Am 25. Juni werden die "Lübecker Märtyrer" selig gesprochen. Der so genannte Volksgerichtshof in Lübeck verurteilte die vier oppositionellen Geistlichen vor gut 60 Jahren zum Tode. Der verurteilende Richter aber, Wilhelm Crohne, ist nahezu unbekannt. Martin Rath über den Vizepräsidenten des wohl bekanntesten juristischen Terrorinstruments des NS-Staats.
Am 10. November 1943 wurden im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis in Hamburg die katholischen Priester Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange sowie der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink mit dem Fallbeil hingerichtet. Die Prozesse des 'Volksgerichtshofs' (VGH) gegen die vier Geistlichen und 18 katholische Laien hatten zwischen dem 22. und 24. Juni 1943 in Lübeck stattgefunden, der 2. Senat des VGH unter dem stellvertretenden Gerichtspräsidenten Dr. Wilhelm Crohne (1880-1945) war dazu eigens aus Berlin angereist.
In dieser Woche werden die drei katholischen Geistlichen selig gesprochen. Auch die damals NS-treue evangelische Landeskirche erinnert sich heute gerne an ihren seinerzeit ausgestoßenen Pastor Stellbrink. Die Stadt gedenkt ihrer vier "Lübecker Märtyrer".
Während damit den Opfern der NS-Justiz das gebührende Andenken zuteilwird, entziehen sich ihre 'Richter' ein wenig der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dabei lohnt sich auch ein Blick auf sie, wie exemplarisch die juristische Laufbahn des VGH-Vizepräsidenten Dr. Wilhelm Crohne zeigt.
Der Fall der "Lübecker Märtyrer"
Der 2. Senat des VGH – zwei Juristen mit 'Befähigung zum Richteramt' sowie drei beisitzende Richter aus den Reihen der NSDAP – verhandelte in den Lübecker Prozessen im Juni 1943 wegen der 'staatsfeindlichen' Betätigung der vier Geistlichen und von 18 katholischen Laien.
Neben den vier Todesurteilen ergingen zwei längere Haftstrafen. Die Mehrzahl der mitangeklagten Laien wurde zu kürzeren Freiheitsstrafen verurteilt oder freigesprochen. Die Todesurteile stützten sich auf "Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft".
Den Anlass für die Verfolgung gab die Predigt des evangelischen Pastors Stellbrink am Palmsonntag im Jahr zuvor. Stellbrink hatte davon gesprochen, dass durch einen britischen Luftangriff, der in der Nacht zuvor Lübeck getroffen hatte, "Gott mit mächtiger Stimme gesprochen" habe. Ihm wurde weiter vorgeworfen, britische Radiosender gehört und sich kritisch über die Kriegslage geäußert zu haben. Das Urteil des VGH legt Stellbrink – wie seinen katholischen Kollegen – auch den Besitz und die Verbreitung regimekritischer Schriften zur Last.
Für das Hören von "Feindsendern" oder kritische Äußerungen zur Kriegssituation drohten die Ende 1939 in Kraft gesetzten Vorschriften der "Kriegssonderstrafrechtsverordnung" (KSSVO) und der "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" schwerste Strafen an. Die Todesstrafe konnte leicht mit § 5 KSSVO begründet werden. Dieser Gummiparagraf umschrieb als so genannte "Wehrkraftzersetzung" unter anderem jeden Versuch, "öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen".
Terrorjustiz in sachlicher Sprache
Ein 'Richter', der die eingeschüchterten, ausgemergelten und gefolterten Angeklagten anbrüllt, mit vulgären Beleidigungen niederschreit und ihnen jedes Wort der Verteidigung abschneidet – dieses Bild herrscht in der öffentlichen Erinnerung vor, wenn es um den so genannten Volksgerichtshof geht. Geprägt wird das Schreckensbild durch jene Filmaufnahmen, die von den Prozessen gegen die Verschwörer des 20. Juli 1944 gemacht wurden. Die Hauptrolle als monströse Karikatur eines Richters spielte Roland Freisler, von August 1942 bis Februar 1945 Präsident des VGH.
Ein wenig überraschend – und für heutige Juristen hoffentlich lehrreich – ist das online dokumentierte Urteil gegen Pastor Stellbrink in einer fast nüchternen juristischen Sprache abgefasst, enthält so etwas wie eine Würdigung der Zeugenaussagen und sogar einen groben juristischen Subsumtionsvorgang – Erwägungen zu der Frage, warum Stellbrink nicht auch noch wegen Hochverrats zu verurteilen war.
In seiner Dissertation "Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs" (1995) belegte Holger Schlüter im Rahmen einer statistischen Analyse der VGH-Entscheidungen, dass sich die Senate durchaus die Mühe regelrechter juristischer Arbeit machten: im Durchschnitt hatten die Urteile 11,5 Seiten Umfang und begannen mit der traditionellen Urteilsformel deutscher Gerichte, dem "Tenor". Eine – man scheut sich zu sagen: gewissenhafte – Würdigung von Zeugenaussagen fand Schlüter ebenfalls recht oft, wozu paradoxerweise die exzessive Auslegung der "Wehrkraftzersetzung" beitrug: Weil man als "öffentliche" Kritik am NS-Staat bereits das Vier-Augen-Gespräch im familiären Kreis abstrafen wollte, wurden eben darum singuläre Zeugenaussagen durchaus kritisch gewürdigt.
Verkürzte Gerichtsentscheidungen, die den Verurteilten rhetorisch schon im Urteilstenor herabwürdigten und die "finale Subsumtionen" (Wilhelm A. Scheuerle) ohne weiteren Begründungsaufwand dokumentierten, verbreiteten sich erst nach einer "Vereinfachungsnovelle" von 1942 – vorbereitet vom (Noch-) Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler. Diese als "volkstümlich" deklarierte Gerichtssprache sollte sich dann aber auch über alle Strafgerichte verbreiten – nicht allein am 'Volksgerichtshof'.
Justizkarriere des Dr. Wilhelm Crohne
Bevor Wilhelm Crohne im November 1942 als Stellvertreter Freislers und Senatspräsident an den VGH wechselte, hatte auch er im Reichsjustizministerium Karriere gemacht. Der Ministerialdirektor Crohne leitete bis dahin die Abteilung III, in der in acht Referaten rund 25 Juristen daran arbeiteten, eine "einheitliche Gesetzesauslegung und -anwendung" im Bereich der "Strafrechtspflege" zu bewerkstelligen (Ralph Angermund).
Was darunter zu verstehen ist, dokumentiert etwa der Tätigkeitsbericht des Ministerialdirektors für das Jahr 1936, abgedruckt in "Deutsche Justiz" (1937, S. 7-12). Crohne tadelt dort unter anderem die Gerichte dafür, dass sie bei der Aburteilung regimekritischer Meinungsäußerungen zu regional unterschiedlichen Urteilen kämen: "Ähnlich ungleichmäßig wie in Rasseschutzsachen war die Rechtsprechung in Heimtückesachen. Während einzelne Sondergerichte jede Biertischschimpferei als Kapitaldelikt ansahen, pflegten andere noch so niederträchtige und gemeingefährliche Verleumdungen zu bagatellisieren." Konkretisiert wurde die – hier in einer juristischen Zeitschrift abgedruckte – Kritik in den klandestinen Urteilsbesprechungen der so genannten "Richterbriefe", die über die Generalstaatsanwaltschaften und Gerichtspräsidien eine gewünschte "Linie" bei der Auslegung von Strafnormen vorgaben.
"Kameradschaft" von Justiz, Gestapo und SS
Neben dieser schriftlichen Steuerung der "Strafrechtspflege" lobte Crohne ausdrücklich die Nützlichkeit persönlicher Besprechungen, die das "kameradschaftliche Verhältnis" zwischen der 'klassischen Justiz' und den "Hoheitsträgern" der NSDAP, SS, Polizei und Gestapo förderten.
Ein in der Öffentlichkeit der jungen Bundesrepublik vergleichsweise bekannt gewordenes Beispiel für diese "Kameradschaft" war der so genannte "Prügelerlass": Am 4. Juni 1937 trafen sich unter dem Vorsitz von Crohne unter anderem der Justitiar der Gestapo, Werner Best, sowie eine Anzahl von Generalstaatsanwälten in den Räumen des Reichsjustizministeriums. Gegenstand der Besprechung war die Frage, wie die Staatsanwaltschaften auf Anzeigen wegen der Misshandlung von Verdächtigen durch Gestapo-Beamte reagieren sollten. Man versuchte, sich über die Delikte zu verständigen, für die eine "verschärfte Vernehmung" aus Gründen des "Staatsnotstands" zulässig sein sollte. Soweit gewisse Regeln bei der Gestapo-Folter eingehalten würden, sollten die Staatsanwaltschaften zu einer einheitlichen Vertuschungs- bzw. Einstellungspraxis übergehen. Vereinbart wurde unter anderem:
"Grundsätzlich sind bei 'verschärften Vernehmungen' nur Stockhiebe auf das Gesäß und zwar bis zu 25 Stück zulässig. Die Zahl wird von der Gestapo vorher bestimmt [...]. Vom 10. Stockhieb an muß ein Arzt zugegen sein. Es soll ein 'Einheitsstock' bestimmt werden, um jede Willkür auszuschalten."
Rassenschande und geschlechterpolitische Weltbilder
Zwar hatte der Ministerialdirektor gelegentlich Probleme mit dem politischen System. Keine Probleme allerdings, die ihm zur Ehre gereichen. Als 1936 auf ausdrückliche Weisung Hitlers öffentliche Hauptverhandlungen in Strafsachen gegen Geistliche ausgesetzt wurden, äußert Crohne – im bereits genannten Bericht – öffentlich Kritik: Weil die Strafverfolgung nicht wieder zügig einsetzte, nachdem die Olympischen Spiele von 1936 zu Ende gegangen waren, dem Anlass für die Verfolgungspause.
Mit politischen Vorgaben scheint Crohne vor allem rechtstechnische Probleme gehabt zu haben. Dem 'Führer' hatte beispielsweise 1937 ein Bericht missfallen, nach dem eine Nicht-Jüdin wegen "Begünstigung" verurteilt worden war – "begünstigt" hatte sie die strafbare "Rassenschande" ihres jüdischen Liebhabers. Das passte nicht in das geschlechterpolitische Weltbild Hitlers, der davon ausging, dass die 'arische' Frau regelmäßig willen- und daher straflos der jüdischen Verführung zum Opfer falle. Bei diesem juristischen Wahnproblem wollte es Crohne nicht bei einer informellen Steuerung der Justizbehörden belassen, sondern schlug eine gesetzliche Klarstellung vor.
Dass der spätere Richter über die "Lübecker Märtyrer" seinem 'Führer' an wahnhafter Realitätswahrnehmung in Nichts nachstand, zeigt Crohnes vergleichsweise gut aufgearbeitete Haltung zum Problem der "Zeugen Jehovas".
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte diese Sekte mit ihrer apokalyptischen Bibelauslegung auch in Deutschland Anhänger gefunden. In Dresden fanden sich beispielsweise mehr "Ernste Bibelforscher", wie die Sektenmitglieder seinerzeit genannt wurden, als in New York City. Mehr, aber keinesfalls sonderlich viele – reichsweit gab es 1933 vielleicht 30.000 Zeugen Jehovas. Schon vor der Machtübergabe vom 30. Januar 1933 phantasierten die Gegner der Sekte – von Seiten der christlichen Amtskirchen ebenso wie völkische Propagandisten – eine Verschwörungstheorie zusammen: Die "Ernsten Bibelforscher" seien eine von US-Juden finanzierte kommunistische Organisation.
Keine Milde für die Zeugen Jehovas
Weil das Eigentum der 'Zeugen' in Deutschland einem 1931 vom Reichsrat als rechtsfähig anerkannten ausländischen (US-amerikanischen) Verein gehörte, tat sich der NS-Staat anfangs mit der Unterdrückung der verhassten Sekte schwer. So wurde zwar für Preußen ein Vereinigungsverbot erlassen, das aber nicht formgerecht veröffentlicht wurde. Weil ihm damit nach dem preußischen Polizeiverwaltungsgesetz keine allgemeine Gültigkeit zukam, sprach das Sondergericht Altona – keine für Milde bekannte Einrichtung – 1935 einige Zeugen Jehovas vom Vorwurf frei, mit ihrem wöchentlichen Wachturm- und Bibelstudium gegen ein Vereinigungsverbot verstoßen zu haben.
Crohne kritisierte diese Entscheidung barsch. Die Richter des Sondergerichts hätten bedenken müssen, dass die Formvorschriften außer Acht gelassen werden müssten, "wenn ihre Beachtung zu einer Mißachtung des ausdrücklich kundgetanen Willens der nationalsozialistischen Staatsführung führen muß".
Nach dem Wink des Ministerialdirektors bezog sich kein Gericht mehr darauf, dass das Verbot der Zeugen Jehovas formal nicht gültig war. In weiteren Urteilskritiken sollte er dann die Wahnideen des Regimes in Sachen "Ernster Bibelforscher" noch deutlich zu Protokoll geben: Wenngleich Crohne noch wahnwitzigere Schätzungen der Gestapo ablehnt, gibt er zur Stärke der Zeugen Jehovas in Deutschland an: "Ich selbst rechne mit 1 bis 2 Millionen."
Zwar waren sie pazifistisch, aber doch sehr obrigkeitstreu und keinesfalls zählten sie mehr als vielleicht 30.000 – ganz gleich, die maßlose "Gefahreneinschätzung" von Crohne mündete in einer Weisung an die Strafverfolgungsbehörden, darauf zu dringen, dass bei Verstößen gegen Vereinigungsverbote der Strafrahmen gegen die "Bibelforscher" ausgeschöpft werden solle, also Haft von fünf Jahren.
Mehr als eine (un-) moralische Geschichte
Wenn im Juni 2011 der "Lübecker Märtyrer" gedacht wird – vielleicht sogar ein wenig über das Sendegebiet des "Norddeutschen Rundfunks" hinaus –, wird das Anlass geben, wieder einen Blick auf das bekannteste juristische Terrorinstrument des NS-Staats zu werfen – den 'Volksgerichtshof'.
Wenn überhaupt, wurde die Geschichte dieses 'Gerichts' wohl überwiegend moralisch erzählt. Dass keiner seiner 'Richter' wegen Rechtsbeugung verurteilt wurde, gehört ebenso zum festen Wissensbestand wie die Tatsache, dass die Witwe des 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommenen Roland Freisler bis zu ihrem Tod 1997 eine ansehnliche Rente bezogen hat.
Aus der Geschichte von Dr. Wilhelm Crohne ließen sich womöglich noch weitere Lehren ziehen. Der von ihm mit verantwortete "Prügelerlass" von 1937 könnte etwa an den juristischen Fakultäten als Beispiel dafür diskutiert werden, wie staatlich legitimierte Folter nicht nur die Misshandelten verletzt – sondern auch die Folterer entwürdigt.
Oder man nehme Wilhelm Crohnes Dissertation aus dem Jahr 1907: Eine auch für damalige Verhältnisse intellektuell dünne Doktorarbeit, als externe Promotion vorgelegt in Heidelberg. Die zivilrechtliche Arbeit enthält ein paar nationalkonservative Phrasen, ist aber grundsätzlich harmlos. Darin ist sie vielleicht ein negatives Beispiel für rechtswissenschaftliches Arbeiten über den Tag hinaus. Aber dass man genauer hinschaut, wenn aus Juristen Doktoren werden, scheint sich ja erst in jüngerer Zeit einzubürgern.
Eine wissenschaftliche Monografie zu diesem nicht unbedeutenden Juristen des 20. Jahrhunderts liegt bis heute, soweit erkennbar, nicht vor. Sie dürfte kaum weniger spannend sein als die Geschichte der "Märtyrer von Lübeck".
Handapparat
Ralph Angermund: "Deutsche Richterschaft 1919-1945", Frankfurt am Main 1991
Wilhelm Crohne: "Nichtigkeit und Anfechtbarkeit einer Ehe" (Diss. Heidelberg), Berlin 1907
Wilhelm Crohne: "Die Strafrechtspflege 1936", in: "Deutsche Justiz" 1937, S. 7-12
Detlef Garbe: "Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im 'Dritten Reich'", München 1994
Alexandra Przyrembel: "'Rassenschande'. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus", Göttingen 2003
Holger Schlüter: "Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs", Berlin 1995
Ilse Staff (Hg.): "Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation", Frankfurt am Main 1978 [1964])
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Mehr auf LTO.de:
Special Anwaltstag: Der Code civil in Deutschland: Reichsgerichtsräte, schlauer als die Franzosen
Der Fall Zeppelin: Steampunks im Reichsgericht
Martin Rath, Freislers Vizepräsident Wilhelm Crohne: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3537 (abgerufen am: 15.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag