Das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften leidet seit Jahrzehnten. Wie stark sie aber in der Geschichte der Bundesrepublik waren, wie sehr begehrt wurde, Mitglied zu werden, lässt sich an bekannten wie kaum bekannten Vorgängen zeigen.
Zwei Dinge sprachen dagegen, einen Maschinenschlosser in die Industriegewerkschaft Metall (IGM, IG Metall) aufzunehmen: Vorgeworfen wurde ihm, er habe zwei Jahre vor seinem Beitrittsantrag ein Gewerkschaftsmitglied tätlich angegriffen und beleidigt. Außerdem sei er vier Jahre lang Mitglied der KPD-AO gewesen, also der "Kommunistischen Partei Deutschlands (Aufbauorganisation)".
Zu den Mitgliedern dieser Kleinstpartei, die sich unter anderem auf die Lehren des chinesischen Diktators Mao Zedong (1893–1976) berief, zählten später derart prominente Köpfe wie die "Grünen"-Politikerin Antje Vollmer (1943–2023), der Publizist Rüdiger Safranski (1945–) oder der Jurist Horst Mahler (1936–). Ein Maschinenschlosser aus der metallverarbeitenden Industrie Baden-Württembergs, also ein echter Arbeiter, dürfte in dieser intellektuellen Sekte recht allein geblieben sein.
Wie auch ihre Genossen in den anderen kommunistischen Kleinparteien der 1970er Jahre griffen die bis zu 700 Mitglieder der KPD/AO auf politisch-ästhetische Vorbilder aus den 1920er Jahren zurück. Nicht erst im Rückblick wirkt dabei etwa die Idee leicht wahnhaft, mit einer "Revolutionären Gewerkschaftsopposition" die überparteilich organisierten Gewerkschaften der Bundesrepublik untergraben und für die Sache der Weltrevolution begeistern zu wollen – so wie es die ältere KPD fünfzig Jahre zuvor propagiert hatte.
Wenn etwas albern ist, muss das nicht heißen, dass es harmlos bleiben wird. Mit Beschluss vom 16. April 1973 hatte daher das zuständige Gremium der IG Metall die KPD/AO zur gegnerischen Organisation erklärt, die Zugehörigkeit zu ihr als unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der IG Metall.
Bundesgerichtshof würdigt IG Metall durch die Blume des Monopolrechts
Im Streit zwischen dem Maschinenschlosser und der IG Metall darüber, ob die Gewerkschaft verpflichtet sei, ihn als Mitglied aufzunehmen, hatte das Landgericht seine Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe der Gewerkschaft immerhin aufgegeben, die Sache erneut zu prüfen.
Mit Urteil vom 10. Dezember 1984 erklärte der Bundesgerichtshof (BGH), dass grundsätzlich ein Anspruch auf die Aufnahme nicht nur – wie nach der bisherigen Rechtsprechung – bestehen könne, wenn es um einen Monopolverband gehe. Auch ein Verein oder Verband, der eine überragende Machtstellung im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich habe, könne verpflichtet sein, jemand aufzunehmen, der ein schwerwiegendes Interesse an der Mitgliedschaft hat.
Zur IG Metall hielt der BGH fest, dass es sich zwar nicht um einen Monopolverband handle, die anderen Gewerkschaften auf ihrem Gebiet aber so klein seien, dass sie noch nicht einmal im Statistischen Jahrbuch auftauchten. Mit Blick auf die politische Macht der Gewerkschaften, aber auch auf ihre konkreten Leistungen, etwa "die Zahlung von Streikgeld während eines Arbeitskampfes" oder "die Gewährung von Rechtschutz", formulierte der BGH einen Satz, der fast für die Mitgliederreklame taugt: “Ein Metall-Arbeitnehmer ist daher auf die Mitgliedschaft bei der Beklagten angewiesen, wenn er im sozialen Bereich angemessen und schlagkräftig repräsentiert sein will.”
War damit ein Aufnahmezwang denkbar, blieb die Tücke im Detail: Es stand der IG Metall frei, die Wahnidee der rund 700 KPD/AO-Herrschaften ernst zu nehmen, durch die "revolutionäre Gewerkschaftsopposition" das Ziel erreichen zu können, die Gewerkschaften in ihrer bestehenden Form zu zerschlagen. Nach Gründung der "Grünen" 1980 hatte sich die KPD/AO aus ideologischen Gründen und wegen personeller Auszehrung aufgelöst. Der Wahn war damit im konkreten Fall noch etwas illusionärer geworden. Es blieb die Forderung, dass der Bewerber um eine Gewerkschaftsmitgliedschaft glaubwürdig darlegen können müsse, von derartigen Zielen abgeschworen zu haben:
"Eine sachgerechte, für beide Teile angemessene Lösung ist es deshalb, wenn die Zugehörigkeit zu einer mit der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft unvereinbaren politischen Partei wie der KPD für eine gewisse (Karenz-) Zeit zwischen Beendigung der Mitgliedschaft und Aufnahme in die Gewerkschaft als sachlich gerechtfertigter Grund für die Ablehnung der Aufnahme anerkannt wird" (BGH, Urt. v. 10.12.1984, Az. II ZR 91/84).
Vom selbstbewussten sozialen Verband zum Kostgänger des Staates?
Ob der BGH heute noch vergleichbare, fast markige Worte zur Notwendigkeit finden würde, einer Gewerkschaft anzugehören, lässt sich bezweifeln. Nicht allein, dass nur noch rund jeder sechste abhängig Beschäftigte sich gewerkschaftlich organisiert. Hinzu kommt die deutsche Leidenschaft, statt in solidarischer Selbsthilfe das Heil in staatlichen Eingriffen zu suchen.
Ergebnisse einer Umfrage, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im späten Winter 2023/24 veröffentlichen ließ, belegen einen unter Deutschen nur schwachen Instinkt dazu, wie soziale Macht erworben und behalten wird. Zwar bekundeten gut zwei Drittel der Befragten, dass es besser sei, wenn die Arbeitsbedingungen kollektiv zwischen Gewerkschaften und Unternehmen ausgehandelt würden, nur ein Viertel zog das individuelle Aushandeln vor. Zugleich wünschten aber 62 Prozent, dass der Staat sich um die Durchsetzung von Tarifverträgen kümmere, nur ein Drittel lehnte dies ab. Das ist etwas macht- und geschichtsvergessen.
Als in den westlichen Besatzungsmächten nach 1945 wieder freie Gewerkschaften gegründet wurden – ihr Vermögen war 1933 der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF) zugeschlagen worden, ein Teil ihres Personals und der Tarifstrukturen hatte unter dieser neuen Firma überwintert, eine beachtliche Minderheit war in den Widerstand gegangen –, zählte insbesondere die Forderung, dass der Staat bei Tariffragen nicht intervenieren solle, zu den historischen Lehren aus der Weimarer Republik.
Denn in den 1920er Jahren war die Zwangsschlichtung bei kollektiven Tarifauseinandersetzungen samt anschließender Verbindlichkeitserklärung des Ergebnisses derart üblich geworden, dass bis rund ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse betroffen war – zunächst gab es eine arbeitnehmerfreundliche Tendenz, dann schlug das Pendel in die andere Richtung. Unabhängig davon war die Motivation geschwächt, sich ohne Eingriff der Regierung um die Durchsetzung der eigenen Interessen zu kümmern. Als 1933 die Auflösung der Gewerkschaften erfolgte, hatten sie das kollektive Handeln deshalb längst ein gutes Stück verlernt.
Frühe Arbeits- und Machtkämpfe festigten das Renommee zunächst
Dass die am 1. September 1949 auf Bundesebene gegründete Industriegewerkschaft Metall heute mit 2,1 Millionen Mitgliedern nicht nur die größte Einzelgewerkschaft Deutschlands ist, sondern auch als die größte freie Gewerkschaft weltweit gilt, wird auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen sein. Insbesondere die Kombination eines hohen fachlichen Ausbildungsgrads mit einer stark arbeitsteiligen und damit streiksensiblen, dabei hochgradig wertschöpfenden Industrie wird keine kleine Rolle spielen.
Hinzu kommt aber, wie immer, ein kulturelles Element, das die Selbstwahrnehmung als mächtiger sozialer Verband mitprägte.
Noch vor der bundesweiten Organisation der heutigen Gewerkschaften bzw. ihrer Rechtsvorgänger gelang ihnen am 12. November 1948 eine Machtdemonstration, die heute gründlich vergessen zu sein scheint: Nach der Einführung der Deutschen Mark, also der Währungsreform vom Juni 1948, war es zu einer beachtlichen Teuerung gekommen, weil der spätere Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897–1977) zwar in seiner Funktion als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes die Preisbindung auf dem Warenmarkt aufgehoben hatte, die Arbeitsentgelte aber auf dem Stand des Jahres 1939 eingefroren blieben. In der britischen und amerikanischen Besatzungszone legten an dem Streiktag vier von fünf Beschäftigten die Arbeit nieder. Politische Abhilfe schuf nur eine amtlich veranlasste Ausweitung des Warenangebots besonders knapper Güter.
Im Jahr 1950 drohte im Ruhrgebiet ein politischer Streik gegen die Bundesregierung unter Konrad Adenauer (1876–1967). Die britische Besatzungsmacht – in London regierte die damals stark sozialistisch orientierte Labour-Partei – hatte 1947 für Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie eine paritätische Zusammensetzung der Aufsichtsräte mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern vorgesehen. Dies galt, neben der vorherigen Entflechtung von Konzernstrukturen, auch als Vorgang, der Deutschland kriegsunfähig machen sollte. Die Gewerkschaften wollten die Regelung beibehalten.
Als die Regierung Adenauer den Entwurf eines Montanmitbestimmungsgesetzes vorlegte, der nur noch eine Drittelbeteiligung der Arbeitnehmervertreter vorsah, rief die IG Metall zur Urabstimmung in betroffenen Unternehmen auf, 96 Prozent der Stimmberechtigten erklärten sich bereit, gegen diese gesetzliche Regelung in den Streik zu treten. Abgewendet wurde dies, nach Gesprächen zwischen dem DGB-Vorsitzenden und langjährigen Metall-Gewerkschaftsfunktionär Hans Böckler (1875–1951) und dem CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzler Adenauer, beide zugleich alte Bekannte aus der Kölner Kommunalpolitik. Der Bundestag beschloss die paritätische Mitbestimmung für die Montanindustrie.
Hans Carl Nipperdey zieht den Gewerkschaften einen politischen Zahn
Den vielleicht wichtigsten Arbeitskampf in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik führte die IG Metall schließlich wenige Jahre nach der Auseinandersetzung um die Mitbestimmung in der Montanindustrie.
Zwischen dem 24. Oktober 1956 und dem 9. Februar 1957 legten anfangs 20.000, dann 34.000 Arbeiter in zunächst 15, später 38 Betrieben der metallverarbeitenden Industrie – namentlich Werften – in Schleswig-Holstein die Arbeit nieder, um ihre Forderung nach Lohnausgleich bei Krankheit, also Aufstockung des Krankengeldes, Ausweitung des Urlaubsanspruchs und Urlaubsgelds durchzusetzen.
Wie beim Arrangement zwischen Böckler und Adenauer in der Frage der Montanindustrie hatten auch hier beide Seiten ambivalente Interessen. Beispielsweise übte die IG Metall, die während des 114 Tage dauernden Streiks durch ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm dafür sorgte, dass sich die Arbeiter nicht sinnlos vorkamen, Druck aus, einen nicht allzu radikalen Tarifabschluss zu billigen – man ersetzte dazu die Vergnügungsangebote durch belehrende Reden von Funktionären. Ihr lag daran, die Kontrolle zu behalten.
Mit dem Bundesarbeitsgericht (BAG) war seit 1954 auch eine neue Instanz im Spiel.
Zuständig für das kollektive Arbeitsrecht war der 1. Senat unter dem Vorsitz von Hans Carl Nipperdey (1895–1968), der seine Tätigkeit wohl dahin verstand, in der Tradition Böcklers und Adenauers arbeitsrechtliche Kompromisse zu finden, auch wenn diese zunächst nicht danach aussahen. Weil sich Nipperdey während der NS-Diktatur stark opportunistisch verhalten hatte, wird er heute aber meist nur als "umstritten" gesehen, also gern ein bisschen dämonisiert.
Heraus kam hier jedoch ein Ergebnis, das bei näherem Hinsehen Arbeitgeber wie Gewerkschaften bediente: Mit Urteil vom 31. Oktober 1958 entschied das BAG, dass bereits in der Urabstimmung des schleswig-holsteinischen Verbands der IG Metall der Arbeitskampf aufgenommen worden, während die Gewerkschaft noch durch eine tarifvertraglich vereinbarte Friedenspflicht gebunden gewesen sei. Daraus ergab sich dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch der bestreikten Unternehmen gegen die Gewerkschaft, der später auf 40 bis 100 Millionen Deutsche Mark beziffert, aber nicht von der Arbeitgeberseite eingefordert wurde (BAG, Urt. v. 31.10.1958, Az. 1 AZR 632/57).
Stattdessen schlossen die norddeutschen Unternehmen mit der IG Metall im Nachspiel dieses Streiks ein Schlichtungsabkommen, das zudem eine Begrenzung etwaiger Schadenersatzforderungen bescheiden auf eine Million Deutsche Mark vorsah.
Erreicht war damit unter der Rechtsprechung des BAG eine Einhegung auf gewerkschaftlich geführte, sozial adäquate Streiks, während "wilde" oder politische Arbeitskämpfe für die jeweiligen "Aktivisten" wirtschaftlich gefährlich wurden.
Rat & Abrat: Die ARD strahlte 2024 eine Serie zum Streik der IG Metall von 1956/57 aus, die leider nicht ohne holzschnittartige Gut-/Böse-Bilder auskommt. Zum Vergleich lese man von Ross Thomas: "Porkchoppers" (1972), einen Thriller aus der US-Gewerkschaftslandschaft, der vom böse-realistischen Blick des Insiders Ross getragen wird (deutsch 2016 im Alexander-Verlag, Berlin).
Hinweis der Redaktion: Die IG Metall selbst verzichtet auf eine große Feier zu ihrer Gründung vor 75 Jahren. Den Grund erläutert eine Sprecherin gegenüber LTO auf Nachfrage:
“Das Gründungsdatum der IG Metall liegt schon im Jahr 1891, die Gewerkschaft ist also im 133. Jahr ihres Bestehens. Hier etablierte sich mit dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) eine der wichtigsten Vorläuferorganisation der heutigen IG Metall. Der Verband entwickelte sich schnell zur größten deutschen Einzelgewerkschaft im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Nach der Zerschlagung durch die Nationalsozialisten gründete sich die IG Metall 1949 als Einheitsgewerkschaft neu.”
75 Jahre Industriegewerkschaft Metall: . In: Legal Tribune Online, 01.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55309 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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