In der Kölner Uni-Bibliothek fand sich unlängst eine Monographie des berühmten Staatsrechtslehrers Georg Jellinek, die seit ihrer Anschaffung im Jahr 1907 niemand mehr angefasst hatte - ihre Seiten waren noch nicht aufgeschnitten. Einige juristische Doktorarbeiten, die 2011 erschienen, sind schon jetzt vor diesem Schicksal gefeit - vorgestellt in sechs Miniaturen von Martin Rath.
Vermutlich ist diese Sorge um die akademischen Gesellenstücke ja unbegründet. Aber Hand aufs Herz, kam nicht in den vergangenen Monaten der Verdacht auf, juristische und andere Doktorarbeiten fänden nur dann den Weg in eine weite Öffentlichkeit, wenn sie zwei Bedingungen erfüllten: Ihre Verfasser gehörten, erstens, dem Karrierekader einer bürgerlichen Partei an und hatten sich, zweitens, ganz unbürgerlich am geistigen Eigentum anderer bedient?
Und war in der "Plagiatsdebatte" nicht darüber hinaus der böse Verdacht geäußert worden, geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Doktorarbeiten aus deutschen Landen brächten nur magere Kost auf den Tisch – im Vergleich zu den natürlich nahrhafteren naturwissenschaftlichen Konkurrenzprodukten?
Sechs juristische Doktorarbeiten, nach einem – eingestandenermaßen: weder randomisierten noch doppelblinden – Zufallsverfahren aus der Masse der Neuerscheinungen des Jahres 2011 herausgegriffen, belegen Gegenteiliges.
Sozialismus in seinem strafrechtlichen Lauf
Felix Muhl führt uns mit seiner 2010 vorgelegten Dissertation "Volkseigentum ist unantastbar" in die Gründerjahre der DDR, in der er das 1952 erlassene "Volkseigentumsschutzgesetz" vorstellt, das 1958 wieder abgelöst wurde. Das "VESchG" verschärfte und erweiterte die Strafbarkeit von Delikten nach dem Reichsstrafgesetzbuch, soweit sich die "Bürger der DDR" an Eigentumsgegenständen des Staates oder der sozialistischen Wirtschaftssubjekte vergriffen hatten. Der Diebstahl einer Mettwurst von 500 Gramm aus einem Laden der Handelsorganisation "HO" wurde seinerzeit etwa mit der drakonischen Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus geahndet. Das Gesetz knüpfte zwar an das allgemeine Strafrecht an, ergänzte es aber um den kaum bestimmbaren Zusatz des "sonstigen Beschaffens". Muhl erläutert, dass die akademische Juristerei der jungen DDR durchaus einige rhetorische Wertschätzung für das 'bürgerliche' Prinzip der gesetzlich bestimmten Strafbarkeit ("nullum crimen sine lege") aufbrachte, gegen die politische Instrumentalisierung der Strafjustiz aber nichts auszurichten wusste. Die führende SED-Juristin Hilde Benjamin (1902-1989) erklärte Delikte gegen das "Volkseigentum" ausdrücklich zu politisch "schweren Delikten gegen die Ordnung". Daneben blieb akademische Kritik unfruchtbar.
Muhls Promotionsschrift zum Strafrecht der jungen DDR eignet sich ohne Weiteres für den zeithistorisch interessierten Leser ohne spezifisch juristisches Interesse. Dass aus den Fußnoten nicht direkt erkennbar wird, ob die zitierten Autoren aus dem Osten oder dem Westen stammen, zeitgenössisch oder nachgeboren sind, ist ein bisschen lästig, aber dafür gibt es ja das Literaturverzeichnis.
Bürgerinitiative als "unverbindliches Rückkoppelungsinstrument"
Sprachlich, inhaltlich und wohl auch intellektuell von ganz anderem Kaliber ist Heiko Piesbergens 2009 vorgelegte, 2010 verteidigte und 2011 gedruckte Doktorarbeit "Die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV".
Dem vermeintlichen "Wutbürgertum", das neuerdings um die Rathaus- und Reichstagsportale branden soll, ist jenes "Partizipationsinstrument" wohl entgangen, das mit den unlängst reformierten EU-Vertragswerken seinen Weg ins europäische Recht fand. Folgt man Piesbergen, verpasst das engagierte Bürgertum nicht viel: Mittels einer "europäischen Bürgerinitiative" – mindestens eine Million Unionsbürger, die aus einer Mehrzahl von EU-Staaten stammen müssen – kann die EU-Kommission 'aufgefordert' werden, Vorschläge für Rechtsakte zur Umsetzung von EU-Verträgen zu unterbreiten.
Piesbergen arbeitet sich durch die deutschen Staatsrechtslehrer-Lehren zum Demokratiedefizit des europäischen Staatenverbundes, stellt die Frage, ob die "europäische Bürgerinitiative" auch kassenwirksame Vorschläge enthalten könne und schlägt vor, das Instrument möglichst bürgerfreundlich auszugestalten – wo es doch ohnehin unverbindlich bleibe.
Auf überschäumende Anhänger des Demokratieprinzips mag Heiko Piesberges Dissertation beruhigende Wirkung haben. An einer breiteren Leserschaft wird sie aber wohl ebenso vorbeiziehen wie ihr Gegenstand, die grundsätzlich frucht- und folgenlos ausgestaltete "europäische Bürgerinitiative".
Strafrechtsdogmatik mit biografischem Aufhänger
Die Doktorarbeit von David Christopher Weiglin hat einen langen Titel und einen langen Untertitel, beide haben ihre Berechtigung: "Richard Martin Honig (1890-1981) – Leben und Frühwerk eines deutschen Juristen jüdischer Herkunft" lautet der eine, "Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung der modernen Lehre von der objektiven Zurechnung" der andere.
Im ersten Teil seiner Arbeit zeichnet Weiglin Leben und Leidensgeschichte von Richard M. Honig nach, der als Strafrechtstheoretiker mit profunder rechtshistorischer Bildung beste Aussichten hatte, die akademische Diskussion nachhaltig zu bereichern – wäre der als Jude geborene, protestantisch getaufte Professor nicht 1933 aus seiner Göttinger Professur vertrieben worden. Honig fand eine Anstellung in der Türkei, emigrierte später in die USA und mochte 1946 nicht nach Göttingen zurückkehren. Weiglin dokumentiert unter anderem das etwas schäbige "Wiedergutmachungsverfahren". Im weiteren Verlauf der Untersuchung ordnet Weiglin die Lehren Honigs in die strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen seiner Zeit ein und versucht, sie für die heutige Diskussion "fruchtbar zu machen".
Es soll ja Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften geben, die einerseits ihre akademischen Jugendjahre nicht mit bloßen "Gutachten"-Übungen verbringen möchten, in Strafrechtslehrbüchern aber zunächst nur dunkle Hinweise auf "Kantianismus" und "Hegelianismus" finden. Sie mögen hier einen besseren Einstieg finden. Ein biografischer Einstieg hat immer seinen Reiz, Menschen interessieren sich ja mehr für Menschen als für Dogmen. Hoffentlich.
Grundkurs in "Privatisierung"
In ihrer 2010 an der Technischen Universität Chemnitz bestrittenen Dissertation zur "Privatisierung von Bundesautobahnen" zeigt Susanne Weisheit "Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen" auf. Ihre Untersuchung beschränkt sich zwar ausdrücklich auf die Bundesautobahnen, kann aber ohne Weiteres als Lehrstück für die "Privatisierung" jeglicher Aufgabe gelesen werden, die derzeit noch vom Staat erledigt wird. Lehrreich sind etwa die Ausführungen zur fehlenden gesetzlichen Definition von "Privatisierung" und die Feststellung, dass die deutsche Verfassung weder ein Privatisierungsverbot noch ein Privatisierungsgebot kenne – auch die akademische Lehre habe sich nicht allzu detailliert mit der Frage auseinandergesetzt, was sinnvoll als "Staatsaufgabe" zu definieren sei. Wesentlich über Fußnoten zur "staatlichen Daseinsvorsorge", die Ernst Forsthoff 1937 erfand, scheint die Diskussion bislang nicht hinausgekommen zu sein. Susanne Weisheit liefert auch eine volkswirtschaftliche Einführung ins Konzept des "öffentlichen Guts" und demonstriert, wozu Juristen beim Streit um "staatliche Daseinsvorsorge"-Fragen benötigt werden. Der Wortlaut von Artikel 90 Absatz 1 Grundgesetz: "Der Bund ist Eigentümer der bisherigen Reichsautobahnen und Reichsstraßen." Heißt das "ist", dass der Bund die alten Teilstrecken seines Autobahnnetzes nicht privatisieren darf?
Die Antwort mag nachlesen, wer will. Darüber hinaus: In der politischen Szene wird in den nächsten Jahren vermutlich weiter heftig um "Privatisierung" gekämpft werden – Schulen und Schwimmbäder, bayerische Brauereien oder Berliner Schauspielhäuser. Am Autobahnwesen lässt sich beispielhaft studieren, "was geht". Die Zeit, die der demokratiewillige "Wutbürger" sich erspart, indem er – dank Heiko Piesbergen – die nutzlosen "europäischen Bürgerinitiativen" links liegen lässt, er könnte sie nutzen, Susanne Weisheits "Privatisierung" zu studieren.
"Stalking" als Erfindung der Mediendemokratie
Während in den bisher vorgestellten Arbeiten ein mehr oder weniger massiv-dogmatischer Kern verborgen lag, an dem sich spätestens der bloß juristisch interessierte "Laie" die Zähne ausbeißen kann, verspricht Nils Helmkes Dissertationsschrift "Der Normsetzungsprozess des Stalkings in Kalifornien (USA) und in Deutschland" eine fast unbeschwerte Lektüre.
Helmke bemerkt einleitend, dass der strafrechtlichen Normgeneseforschung – also die Frage, warum ein menschliches Verhalten zur Straftat erklärt wird – in Deutschland selten im Detail nachgegangen wird. Bis in die 1990er-Jahre war, so belegt Helmke anhand meinungsbildender Medien, "Stalking" ein Fremdwort. Heute ist der Begriff in die Umgangssprache vorgedrungen: "Stalking kann fast alles sein, beginnend bei harmlos-wohlwollendem Liebeswerben bis zu Körperverletzung und Mord."
In den USA begann die Vorgeschichte der "Stalking"-Gesetzgebung in den 1970er-Jahren, als 'der' Serienmörder zum beliebten Gegenstand zunächst von Presseberichten, schließlich von Kinofilmen wurde. In den 1980er-Jahren erregte sich die Öffentlichkeit am "Celebrity Stalking", den Anschlägen auf John Lennon, Ronald Reagan und auf die Schauspielerin Theresa Soldana. Ins kalifornische Strafgesetz kam eine erste Norm 1990 nach dem Mord an der Schauspielerin Rebecca Schaeffer. Unter den beteiligten Lobbygruppen fand sich, neben der notorischen Polizeigewerkschaft auch die "Screen Actors Guild" – eine Schauspielergewerkschaft.
Die US-amerikanische Gesetzgebung nahm ihren Lauf vom zunächst vorrangigen Schutz solch prominenter Opfer zurück zum Bereich der häuslichen Gewalt. Dort setzte schließlich auch die deutsche Gesetzgebung an.
Nils Helmke belegt, wie durch den Wechsel der Geschädigtengruppen – von der Prominenz zum Sektor privater Alltagsgewalt – sich die statistischen Fallzahlen erhöhten. Was nicht ohne Rückwirkung auf die öffentliche Wahrnehmung blieb. Auch der wohl bewusst manipulative Umgang mit kriminalstatistischen Daten wird offengelegt. Helmke besuchte wohl nicht umsonst das Archiv der Axel-Springer-Gruppe.
Das ist alles in allem sehr spannend zu lesen und ein schöner Beleg dafür, dass die Rechtswissenschaften mehr als "nur" dogmatische Selbstvergewisserung leisten.
Dogmatik für den internationalen Ehe-Alltag
Für den insoweit blauäugigen Leser hält Thomas Spernat kuriose Einsichten bereit, verbunden mit seriösen Antworten auf dogmatische Fragen, die er in seiner Doktorarbeit "Die gleichgeschlechtliche Ehe im Internationalen Privatrecht" gibt.
Verschiedene Privatrechtsordnungen zwischen Massachusetts und Norwegen haben in den vergangenen zehn Jahren die Ehe mitunter recht großzügig auch für homosexuelle Partner geöffnet – während hierzulande der Streit tobte, ob und wie weit das Institut der "eingetragenen Partnerschaft" das sogenannte "Eheprivileg" in Artikel 6 Grundgesetz bedrohe. Thomas Spernat gibt nach einem entsprechenden historischen Aufriss voll überraschender zeithistorischer und politischer Hinweise eine gutachterliche Untersuchung ab: Während homosexuelle Ehen ausländischer Provenienz in Deutschland bisher vor allem Gegenstand öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten um Aufenthalts- oder Versorgungsrechte waren, fragt er etwa, wie die Ehe einer Deutschen mit einer Belgierin im Fall eines Adoptions- oder Scheidungsprozesses in Deutschland zu behandeln wäre.
Das ist ein Stoff, den mit heißem Herzen lesen mag, wen es persönlich betrifft. Als luzide Einführung ins Internationale Privatrecht, für viele ein Buch mit sieben Siegeln, dürfte es nicht nur für Studentinnen und Studenten eine spannende Lektüre sein.
Sechs Dissertationen, eine Eieruhr
Es soll sich am Ende niemand beklagen, juristische Doktorarbeiten würden nur gelesen, wenn sie in den Verdacht kommen, sie enthielten Plagiate. Mit Hilfe einer Sanduhr, die blaue Quarzstreusel für je eine Stunde Lektüre enthielt, wurden folgende Arbeiten ganz verdächtigungsfrei und vermutlich viel zu schnell gelesen (in der Reihenfolge des Auftritts):
Felix Muhl: "Volkseigentum ist unantastbar". Das Volkseigentumsschutzgesetz der DDR und der Bestimmtheitsgrundsatz. Dissertation (Münster) 2010, erschienen in Berlin (Erich Schmidt Verlag) 2011, 164 Seiten
Heiko Piesbergen: Die europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Dissertation (Bonn) 2009, erschienen in Frankfurt am Main (Peter Lang) 2011, 325 Seiten
David Christopher Weiglin: Richard Martin Honig (1890-1981) – Leben und Frühwerk eines deutschen Juristen jüdischer Herkunft. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung der modernen Lehre von der objektiven Zurechnung, Dissertation (Bonn) 2010, erschienen in Baden-Baden (Nomos) 2011, 203 Seiten
Susanne Weisheit: Privatisierung von Bundesautobahnen. Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen, Dissertation (Chemnitz) 2010, erschienenen in Frankfurt am Main (Peter Lang) 2011, 255 Seiten
Nils Helmke: Der Normsetzungsprozess des Stalkings in Kalifornien (USA) und in Deutschland, Dissertation (Köln) 2010, erschienen in Hamburg (Verlag Dr. Kovac) 2011, 315 Seiten
Thomas Spernat: Die gleichgeschlechtliche Ehe im Internationalen Privatrecht. Unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses des EG-Vertrages, Dissertation (Bonn) 2010, erschienen in Frankfurt am Main 2011, 307 Seiten
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln. Zu den genannten Verlagen oder den Autoren stand er als Lektor in keiner Beziehung.
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Keine Plagiatsnummern / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3776 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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