In diesen Tagen beginnt für viele Studienanfänger der frühe Ernst des juristischen Lebens. Die unterhaltsamen Seiten des Faches werden zwischen "Gutachtenstil" und trockener Dogmatik schon bald recht knapp werden. Zu einer Spurensuche jenseits der ausgetretenen Pfade lädt Martin Rath ein – statt "Cowboy und Indianer" heißt es hier: "Richter und Rothaut".
Dass Juristen sich kostümieren müssen, um ihren Argumenten Gewicht zu verleihen, weiß jeder spätestens, wenn er eine Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts gesehen hat. Robenzwang, Krawattenfarbe und die Frage, was die Kollegen so unter ihrer Robe tragen, sind stets beliebte Themen in der juristischen Blogosphäre.
Zur boshaften Behauptung, hier sei eine Berufsgruppe noch nicht recht dem Alter entwachsen, in dem – gibt es das heute eigentlich noch? – auf dem Pausenhof "Cowboy und Indianer" gespielt wird, müssen wir uns aber dank eines großen Kopfes der deutschen Jurisprudenz nicht versteigen.
Denn Claus Roxin, emeritierter Professor für Strafrecht, Verfasser eines bekannten großen Lehrbuches und zahlloser gewichtiger Monographien, gründete Anfang der 1970er-Jahre die Karl-May-Gesellschaft mit und stand ihr lange Jahre vor (dazu gleich mehr). Er zeigte auch die juristische Relevanz dieses wohl wichtigsten Anstifters zur merkwürdigen deutschen Indianer-Liebhaberei auf. Wir wollen später darauf zurückkommen.
Warum die Obama-Administration an Cherokee-Justiz leidet
Das Justizsystem der USA ist bekanntlich sehr buntscheckig, die Gerichtsbarkeiten des Bundes und der Staaten stehen oftmals in direkter Konkurrenz. Zur Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung der westlichen Führungsmacht finden deutsche Spitzenbeamte mitunter ätzende Worte.
Kaum bekannt ist, dass auch die indianischen Nationen auf dem Gebiet der USA teils über eigenständige Gerichtsbarkeiten verfügen. Ende August hatte der "Cherokee Supreme Court", das oberste Gericht dieser relativ großen indigenen Ethnie, ein aufsehenerregendes Urteil gesprochen. Streitgegenstand war, ob die Nachfahren ehemaliger schwarzer Sklaven Angehörige der Cherokee-Nation sein könnten.
Als die Cherokee in den 1830er-Jahren aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im Osten der USA in den weniger attraktiven mittleren Westen deportiert wurden, waren viele von ihnen im Besitz von Sklaven afrikanischer Herkunft. Mit dem Ende des Bürgerkriegs 1865 mussten auch die Cherokee ihre "Negersklaven" freilassen – die so genannten "Freedmen".
Ursprünglich gewährte die Cherokee-Nation auch ihren schwarzen Mitmenschen das Bürgerrecht, zog diese Rechte aber 2007 zurück. Im August 2011 bestätigte der Cherokee Supreme Court diese Gesetzgebung, mit der mindestens 2.800 – womöglich aber bis zu 25.000 – Nachkommen der Freedmen das indianische Bürgerrecht entzogen wird.
Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Entscheidungen des bizarren kleinen Indianergerichts online besser verfügbar sind als manche Äußerung deutscher Spruchkörper. Interessant ist auch das politisch-juristische Nachspiel, wie das Lawblog des Wall Street Journals im September berichtete: Das "Bureau of Indian Affairs", eine Bundesbehörde, bewertet die Cherokee-Rechtsprechung in diesem Fall als verfassungswidrig. Kommentatoren merken dazu an, dass hier ein Föderalismusproblem berührt sei. Föderalismusprobleme kommen im deutschen Staatsrecht meist als sehr biedere Bund-Länder-Fragen daher. In den USA liegt in ihnen viel mehr Brisanz, weil die Bundesstaaten seit einigen Jahren massiv gegen die Rechte des Bundes opponieren.
Von einem ähnlich farbenfrohen Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht ist jedenfalls noch nichts bekannt geworden, sieht man davon ab, dass die Richter – sollte der Cherokee-Fall vor den U.S. Supreme Court kommen – schwarz tragen. Während man in Karlsruhe bekanntlich rot sieht.
Griechischer Schiffbruch mit indianischem Opfer
Zu den Rechtsproblemen, die bereits im ersten oder zweiten Semester eines Jurastudiums angesprochen, oft aber nicht hinreichend vertieft werden, zählt eine Frage aus dem Strafrecht. In jeder Einführungsveranstaltung zum Strafrecht sollte die "Planke des Karneades" zur Sprache kommen. Einst ließ ein deutscher Professor in seiner Antwort auf diese Rechtsfrage in einer erfrischend herzlosen Randbemerkung einen Indianer zum Opfer fallen. Der antike griechische Philosoph hatte gefragt, wie es ethisch zu würdigen sei, wenn etwa zwei Schiffbrüchige um eine schwimmende Planke konkurrierten, die von ihrer Tragfähigkeit nur ausreichen würde, einen von ihnen zu retten. Ist es verwerflich, wenn der eine den anderen von der Planke stößt?
In seiner Auseinandersetzung mit dieser Frage fand Josef Kohler (1849-1919), ein extrem produktiver und mit vielen Schriften bis heute erstaunlich lesenswerter Jurist, die erfrischend bösartige Antwort mit der heiklen Gegenfrage: "Sollte man nicht einen Goethe retten dürfen, wenn sein Leben mit dem eines Indianers in Kollision tritt?"
Seine Gedanken machte der juristische Universalgelehrte seinen Lesern im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie von 1914/15 (Band 8, Seiten 411-449) zugänglich. Wer sich die Mühe macht, dieser Spur etwa in einer juristischen Fakultätsbibliothek zu folgen, findet nicht nur einen spannenden monographischen Aufsatz, der die Notstandsproblematik so ganz anders abhandelt, als es im Elend der heutigen juristischen Ausbildungsliteratur üblich geworden ist. Kohler flocht in diesem ersten Jahr des Ersten Weltkriegs auch Gedanken ein, ob die deutsche Invasion Belgiens gerechtfertigt gewesen sei.
Solch schmerzhaft parteiische Texte sucht man in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Literatur vergeblich, man sollte sich das nicht entgehen lassen.
Freispruch für Kan-gi-Shun-ca oder Inklusion/Exklusion im Recht
Tatsächlich um Leib und Leben ging es für einen Häuptling der Sioux, dessen Fall 1883 vor dem U.S. Supreme Court verhandelt wurde, die Entscheidungssammlung des obersten US-Gerichts nennt ihn Kan-gi-Shun-ca oder auch "Crow Dog" (109 U.S. 557 [1883]).
Am 5. August 1881 hatte Crow Dog einen anderen Häuptling namens Sinte Geska, auch genannt "Spottet Tail" überfallen und getötet. Das Tatmotiv ist nicht klar. Es könnte sein, dass die Willfährigkeit von "Spottet Tail" gegenüber dem Bureau of Indian Affairs eine Rolle spielte. Eine Frauengeschichte kommt auch in Betracht. Tatort war ein Reservat.
Zunächst wurde Crow Dog auf traditionelle Weise der Prozess gemacht. Entsprechend dem Gewohnheitsrecht seines Stammes hatte er eine Strafe von 600 Dollar, acht Pferden und einer Decke zu entrichten.
Gleichwohl wurde Crow Dog im September 1881 auch vor einem US-Bundesgericht wegen Mordes angeklagt und in einem wohl problematischen Geschworenenurteil zum Tod verurteilt. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil, mit dem erstmals gegen einen Indianer wegen der Tötung eines anderen Indianers nach "weißem" Recht judiziert wurde. Gegen dieses Urteil legte Crow Dog Rechtsmittel zum U.S. Supreme Court ein.
Der U.S. Supreme Court kassierte das Todesurteil, weil den US-Bundesgerichten die Rechtsprechungsgewalt gefehlt habe und kritisierte, dass mit dem "weißen" Recht auch Normen einer dem Angeklagten fremden Moral angewendet worden seien und die Jury nicht aus Geschworenen seinesgleichen bestanden habe.
In der US-Öffentlichkeit wurde das einstimmige Urteil der obersten Bundesrichter als skandalös angesehen, der Kongress schob zwei Jahre später ein Gesetz nach, das jedenfalls Kapitalverbrechen in den Reservaten der Jurisdiktion der Bundesgerichte unterwarf.
Dieser Indianer-Fall führt auf die zeitlose Frage nach der Universalität von Rechtsnormen. Aktuell stellt sie sich hierzulande, weil einige Vertreter muslimischer Minderheiten glauben, Konflikte am deutschen Rechtsstaat vorbei lösen zu können. Der U.S. Supreme Court kam damals zu einer überraschend toleranten Antwort gegenüber der Sondermoral einer ethnischen Minderheit. Sie ist vielleicht nicht richtig, weil auch Angehörige von ethnischen Sondergruppen ein Interesse daran haben, nach den Regeln des elaborierteren und faireren Rechts der Mehrheitsgesellschaft behandelt zu werden. Auf eine farbenfrohe Fährte und einen alternativen Gedankengang führen uns die Indianer hier aber doch.
Karl May vor dem königlich-preußischen Kriminalgericht
In der Literaturwissenschaft galt Karl May (1842-1912) lange als anrüchig und der akademischen Betrachtung unwürdig. Dass für den Erfinder des "Winnetou" heute kein allzu großes Forschungsdesiderat zu beklagen ist, verdankt die Wissenschaft dem als Strafrechtslehrer unter deutschen Juristen weltberühmten Claus Roxin, der – wie bereits erwähnt – die Karl-May-Gesellschaft mitbegründete. Es mag dabei eine Rolle gespielt haben, dass Karl May wegen Diebstahls- und Betrugsdelikten lange Jahre im Zuchthaus zubrachte.
Mit den Indianer-Geschichten kam Karl May zu publizistischem Ruhm, war in seinen letzten Lebensjahren aber auch in zahllose Zivil- und Strafprozesse um seinen guten Ruf verstrickt. Von Karl Mays letztem Prozess berichtete der Zeitzeuge Rudolf Beissel (1894-1986) im ersten Jahrbuch von Roxins literarischer Gesellschaft.
In hohem Alter beschrieb Beissel, was er als junger Mann kurz vor dem Abitur am Kriminalgericht Berlin-Moabit beobachtet hatte. In Gestalt des Journalisten Rudolf Lebius (1868-1946) hatte Karl May einen Gegner gefunden, der die durchwachsene Biografie des Schriftstellers zu publizistischen und juristischen Kampagnen nutzte, in denen es stets um die Ehren- und Wahrhaftigkeit Karl Mays ging. Der Schriftsteller war bekanntlich nie an den Handlungsorten seiner Indianer- und Orientgeschichten gewesen. In Berlin-Moabit sollte nun tatsächlich ein Indianer gegen May aussagen.
Der Prozessbericht des Gymnasiasten strotzt vor Bewunderung für Karl May, seine Sprache ist angenehm einfältig und voller bizarrer juristischer Petitessen. Die Berliner Richter mussten etwa einen Richterkollegen ins Verhör nehmen, der ein vorangegangenes Strafurteil ohne eindeutiges Verdikt ausgesprochen hatte. Man wusste in Berlin offenbar gar nicht so recht, worüber man nun eigentlich verhandelte.
Rudolf Bessel schreibt so wunderbar betulich, man wünschte sich, sein Bericht würde dramatisiert und samt seiner juristischen Implikationen von Jurastudenten in einem theatralischen Mood Court für Hörer aller Fakultäten aufgeführt. Um nur den Anfang seiner Erzählung zu zitieren: "Dieser 18. Dezember 1911 war ein Montag, ein trüber Wintertag. 20 Minuten vor 9 Uhr betrat ein großer, schlanker Bursche von 17 Jahren in einem Lodenumhang in Berlin-Moabit von der Straße her den Eingang des Treppenhauses, das zu den Zuhörerräumen einer Anzahl von Sitzungssälen des Kriminalgerichts hinaufführte."
Was taugte wohl besser zu einer Vorweihnachtsveranstaltung für juristisch Interessierte als dieser Stoff in Wilhelminischem Sherlock-Holmes-Stil?
Auf dem Wunschzettel steht jedenfalls, dass auch deutsche Rechtsgeschichten farbig und präsent werden, auch und erst recht, damit die Fakultäten nicht dem Kult der reinen Examensrelevanz huldigen.
Vor mir aus brauchen dann auch keine Indianer aufzutreten.
Martin Rath, freier Journalist und Lektor, Köln.
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Martin Rath, Indianische Rechtsprobleme: . In: Legal Tribune Online, 09.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4494 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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