Juristische Grenzwissenschaften: Instru­ment zur Klün­ge­lana­lyse

von Martin Rath

17.02.2013

2/2: Das soziale Geflecht zwischen Dissertationen und Festschriften

Kulturwissenschaftliche Netzwerkanalysen sind ein statistisches Verfahren, mit dem die sozialen Beziehungen zwischen Akteuren graphisch leicht nachvollziehbar dokumentiert werden können. Junge Ethnologen ziehen beispielsweise bis heute hinaus in die Welt – vom afrikanischen Dorf bis zum US-amerikanischen Vorort – und dokumentieren per Fragebogenerhebung schlicht, wer wie oft mit wem spricht. Daraus lassen sich die Netzwerke ganz anschaulich ableiten.

Die Methode lässt sich überall einsetzen, wo soziale Beziehungen auf den ersten Blick unüberschaubar sind, beispielsweise im Roman "Simple Storys" von Ingo Schulze, für den die Ethnologen Michael Schnegg und Thomas Schweizer  eine Netzwerkanalyse vorlegten. Auch die verwirrenden Verhältnisse auf Thomas Manns "Zauberberg" wurden bereits netzwerkanalytisch beleuchtet (PDF).

Bemerkenswert, dass der marktführenden kalifornischen Internet-Suchmaschine sowie einer führenden deutschen Juristerei-Datenbank der Begriff "Netzwerkanalyse", jedenfalls in dieser sozialwissenschaftlichen Dimension und in Bezug auf rechtliche Fragen unbekannt ist.

Dabei stünde das Material für interessante juristische Netzwerksanalysen in jeder besseren Universitätsbibliothek frei zur Auswahl: Beispielsweise könnte eine Auswertung der riesigen Mengen – intellektuell oft nicht sehr spannender – juristischer Festschriften und Doktorarbeiten unter der schlichten Fragestellung "Wer schreibt bei wem?" ein klares Netz sozialer und intellektueller Kontakte ausweisen. Hier sozialwissenschaftlich heranzugehen, würde sich schon allein deshalb lohnen, weil sich der Kindergarten-Sound, den Juristen in solchen Kontaktfragen oft hören lassen ("Der Professor P. hat sich vom Professor H. eine Scheibe abgeschnitten.") beenden ließe.

Die "Dichte" einer h.M. plötzlich messbar

Aber über solche atmosphärischen Vorteile hinaus könnte eine solche Netzwerksanalyse beispielsweise auch zur Objektivierung juristischer Meinungsmache beitragen, was man nicht unterschätzen soll. Wenn heute ein Gericht oder ein Juraprofessor behauptet: "Das ist h.M. und kann nicht bezweifelt werden",  müssen sich andere Juristen auf ihr Rechtsgefühl oder ausführliche Recherchen stützen, um zu ermitteln, ob diese Behauptung zutrifft. Netzwerkanalysen der juristischen Prominenz würden die "Dichte" ihres jeweiligen Umfeldes abschätzen helfen, könnten klären, wie viele Kollegen wahrscheinlich ins Zungenreden einfallen werden, das aus der These, etwas sei "h.M." erst eine wirklich herrschende Meinung macht.

Umgekehrt könnten wenig finanzstarke Interessensgruppen ermitteln, welche akademischen Advokaten sie für ihr normsetzungsbedürftiges Anliegen ansprechen sollten – Professoren vermutlich, die gut, aber nicht zu gut vernetzt sind, renommiert, aber noch nicht zu teuer.

Ein weiteres Anwendungsbeispiel gefällig? In einer ganzen Anzahl von Projekten, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, wurde und wird das Gespräch mit Juristinnen und Juristen in Gesellschaften gesucht, die sich in Umbrüchen befinden – auf deutsche und europäische Standards hin oder von diesen weg. Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdiskurs gerät etwa immer wieder in die Öffentlichkeit, allerdings nur, weil er Gegenstand diplomatischer Spiegelfechtereien wird. Weniger bekannt ist, dass vor dem so genannten Arabischen Frühling von EU-Seite der Versuch gemacht wurde, den Juristen in den Maghreb-Ländern europäische Standards schmackhaft zu machen.

Und lief nicht jüngst in der Türkei, die Deutschland dank Millionen Menschen im Inland, ihrer wirtschaftlichen Dynamik und den  EU-Beitrittsverhandlungen noch deutlich näher liegt als der Maghreb, eine absurde Verhaftungswelle, betrieben von einer rätselhaften Justiz?

Wüsste man nicht gern genau, welche Juristen in China, dem Maghreb und der Türkei in welchen Netzwerken dichter oder weniger eng zusammenhängen, um effizient Einfluss in rechtsstaatlicher Hinsicht nehmen zu können – oder wenn es heißt: Wollen wir sie reinlassen, aufnehmen in unseren Klüngel? Es wird ja, früher oder später, nicht allein um EU-Aufnahmeanträge gehen. Haben sich Lawfirms aus der Volksrepublik China schon in deutsche eingekauft oder steht uns das noch bevor?

Hierzu würden Netzwerkanalysen, die regelmäßig vermutlich nicht viel mehr als eine Aufbereitung publizierter juristischer Materialien erfordern dürften, objektive Auskünfte geben. Das hülfe Geld sparen und wahrscheinlich auch Freiheitsrechte und sogar Menschenleben retten: Wie ist es um die objektive Netzwerkstärke von Richter Yilmaz oder Staatsanwalt Wang bestellt, den wir zum Deutschen Juristentag einladen möchten? Welchen Einfluss nimmt man mit der Einladung? Stärkt man ein gutes, schwächt man ein böses Netzwerk?

Dieter Simon hat unlängst mit gewohnter Bissigkeit angemerkt, dass zwischen der Doktorwürde eines Handwerkers, der sich um eine neue Ventilfunktion verdient gemacht hat und einer Juristendissertation zur Europarechtskompatibilität einer deutschen Norm kein qualitativer Unterschied bestehen müsse.

Mit juristischen Netzwerkanalysen ließe sich doch ein schönes neues Teilhandwerk erlernen. Menschen, die die großartige methodische Differenz zwischen Gutachten- und Urteilsstil begriffen haben, gibt es hierzulande doch langsam genug.

Literatur:
Von Michael Schnegg & Harmut Lang liegt online die ausführliche "Netzwerkanalyse. Eine praktische Einführung" vor (PDF, 55 Seiten).

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 17.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8161 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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