Viel ist geschrieben worden zu Gustl Mollath – und nun noch ein bisschen mehr. Unter dem Titel "Der Fall Mollath" legt sein einstiger Verteidiger Gerhard Strate seine eigene Darstellung des historischen Justizskandals vor. Darin geht er vor allem mit der forensischen Psychiatrie hart ins Gericht, und liefert ein lesenswertes Fazit aus ungewöhnlicher Perspektive, findet Henning Ernst Müller.
Eine Vorbemerkung: Mit dem Fall Mollath habe ich mich selbst intensiv befasst und mich mehrfach dazu geäußert. Mit Herrn Mollath und seinem Strafverteidiger Strate stimmte ich dabei in vielen Detailfragen und in der Gesamtbewertung überein, ohne dass ich in die Verteidigung einbezogen war. Im Vorwort des besprochenen Buchs wird mir neben anderen persönlich gedankt für meine Kommentare zum Wiederaufnahmeverfahren. Insofern bin ich als Rezensent natürlich nicht ganz unbefangen.
Das Wiederaufnahmeverfahren im Fall Mollath ist öffentlich besser dokumentiert als wohl jedes andere bisher durchgeführte Strafverfahren in Deutschland. Die Verteidigung hat - ebenso wie zuvor schon einige Unterstützer Mollaths - durch die Publikation von Schriftsätzen, Hauptverhandlungsmitschriften und anderen Dokumenten für eine einzigartige Transparenz in diesem Justizskandal gesorgt. Dies hat es jedem Interessierten ermöglicht, das Verfahren detailliert zu verfolgen.
In einem Gespräch, das ich kurz vor Herausgabe des Buchs mit Rechtsanwalt Strate führte, bestätigt er meine Vermutung, dass die intensive Öffentlichkeitsarbeit ganz entscheidend zum Erfolg im Fall Mollath beigetragen habe. Eine solche offene Debatte biete sich zwar nicht in jedem Verfahren an – gerade das Wiederaufnahmeverfahren sei jedoch prädestiniert dafür.
Beklemmende Schilderung des Ausgeliefertseins
Der ausführliche öffentliche Dialog ließ es fraglich erscheinen, ob Strate jenen, die daran teilnahmen, in seinem Buch überhaupt noch Neues würde mitteilen können. Andere Bücher zum Fall Mollath waren bereits erschienen ("Die Affäre Mollath" von Ritzer/Przybilla; "Staatsversagen auf höchster Ebene" von Pommrenke/Klöckner), als Strate selbst noch mitten in den Vorbereitungen zur neu anberaumten Hauptverhandlung steckte. Die Darstellung des Strafverteidigers bietet jedoch eine Binnensicht, die man sonst nur selten in Buchform bekommt. Und es gelingt Strate fast durchweg, die Spannung zu erhalten, obwohl das Ergebnis des Prozesses ja bekannt ist.
Zumindest für die allgemeine Öffentlichkeit noch eher unbekannt könnten die Ereignisse sein, die Strate mit dem Begriff der "Entrechtung" bezeichnet. Es geht um den Umgang mit dem zunächst zur Beobachtung (nach § 81 Strafprozessordnung, StPO) und später vorläufig (nach § 126 a StPO) untergebrachten Bürger Gustl Mollath. So entsteht ein beklemmendes Gefühl, wenn die das Recht beugenden Handlungen eines Vorsitzenden Richters am LG und die Willfährigkeit einer Amtsrichterin gegenüber den Psychiatern beschrieben werden.
Strate macht deutlich: Hier wurde ein Mensch einem System ausgeliefert, in dem seine zulässigen und sachlich begründeten Beschwerden nicht einmal mehr bearbeitet wurden. Im diametralen Gegensatz zur rechtsstaatlichen Intention richterlicher Kontrollfunktionen mutierte das Verfahren an dieser Stelle zu einer kafkaesken Realität, in der ausgerechnet die Richter zu Beteiligten an der Rechtlosstellung Mollaths wurden, die sich in einer siebeneinhalbjährigen Unterbringung manifestierte.
Vollständige Absage an die forensische Psychiatrie
Eine überraschend stark hervorgehobene Rolle im Buch nimmt Strates Kritik an der forensischen Psychiatrie ein. Offenbar hat sich der Fokus seiner Aufmerksamkeit von der detaillierten Justizkritik, die im Wiederaufnahmeantrag im Vordergrund stand, auf eine mehr allgemeine Kritik der forensischen Psychiatrie verlagert. Ausgehend von drei forensisch-psychiatrischen Gutachten im Fall Mollath wird die gesamte Fachrichtung als "Wissenschaft der Stigmatisierung" (S. 59) beurteilt. Sie trage "dem uralten Bedürfnis Rechnung, Individuen oder willkürlich definierte Menschengruppen vom allg. geltenden Rechtssystem auszuschließen" (S. 61). Zweck der Begutachtung sei "einzig und alleine die Befriedigung archaischer Instinkte" (S. 62). Strate schreibt der Branche "Pathologisierungswahn" gepaart mit "Omnipotenzfantasien" zu (S. 75). Insgesamt bedeutet dies nichts weniger als die vollständige Delegitimierung der forensisch-psychiatrischen Gutachtertätigkeit durch Strate.
Ob diese umfassende Abrechnung angemessen ist, scheint mir fraglich. Aber mit seiner Fundamentalkritik holt Strate gleichsam nach, was im Prozess weniger präsent war: Die Verteidigung wollte die "Kiste Psychiatrie" in der Hauptverhandlung eigentlich geschlossen halten. Und als das Gericht doch einen Psychiater zu Mollaths Geisteszustand anhörte, war dessen Stellungnahme so wenig zielgerichtet, dass eine zu harte Kritik daran jedenfalls verteidigungstaktisch untunlich schien: Die Verteidigung wollte ja die Möglichkeit eines Freispruchs "in dubio pro reo" nicht torpedieren.
Der Hinweis Strates auf einzelne aufrechte Persönlichkeiten in der forensischen Psychiatrie (S. 204) und auch die Tatsache, dass er sein Buch dem Psychiater Johann Simmerl aus Mainkofen gewidmet hat, erscheint vor dem Hintergrund seiner fundamentalen Kritik etwas verwunderlich: Denn eigentlich gelte für die forensische Psychiatrie der Ausspruch Adornos: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (S. 171).
Auch wenn sich daher der gegenteilige Eindruck bei der Lektüre gelegentlich aufdrängt, erklärte Strate im Gespräch, es handele sich nicht um ein "Anti-Psychiatrie-Buch".
Rezension zu Gerhard Strates "Der Fall Mollath": . In: Legal Tribune Online, 12.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14096 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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