Seltsame Sachverhalte: Der Haus­trunk

von Martin Rath

12.05.2024

Das Reinheitsgebot ist nicht das einzige Institut des deutschen Bierrechts, in dem die juristische Wissenschaft manchmal schwer von Folklore zu unterscheiden ist. Beispielsweise strapazierte der sogenannte Haustrunk ihre Auslegungskünste.

Die Auslegung bierrechtlicher Vorschriften bereitete augenscheinlich schon immer Kopfschmerzen. In seinem Beitrag "Schankwirtinnen in Babylon. Zu § 108 des Codex Hammurapi" machte etwa der pensionierte Amtsgerichtsdirektor Richard Haase (1921–2013) auf ein Problem im Verständnis des babylonischen Rechts aufmerksam.

Konkret bedrohte § 108 Codex Hammurapi die betrügerische Schankwirtin mit der Todesstrafe. Sie war nach § 109 dazu verpflichtet, "lichtscheues Gesindel" der Obrigkeit auszuliefern. Damen von priesterlichem Stand verbot § 110, eine Schenke zu eröffnen oder zu betreten, um dort etwa ein Bier zu trinken. § 111 Codex Hammurapi regelte den Bierausschank auf Kredit.

Der berühmte babylonische Fürst rechnete, wie Haase erklärt, generell damit, dass in den Kneipen Betrug und Verbrechen gängig seien: "Sie gehören in den Bereich, den man heute als Rotlichtmilieu bezeichnet."

Selbst wenn das Recht schon steinalt ist, Deutungsprobleme gibt es immer: Der Würzburger Philologe Gerfried Müller hatte die Auffassung vertreten, dass § 108 Codex Hammurapi drei Tatbestände enthalte, für den Fall, dass die Wirtin "(1) keine Gerste als Zahlungsmittel akzeptiert, (oder) (2) das Silber mit einem größeren Gewicht wiegt, (oder) (3) die Bier-Tauschmenge pro Gersten-Tauschmenge verringert …".

Dagegen verteidigte Haase seine ältere Übersetzung: "Wenn eine Schankwirtin Getreide als Preis für Bier nicht annimmt, jedoch nach dem (Gewicht des) großen Stein(s) Silber angenommen oder den Preis des Bieres (im Verhältnis) zum Preis des Getreides vermindert hat, werden sie diese Schankwirtin überführen und ins Wasser werfen." Es vollzogen also die babylonischen Sicherheitsbehörden im Rahmen von Verbraucherschutzanliegen die Todesstrafe durch Ertränken.

Studierende der Rechtswissenschaften dürfen sich glücklich schätzen, dass Haase seinen Beitrag zu Auslegungsproblemen von § 108 Codex Hammurapi nicht in einer juristischen, sondern einer orientalistischen Fachzeitschrift veröffentlichte ("Die Welt des Orients", Band 37 [2007], 31–35). Denn man müsste sich sonst doch sehr wundern, warum diese Vorschrift für angehende Juristen nicht als examensrelevant gilt.

Das Recht des Haustrunks

Eine babylonische Schankwirtin wird man sich wohl als eine Art Expertin auf dem Gebiet des Bierbrauens vorstellen dürfen, der Getreide zum Zweck der Herstellung des alkoholischen Getränks ausgehändigt wurde.

Vermutlich verfügte sie nicht nur über besondere Kenntnisse der Verfahrenstechnik, sondern auch über besonders taugliche Hefe-Stämme, sodass ihr die Differenz von angeliefertem Getreide und ausgestoßenem Bier ein hinreichendes Einkommen verschaffte. Erkenntnisse der feministischen Geschichtswissenschaft, warum diese frühen Formen biotechnologischer Expertise – gewiss eine Art matriarchales Weihenstephan vor Christi Geburt – im Zweistromland ein Ende fanden, liegen leider noch nicht vor.

Gesichert ist immerhin, dass die partielle Überschneidung von Kunden- und Produzentenstatus in der Brauereiwirtschaft bis heute anhält. Ein Beispiel gibt das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 12. Mai 1964 (Az. VII 9/63 U).

Strittig war die Auslegung von § 7 Abs. 1 Biersteuergesetz (BierStG). Die Norm lautete:

"Bier, das von Brauereien an ihre Angestellten und Arbeiter als Haustrunk gegen Entgelt oder unentgeltlich abgegeben wird, ist nach näherer Bestimmung des Bundesministers der Finanzen von der Steuer befreit. Brauereien dürfen Bier, das nach dieser Vorschrift steuerfrei geblieben ist, an andere Personen als ihre Angestellten und Arbeiter nicht abgeben."

Im vorliegenden Fall hatten sich frühere Kommunbrauer, also kleine, unweit vom Verbraucher betriebene, örtliche Brauereien, zu einer Genossenschaftsbrauerei zusammengeschlossen. Diese Genossenschaft übernahm nun in einem gemeinsamen Sudhaus das Sieden und Kühlen der Bierwürze, während die weitere Fertigung des Bieres von den Genossen nach wie vor in eigenen Räumen geleistet wurde.

Im Rahmen einer Betriebsprüfung erkannte das Hauptzollamt, abweichend von der bisherigen Übung, das an einen der Biersieder und an eine Angestellte der Genossenschaft als "Haustrunk" abgegebene Bier nicht länger als biersteuerfrei an.

Das Finanzgericht bestätigte die Auffassung der Behörde, dass zwischen der Genossenschaft und dem Biersieder bzw. der Angestellten kein Arbeitsverhältnis bestand, das nach dem Wortlaut von § 7 Abs. 1 BierStG als Voraussetzung für die Steuerbefreiung galt.

Der Bundesfinanzhof würdigte den Sachverhalt anders: Zunächst habe bereits der Reichsfinanzhof im Jahr 1928 entschieden, dass in den Genuss der Steuerbefreiung auch die Arbeitnehmer einer selbständigen Mälzerei kommen könnten, wenn diese auf die Rechnung der Brauerei tätig sei.

Hinzu komme, dass der Arbeitnehmer der Genossenschaft einen tarifvertraglichen Anspruch auf den Haustrunk habe, das trinkfähige Bier aber nicht in ihrem Sudhaus, sondern erst bei dem angeschlossenen früheren Kommunbrauer erzeugt werde.

Außerdem erinnerte der Bundesfinanzhof an den Sinn der Biersteuerbefreiung, über die der Reichstag 1914 und 1918 beraten hatte: Es gelte, "Konflikte zwischen Unternehmern und Brauereiarbeitern zu vermeiden und Bierdiebstähle zu verhindern".

Eine babylonische Schankwirtin hätte diese ratio legis vermutlich gut verstanden.

Streit um den Haustrunk vor Gericht

Über die Ausnahme des Biersteuerrechts hinaus wurde der sogenannte Haustrunk bis in die 1970er Jahre auch im Lohnsteuerrecht ausgesprochen zünftig behandelt.

Weil der Haustrunk im Brauereigewerbe dazu diene, "ein günstiges Betriebsklima zu schaffen, den Betriebsfrieden zu wahren und die Anhänglichkeit der Belegschaft an den Betrieb zu fördern", wird in einem BFH-Urteil vom 27. März 1991 aus dem Vortrag des Klägers zitiert, folge die unentgeltliche Abgabe des Alkohols einer "eigenbetrieblichen Zielsetzung". Der geldwerte Vorteil für Brauereibeschäftigte könne daher "nicht als Frucht der Dienstleistung des einzelnen Arbeitnehmers angesehen werden".

Die Brauerei hatte ihren sämtlichen Beschäftigten je Arbeitstag 2,5 Liter Bier überlassen, im Streitfall über ihre tarifvertragliche Pflicht hinaus, weil dem kaufmännischen Angestellten "nur" ein Haustrunk von 1,5 Litern je Arbeitstag zustand.

Strittig war nicht die Befreiung von der Biersteuer, ob nun im 1,5- oder 2,5-Liter-Format, sondern der Status der unentgeltlichen Ausgabe von Bier im Lohnsteuerrecht. Der Arbeitnehmer, später dann auch das Finanzgericht, waren der Auffassung, dass der Haustrunk nicht als Bestandteil der Entlohnung zu verstehen sei, sondern als Aufwendung des Unternehmens zur schönen Gestaltung des Arbeitsplatzes.

Die Vorinstanz und der steuerpflichtige Bürger mussten sich jedoch belehren lassen, dass sich der Bundesfinanzhof "von dem bislang von ihm verwendeten Begriff der (steuerfreien) Annehmlichkeit" verabschiedet hatte und derartige Naturralleistungen, soweit sie gesetzliche Grenzwerte überschritten, nunmehr als lohnsteuerpflichtig ansah (BFH, Urt. v. 27.03.1991, Az. VI R 126/87).

Der Haustrunk in der Drogenpolitik

Das rechtliche Problem, in welchem Umfang der Staat beim Austausch von Naturalleistungen zwischen seinen Steueruntertanen die Hand aufhalten darf, wurde im Jahr 2017 um ein suchtstoffpolitisches Intermezzo ergänzt – allerdings ohne eine befriedigende rechtspolitische Diskussion.

Nach einem geflügelten Wort des juristisch gebildeten Kabarettisten Matthias Beltz (1945–2002) hat die Frage nach der "Leitkultur" – seinerzeit noch eine frische Politikerphrase – stets auch eine Antwort auf die Leitdroge der Gesellschaft zu geben. Vor diesem Hintergrund erschien es kontraindiziert, dass ausgerechnet die bayerische CSU-Bundestagsabgeordnete Marlene Mortler (1955–) in ihrer Funktion als Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2014–2019) im Jahr 2017 gegenüber der "Bild"-Zeitung erklärte, sich sicher zu sein, dass "es Alkohol als Lohnbestandteil in zehn Jahren nicht mehr geben wird".

Als ob Mortler es geahnt hätte, dass in den Folgejahren vor allem aus libertären, anarchokapitalistischen und querdenkerischen Kreisen sehr eifrig gegen die moderne Zentralbank- bzw. Giralgeldwirtschaft polemisiert würde, weil ihr die Deckung durch Gold und naturale Werte fehle, erklärte sie zum Haustrunk auch noch kess: "Zahlungsmittel in Europa ist der Euro."

Als Arbeitsentgelt mag die kostenlose Ausgabe von alkoholischen Getränken an Angestellte und Arbeiter in der Tat deutlich zurückgegangen sein. Begünstigt bleibt der Haustrunk aber, sieben Jahre nach Mortlers Zehnjahresprognose, gemäß § 40 Biersteuerverordnung bis heute.

Und auch die Brauereiwirtschaft macht in ihrer Werbung um Auszubildende und sonstiges Personal eifrig Gebrauch von der naturalen "Annehmlichkeit". Die Chance, einen rechtspolitischen Kampf gegen das "Haustrunk-Privileg" konsistent und konsequent mit der Frage zu verbinden, welche legalen wie illegalen Leitdrogen in anderen Branchen verbreitet sind, wurde im Jahr 2017 verpasst oder gar nicht erst gesucht – wenn man so will: ein nichtstofflicher Aspekt von deutscher Leitkultur.

Ohne besondere Sympathie für die Rechtsfolgen zu hegen, die der babylonische Fürst Hammurapi gern und oft dekretierte: Für die sozialen Tatsachen seiner Gesellschaft hatte er vermutlich den schärferen Blick.

Hinweis: "Alk: Fast ein medizinisches Sachbuch" von Simon Borowiak, München (Penguin), aktualisierte Auflage 2019 (1. Auflage 2006), klärt gut und unterhaltsam auf.

Zitiervorschlag

Seltsame Sachverhalte: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54522 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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