers' später auch die Frage nach jenen Anreizen zählte, die Politiker dazu antreiben, systematisch fragwürdige Gesetze zu produzieren, zeichnete sich in seiner "Notopfer"-Kritik schon ab.
Wenngleich Albers zeigte, dass das Notopfer in krassem Kontrast zur Steuerprogression der Lohn- bzw. Einkommensteuer stand, griff die Justiz nicht korrigierend ein. Der Bundesfinanzhof beschied beispielsweise mit Urteil vom 5. November 1953, dass das Notopfer nicht im Lohnsteuerjahresausgleich berücksichtigt werden könne (Az. IV 467/52 U).
Drei Jahre Diskussion ums Ende des "Notopfers"
Sein Ende hatte das "Notopfer Berlin" schließlich vor allem dem Umstand zu verdanken, dass sich der Bund bei den regulären Steuern auf Einkommen eine bessere Position verschaffen konnte.
Zum 31. März 1956 entfiel das Notopfer in seiner sichtbarsten Form, der Steuermarke auf Privatbbriefe. Auch Einkommen, die zur Lohn- bzw. Einkommensteuer veranlagt wurden, wurden nicht länger zum zusätzlichen Notopfer herangezogen.
Symbolpolitisch und daher zäh hielt sich jedoch noch zwei Jahre lang das Notopfer auf Einkünfte von Körperschaften. Denn obwohl das Aufkommen aus dem Abgabebündel ohnehin nur vorbehaltlich des jeweiligen Bundeshaushaltsgesetzes dem Land Berlin (West) zugesichert worden war, also eine echte Zweckbindung nicht bestand, zierte sich der Senat unter Willy Brandt (1913–1992) noch ein wenig, weil er um anderweitige Körperschaftsteuer-Privilegien der Berliner Unternehmen fürchtete.
Nachleben als rhetorische Phrase steuerrechtlicher Fantasie
Die steuer- und haushaltspolitische Diskussion kennt ihre Klischees. Zu ihnen zählt der "Marshallplan", der gelegentlich ganz Afrika, manchmal nur dem Berliner Umland zwischen Rostock und Chemnitz ökonomisch auf die Sprünge helfen soll. Ewig berüchtigt bleibt die Sektsteuer, deren Zweck einst darin bestanden habe, die Kriegsflotte des Deutschen Reichs aufs Meer zu bringen, und die alle drei überlebt hat – zwei Flotten und ein Reich.
Zu einer derart geflügelten Phrase wie das Schaumwein- und Zwischenerzeugnissteuergesetz hat es das ordnungspolitisch fragwürdige NOG zwar nicht gebracht, doch forderte der Abgeordnete Günter Goetzendorff (1917–2000) bereits 1950, ein "Notopfer für Heimatvertriebene" einzuführen – eine Forderung mehr, mit der dieser selten schräge Vogel des deutschen Parlamentarismus abstürzen sollte.
Bis zum "Jahrhunderthochwasser" von 2013 wurde der Wunsch nach "Notopfern" immer wieder aus der Mottenkiste gezogen. Als Indiz für Scharfsinn darin, Kosten für politische oder ökologische Schadensereignisse sinnvoll zu verteilen, kann jedenfalls das Original kaum gelten.
"Notopfer Berlin": . In: Legal Tribune Online, 24.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34019 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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