Noch eine trockene "Festschrift" auf ein Gericht oder ein spannender Spaziergang durch die Justizgeschichte? Martin Rath ist recht angetan vom Buch "Das Kammergericht in Berlin", das jetzt erschienen ist.
Wenn sich Berlin selbst feiert, gibt es gute Gründe, daran Anstoß zu nehmen. Wer am Starnberger See lebt, neigt womöglich dazu, an den Länderfinanzausgleich zu denken. Im Rheinland wird der Beschluss, Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin zu verlegen, fast zu wenig beklagt. Und jetzt: In Berlin gibt es ein Gerichtsjubiläum zu feiern? Herzlichen Glückwunsch, wer übernimmt die Rechnung?
In den juristischen Datenbanken macht auch dieses Oberlandesgericht, das durch eine Kette historischer Zufälle die Bezeichnung Kammergericht behalten hat, nicht überragend viel her. Oberlandesgerichte in der Provinz kommen im Index zitierwürdiger Entscheidungen heute regelmäßig auf einige Zehntausend Fälle mehr als das berühmte Kammergericht zu Berlin.
Einen guten Grund, jede Abneigung gegen hauptstädtischen Exzeptionalismus einmal beiseite zu lassen, bietet der schöne Erzähl- und Bildband, den der Berliner Stadtführer, Literatur- und Kulturhistoriker Michael Bienert zum 550. Bestehen des Kammergerichts geschrieben hat.
Legenden, die zur Selbstverpflichtung wurden
Bienert erzählt berühmte und weniger bekannte Geschichten des Gerichts. Zwei sehr bekannte Vorgänge ranken sich um Mühlbetriebe: Nachdem sich Friedrich II. (1712–1786) am Lärm der Windmühle von Sanssouci gestört habe, habe der Müller seinen König an das Kammergericht verwiesen – im Vertrauen darauf, dass vor diesem Gerichtshof Fürst und Untertan gleiches Recht gesprochen werde.
Daran war hier wenig wahr. Friedrich II. war von dieser Mühle ganz angetan. Sie war aber kein Gegenstand vor dem Kammergericht, so zäh sich diese Geschichte auch hielt.
Der Fall des Müllers Arnold machte hingegen das Kammergericht berühmt. Ein adeliger Grundbesitzer hatte dem Müller durch die Anlage von Fischteichen die Wasserkraft für seinen Betrieb entzogen. Vor den Gerichten hatte Arnold keinen Erfolg, seine Interessen zu schützen.
Entgegen seiner erklärten Absicht, die Unabhängigkeit der Gerichte zu achten, hatte Friedrich dem Kammergericht aufgetragen, im Sinn des Müllers zu entscheiden. Als die Richter sich dem verweigerten, ließ sie der König in Festungshaft einsperren. Beide Seiten gewannen erheblich an öffentlichem Ansehen. Die Berliner Bürgerschaft hielt es mit dem König, der gegen die unbeliebte Richterschaft einer gefühlten Gerechtigkeit zum Erfolg verholfen hatte. Derweil erhielten die Familien der eingesperrten Richter die Solidaritätsbekundungen aus dem Kreis der Kollegen.
An Reichweite gewann die Sache, weil Friedrich II. einige weltberühmte französische Philosophen finanzierte, die ihn als Musterfall eines aufgeklärten Fürsten feierten. Im Ergebnis war auch die Idee vom unbestechlichen preußischen Juristen geboren, dessen edelste Einrichtung das Kammergericht in Berlin sei.
Polenprozess mit 250 Angeklagten
Michael Bienert erzählt ausführlichere Geschichten wie jene von den aufrechten Kammergerichtsräten in schneller Folge mit fast anekdotischen Einblicken in die zunächst brandenburgisch-preußische, dann deutsche Geschichte.
Es ist wohl Bienerts Erfahrung als literarischer Stadtführer zu verdanken, dass sein Buch in der Zusammenschau von rechtshistorischen Vorgängen einerseits, architektur- und kunstgeschichtlichen Aspekten andererseits ein ungewöhnlich lebhaftes Bild der Zusammenhänge gezeichnet wird.
Der Polenprozess des Jahres 1847 gibt hier ein schönes Beispiel. Zur Anklage sollten nicht weniger als 250 polnische Untertanen der preußischen Krone kommen, denen u.a. hochverräterische Unabhängigkeitsbestrebungen unterstellt wurden.
Im bürokratischen Inquisitionsprozess hätte sich die Anklage gegen so viele Menschen über Jahre hinziehen müssen. Doch war der Bezirk des Kammergerichts gerade erst zum Testgebiet für den neuen öffentlichen Prozess unter Mitwirkung der Staatsanwaltschaft gemacht worden. Im ehemals französischen, von Preußen 1815 annektierten Rheinland war der moderne Strafprozess längst etabliert. In den älteren preußischen Landesteilen war es beim geheimen Aktenprozess geblieben.
Diese Fakten verbindet Bienert mit dem Verhandlungsort: Das noch im Bau befindliche Zellengefängnis Moabit bot mit einem Amphitheater Platz für so viele Angeklagte und die neugierige Öffentlichkeit. Die Angeklagten werden anrührend beschrieben. Ein Jahr später feiert die deutsche Öffentlichkeit im Revolutionsjahr 1848 auch den liberalen Freiheitsdrang Polens.
Pensionierungswelle mit dem BGB
Der Schwung eines Stadtführers, der gut zu Fuß unterwegs ist, führt durch die ganze Geschichtserzählung zum Kammergericht.
Beim rechtshistorisch schon ein wenig bewanderten Leser weckt das gelegentlich den Wunsch, gern noch ein wenig länger stehen zu bleiben und den einen oder anderen Gegenstand vertiefen zu wollen.
Mitte des 18. Jahrhunderts erfindet Samuel Freiherr von Cocceji (1679–1755), seines Zeichens “Ministre chef de justice“ (Denglish war in Preußen nicht in Mode), das Kammergericht als Institution eines vorsichtig modernisierten absolutistischen Staats neu. Seine neuen Strategien, Verfahren enorm zu beschleunigen, erprobt er zunächst in der Provinz. In Pommern schließen seine Leute und er binnen acht Monaten 2.400 lange liegen gebliebene Prozesse ab. Wie hat er das geschafft, ganz ohne elektronische Postfächer?
Als das Bürgerliche Gesetzbuch am 1. Januar 1900 in Kraft tritt, kommt es beim Kammergericht zu einer Pensionierungwelle. Die älteren Richter möchten sich nicht mehr mit dem neuen Recht befassen. Man folgt Michael Bienert gern zu dieser Einsicht und wüsste gern mehr. Wie werden wohl die alten Kammergerichtsräte mit ihren studierenden Enkelsöhnen über die provokative neue Freirechtsschule gestritten haben?
Das Kammergerichtsgebäude, 1913 eingeweiht, führt durch viele Geschichten. 1944 urteilt der Volksgerichtshof in einem Saal die Attentäter des 20. Juli ab. Nach dem Krieg von den Alliierten beschlagnahmt dient es als Sitz des Alliierten Kontrollrats, auch als offizieller Sitz des Internationalen Militärgerichtshofs, der freilich in Nürnberg verhandelt. Später wird vom Kammergericht aus der Flugverkehr von und nach Berlin durch die Flugkorridore im Luftraum der DDR gesteuert – in einem Gebäude, das im Übrigen bis zu den Schweineställen unterm Dach fast vollständig leersteht.
550 Jahre sind kein rundes Jubiläum
Dass das Kammergericht den Umstand, dass vor 550 Jahren erstmals urkundlich eine Einrichtung seines Namens erwähnt wurde, zum Anlass für Feierlichkeiten und die Herausgeberschaft für den hier besprochenen Band nimmt, verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, dass die Sache 1968- zum eigentlich runden 500. Geburtstag - nicht so gut gelaufen war.
Zwischen 1933 und 1945 war das Kammergericht keine Bastion gegen den nationalsozialistischen Terror gewesen. Bienert erinnert nicht zuletzt an das Schicksal von Richtern jüdischer Herkunft.
1968 war anlässlich des 500. Jubiläums noch viel beschönigt worden. Einer der damals mitfärbte, war der BGH-Richter und seinerzeit bekannte Rechtsfeuilletonist Claus Seibert (1902–1977), der vor dem Zweiten Weltkrieg selbst am Kammergericht arbeitete. An seinem Beispiel zeigt sich, wie wenig man sich damals der eigenen Verantwortung stellte. Am Kammergericht wirkte Seibert 1938 etwa an einem Beschluss mit, der es einem evangelischen Pfarrer versagte, seine Tochter mit dem Namen Esther ins Geburtenregister eintragen zu lassen, weil dem Kind dieser "typisch jüdische Name" nicht zuzumuten sei.
Solche Verbindungen muss der Leser im Zweifel jedoch selbst knüpfen. Die Auseinandersetzung des Kölner Medienanwalts Winfried Seibert "Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte" (Leipzig 1996) findet sich zwar im Literaturverzeichnis, ein dicht gewebter wissenschaftlicher Apparat fehlt jedoch.
Erfrischend frei von der oft etwas staubigen Feierlichkeit juristischer Festschriften bietet "Das Kammergericht Berlin" einen Querschnitt durch die deutsche Justiz- und Gesellschaftsgeschichte, der unterhaltsam und flüssig zu lesen ist.
Hinweis: Michael Bienert: Das Kammergericht in Berlin Orte | Prozesse | Ereignisse Herausgegeben von dem Präsidenten des Kammergerichts. 192 Seiten, 132 Abbildungen (Format: 21,0 × 22,5 cm) ISBN 978-3-947215-15-7, € 26,00.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Gerichtsjubiläum: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28921 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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