Was heißt es für den Zivilprozess, wenn der Staat wechselt? Wie viele Männer braucht es, um eine Revolution zu machen? Vor 100 Jahren befasste sich das Reichsgericht mit zahllosen Fragen aus Kriegs- und Notzeiten.
Kleiner als im beschaulichen Wolmirstedt bei Magdeburg konnte ein Arbeiter- und Soldatenrat kaum sein.
Als ab dem November 1918 vielerorts in Deutschland diese Gremien meist neben der staatlichen Verwaltung versuchten, die öffentliche Ordnung zu organisieren, fand sich in Wolmirstedt nur ein Gewerkschaftsmann, der ganz allein als Arbeiter- und Soldatenrat der Gemeinde firmierte.
In dieser Funktion wurde das revolutionäre Ein-Mann-Gremium beim späteren Kläger vorstellig. Dieser "beherbergte und beköstigte während des Krieges Kriegsgefangene. Nach deren Abzuge war er noch im Besitze von Lebensmitteln, die er für ihre Beköstigung aus eigenen Mitteln beschafft hatte."
Das knappe Gut nun holte der Wolmirstedter Revolutionär im Februar 1919 im Namen des Arbeiter- und Soldatenrats ab. Der ortsansässige Konsumverein zahlte 900 Mark, eine weitere Vergütung erhielt der Kläger nicht. Mit Urteil vom 23. Mai 1922 entschied das Reichsgericht, dass hier die Stadt Wolmirstedt nach § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit dem preußischen Staatshaftungsgesetz für den Schaden einzutreten hatte.
Das entsprach der schon etablierten Rechtsprechung: Zu prüfen war, welches Amt sich der Arbeiter- und Soldatenrat jeweils angeeignet hatte. Die Polizeigewalt war hier der Gemeinde gegeben. Der Rat hatte sie sich revolutionär genommen. Zu haften hatte daher die Gemeinde (RGZ 103, 362–364, Urt. v. 23.05.1922, Az. III 568/21).
Düsseldorf unter Korruptionsverdacht
In keinem guten Licht stand die Tätigkeit der Stadtverwaltung von Düsseldorf unter ihrem konservativen Oberbürgermeister Adalbert Oehler (1860–1943). Die Revolution war hier, im Mietrecht, aber noch von der alten Staatsgewalt vollzogen worden: Mit der "Verordnung über Maßnahmen gegen den Wohnungsmangel" vom 23. September 1918 erhielten die kommunalen Behörden weitgehende Befugnisse, in die Wohnraum-Mietverhältnisse einzugreifen.
Das Amt konnte anordnen, dass ein Mietverhältnis zu Konditionen fortzusetzen sei, die von ihm geregelt wurden. Es war ermächtigt, Mieter in leerstehende Räume einzuweisen. Den Mietvertrag regelte es gleich für den Vermieter.
Mit Urteil vom 7. März 1922 (RGZ 104, 159–162, Az. III 202/21) entschied das Reichsgericht in einem Düsseldorfer Fall, in dem der Kläger das Haus neu erworben hatte und eben jene Wohnung für sich und seine Frau herrichten ließ, für die das Amt ihm einen Mieter aufzwang: den neuen Stadtarchivar.
Nach Auffassung des Klägers war die Wohnung fehlerhaft als "dauernd leerstehend" gesehen worden. Das kommunale Amt hatte dem Widerspruch nicht abgeholfen, seine Entscheidung galt als unanfechtbar.
Im Zivilprozess argumentierte die Stadt Düsseldorf, der Zweck der Verordnung, "den Behörden ein wirksames Mittel gegen die dringende Wohnungsnot in die Hand zu geben", werde bedroht, wenn Beamte hier für Fehlentscheidungen ein Haftungsrisiko trügen.
Das Reichsgericht erklärte dagegen, dass dem Zwangsmieter die Wohnung nicht wieder entzogen werde, wenn der Beamte in die Haftung genommen wird, und äußerte sich zur bürokratischen Psychologie: "Es gibt viele Fälle, in denen Beamte zu einem schleunigen und tatkräftigen Eingreifen verpflichtet sind und ängstliche Beamte möglicherweise durch die Furcht vor einer Schadensersatzklage wegen Amtspflichtverletzung in ihrer unbedingt erforderlichen Entschlußfreudigkeit gehemmt werden können. Deshalb allein kann man unmöglich in allen diesen Fällen eine solche Schadensersatzklage für unzulässig erklären."
Belgischer Elektromotor und bulgarischer Tabak
War im Fall aus Düsseldorf die Abneigung gegen den tiefen Eingriff des Staates in die privatautonomen Mietverhältnisse deutlich zu erkennen, galt das längst nicht für alle ökonomischen Interessen.
Mit Urteil vom 1. November 1922 (RGZ 105, 326–328) verneinte das Gericht z. B. den Eigentumsanspruch eines belgischen Unternehmens an einem Elektromotor.
Dieser war von der deutschen Besatzungsmacht in Belgien beschlagnahmt, dann einer deutschen Elektrizitätsgesellschaft übereignet, schließlich auf behördliche Anordnung in einer Anlage eingebaut worden, in der während des Krieges Proteine zu Ernährungszwecken synthetisiert wurden. Das Reichsgericht erklärte, es sei ein kriegsvölkerrechtlich zulässiger Akt gewesen, dem belgischen Unternehmen das Eigentum zu entziehen, solange kein Akt der reinen Willkür vorliege, der unter keinen Umständen zu rechtfertigen sei.
Auch einem Händler aus dem verbündeten Königreich Bulgarien, der im Sommer 1918 Tabak im Wert von über 11.000 Mark – an die 200.000 Euro – mit der Bahn Richtung Dresden auf den Weg gebracht hatte, war vor dem Reichsgericht kein Erfolg beschieden: Weil für eine Teilstrecke im besetzten Serbien die deutsche Militär-Eisenbahnverwaltung zuständig gewesen war, als ein Großteil des Tabaks verloren ging, entfiel sein Anspruch nach den sonst für die Bahn einschlägigen handelsrechtlichen Haftungsregeln (RGZ 104, 390–393, Az. I 447/21).
Seife und Prozessrecht zur Besatzungszeit
Während in diesen Fällen das anzuwendende Recht erst Schritt für Schritt zu erschließen war, fand das Reichsgericht mit Urteil vom 18. März 1922 in der Frage, ob dem polnischen Kläger eine Sicherheitsleistung für seine zivilrechtliche Klage abzuverlangen sei, eine leichtere und etwas politisierende Lösung (RGZ 104, 189–191, Az. I 55/21).
Der Kläger, ansässig in Kalisz/Kalisch – einer Grenzstadt im 1914 noch russischen Polen, die bei Kriegsbeginn schwere und kriegsvölkerrechtlich fragwürdige Schäden von deutscher Seite erlitten hatte – war auf einer Forderung wegen Lieferung von 200 Zentnern Seife sitzengeblieben. Nach § 113 Zivilprozessordnung (ZPO) erklärte das Oberlandesgericht Breslau seine Klage als zurückgenommen, nachdem er die geforderte Sicherheitsleistung nicht beigebracht hatte.
Keine Rolle spielte mehr, dass während des Krieges, als Kalisz unter deutscher Besatzung stand und die Seife geliefert worden war, die Pflicht zur Sicherheitsleistung nicht bestanden hatte.
Auf das Argument, dass nach Artikel 277 des Versailler Friedensvertrags die Staatsangehörigen der "assoziierten Mächte" – dazu zählte Polen – "auf deutschem Gebiete für ihre Person, Güter, Rechte und Interessen ständigen Schutz genießen und freien Zutritt zu den Gerichten haben" sollen, reagierte das Reichsgericht mit einer nachgerade unwirschen Auslegungskunst. Eine Befreiung von der Sicherheitsleistung sei damit nicht gemeint: "Denn die Verfasser des Versailler Vertrags haben, wenn sie für ihre Staatsangehörigen durch die Deutschland aufgezwungenen Bedingungen besondere Vorteile erreichen wollten, sich regelmäßig einer ausführlichen Sprechweise bedient und die von Deutschland zu erfüllenden Verpflichtungen eingehend auseinandergesetzt."
Die knappe Formel vom "freien Zugang" heiße nur, dass den begünstigten Ausländern der deutsche Rechtsweg nicht zu verschließen sei. Ein Verzicht auf Sicherheitsleistung komme aber nur in Betracht, wenn der andere Staat dies auch Deutschen gewähre.
Vom Sinn der §§ 110 ff. ZPO her ließ sich das zwar gut begründen: die inländische Partei sollte nicht auf den Kosten sitzen bleiben. Aus einer ökonomischen Perspektive war das aber etwas schief. Immerhin hatte der polnische Händler die wertvolle Seife auch deshalb geliefert, weil er während des Krieges unter dem Schutz der deutschen Rechtsordnung gestanden hatte.
Verarbeitung von Krieg und staatsrechtlicher Revolution
In den Jahren nach 1919 entschied das Reichsgericht über hunderte von zivilrechtlichen Fällen, die mit dem Krieg, dem Wechsel der territorialen Verhältnisse oder mit der revolutionären Unordnung von 1918/19 zu tun hatten.
Dass die Justiz hier selbst mit derart beschaulichen Tatbeständen wie dem Arbeiter- und Soldatenrat von Wolmirstedt befasst war, macht diese Zeit im Vergleich zur juristischen Aufbereitung des Zweiten Weltkriegs – um nur von der zivilrechtlichen Seite zu sprechen – womöglich interessanter.
Denn alle Parteien, die am Ersten Weltkrieg beteiligt gewesen waren, hatten sich als "Kulturstaaten" begriffen. Man sah sich durch ein langsam dichter werdendes, von liberalem Fortschrittsgeist getragenes Völkerrecht zivilisatorisch verbunden.
Sogar das Russische Reich mit seiner gefürchteten Geheimpolizei war vor 1914 auf einem guten Weg zum Wohlstand, man sah es nicht zuletzt in Deutschland als große Hoffnung der europäischen Entrepreneurs.
Deshalb wirkt die zivilrechtliche Bearbeitung kriegerischer und revolutionärer Schadensfälle nach 1918/19 seltsam vertraut – anders als nach 1945 war der Glaube an eine liberale, von der Vernunft geordnete Weltgesellschaft noch nicht zerbrochen.
Terror in München
Einen Vorgang jedoch, der bereits in den Abgrund künftiger Schrecken blicken ließ, dokumentiert ein Urteil vom 22. September 1922 (RGZ 105, 174–176, Az. III 258/22): Es hatte die Witwe des Münchener Studienprofessors Karl Horn (1876–1919) gegen das Reich auf Haftung für den Schaden geklagt, der ihr durch den Mord an ihrem Mann entstanden war, den am 3. Mai 1919 ein Soldat des rechtsextremen Freikorps Epp begangen hatte.
Die Münchener Gerichte hatten ihren Anspruch nach § 254 BGB auf die Hälfte beschränken wollen, weil der freigeistige Professor Horn Vorträge über eine "Revolutionierung der Bildung" gehalten und daher als gebildeter Mann hätte wissen müssen, dass der Zorn der Freikorps-Soldaten ihn in Gefahr bringen würde.
Erst das Reichsgericht erklärte zugunsten der Klägerin: "Zur Zeit der Tat stand ein wehr- und waffenloser Gefangener drei bewaffneten Soldaten gegenüber, und wenn einer von diesen ihn meuchlings niederschoß, so fehlt es an jedem tatsächlichen und rechtlichen Anhalte für die Annahme, daß der Getötete im Rechtssinn eine Bedingung für sein vorzeitiges gewaltsames Ende gesetzt und zu dessen Herbeiführung schuldhaft beigetragen hat."
Kriegsfolgen und Mangelverwaltung: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47726 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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