Ehegesuche in der Kritik Habermas: Vom schwie­rigen Hei­rats­markt und dem Mak­ler­pro­blem

von Martin Rath

12.06.2022

Wer sich an schlechten Heirats- und Bekanntschaftsanzeigen stört, sollte über das Problem des Ehemäklerlohns nicht schweigen – wie sich am Beispiel des bekanntesten deutschen Philosophen zeigen lässt.

Der Philosoph befasste sich, als junger Mann, auch mit Fragen der Sexualität – hier vor allem aber mit ihrem öffentlichen Elend.

Die Rede ist von Jürgen Habermas (1929–). Zu den weniger bekannten Werken dieses in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik überaus einflussreichen Sozialtheoretikers gehört sein Aufsatz über "Illusionen auf dem Heiratsmarkt", der im Herbst des Jahres 1956 in der Zeitschrift "Merkur" erschien.

Die Gründerjahre der Bundesrepublik sind unbestritten kaum durch subtile Erotik bekannt geworden. Mit dem ersten Bundeskanzler hängt der Epoche bis 1968 nach wie vor das böse Wort vom "Mief" der Adenauerzeit an – nicht ganz zu Unrecht, bedurfte es doch erheblicher Anstrengungen, um das Versprechen des Grundgesetzes mit Leben zu füllen, bürgerliche Freiheitsrechte und eine gleichheitsrechtliche Neuordnung der Geschlechterverhältnisse zu etablieren.

Habermas' kleiner Aufsatz, in dem der Nachwuchsintellektuelle seine Ansichten zur Entwicklung des öffentlichen Liebeslebens mitteilte, ist bemerkenswert – weil er sich vielleicht gar nicht allzu weit vom moralischen Konservatismus in der Gesetzgebung und Rechtsprechung jener Zeit entfernte.

Anfänge einer erotischen Selbstvermarktung

Zu den einleitenden Befunden des frisch promovierten, selbst noch jung verheirateten Gelehrten zählte, es liege "im Zuge unserer industriegesellschaftlichen Entwicklung", dass die "Heiratshäufigkeit steigt, während das Heiratsalter immer weiter sinkt".

Während in historischen Gesellschaften mit der Heirat zu warten war, bis der künftige Nachwuchs ernährt werden konnte, stellte Habermas fest, erwarte heute – 1956 – "jeder Erwachsene bereits in frühen Jahren eine Heiratschance", und zwar in durchaus seltsamen Zügen: "So ist denn der Bundesbeamte, der mit seinen 21 Jahren 'Ehegemeinschaft wünscht', ebensowenig eine Ausnahme wie die 17-jährige Oberschülerin oder der 18½ Jahre alte Industriekaufmann, der noch sein Lebensalter nach Halbjahren taxiert."

Verwundert zeigte sich der Philosoph, nicht im positiven Sinn, dass "dieses heiratslustige Volk, anscheinend zu großen Teilen, ausgerechnet auf dem Weg über die Heiratsanzeige sein Glück versucht". Denn dass sich hier Menschen selbst zur Ware machten, war für ihn erwiesen: "Immerhin werden dem Leser gleich neben der Akademikerwitwe und dem Fabrikantensohn ein Boxerwelpe und ein Zwergbologneser, gleich neben dem flotten 60er und der gut aussehenden Dame mit Abitur ein neuwertiger Mercedes 180 D und ein VW-Kleinbus in Luxusausführung angeboten."

Indem sie sich selbst zur Ware am Heiratsmarkt machten, zögen, so die Diagnose von Habermas, Menschen "ein in den Kreislauf der großen Börse", als "Masken unsrer selbst, zu Dingen und Dinglichem geronnen". Die Heiratsgesuche in den Zeitungen reduzierten die menschliche Existenz einerseits auf objektive, messbare Eigenschaften wie "Körpergröße und Alter, Figur und Haarfarbe, Beruf und Konfession, Monatseinkommen, Barvermögen, Eigentum an Haus und Grund und Boden". Andererseits sträube sich der heiratswillige Mensch noch etwas gegen eine solche Selbstbeschreibung, weshalb zugleich ein inflationärer Gebrauch von kitschigen Formeln gemacht werde. Dieser Anzeigenkitsch drückte sich etwa aus im Wunsch nach einem "Lebensbund aus inniger Zuneigung", einem Schwur auf die "inneren Werte" oder dem Verlangen nach "echte(m) Frauentum".

Heiratsgesuche sind ästhetisch heikel, Ehemäkler moralisch

Wer als Ästhet die Nase über Kitsch rümpft, begründet immer den Verdacht, auch seine moralische Abneigung ausdrücken zu wollen. Für beides, bebende Nasenflügel und hochgezogene Augenbrauen, blieb Habermas zwar zu subtil. Doch obwohl das soziale Elend hier beileibe nicht nur in unterdrückter Libido und im ästhetischen Warenlob auf die eigene Person lag, ging Habermas leider kaum auf die juristischen und ökonomischen Rahmenbedingungen eines entstehenden "Heiratsmarkts" ein.

Wenn Menschen, auf sich allein gestellt, mit einem Markt überfordert sind, bietet es sich an, einen Makler oder eine Maklerin zu beauftragen – und dass seinerzeit ein Bedarf bestand, Heiratswillige im unternehmerischen Rahmen zu beraten, um sie vor allzu peinlicher Selbstdarstellung und vor kriminellem Unheil zu beschützen, war in den 1950er Jahren viel offensichtlicher als heute. Denn der kriegsbedingte Verlust an Männern hatte zur Folge, dass sich zahllose heiratswillige Frauen zwischen dem nüchternen Pragmatismus des sogenannten Bratkartoffelverhältnisses und dem recht naheliegenden Risiko orientieren mussten, einem Heiratsschwindler zum Opfer zu fallen.

Jedoch hatte sich der Gesetzgeber im Jahr 1896 dazu entschieden, den Markt für entsprechende Leistungen zu guten Teilen in einen gerichtsfreien Raum zu verwandeln. Die Regelung der Heiratsvermittlung gem. § 656 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nahm den bis dahin in Deutschland durchaus geläufigen Ehemaklern die Möglichkeit, das Honorar für ihre Dienste einzuklagen.

Ohne Bedenken war diese Gesetzgebung nicht geblieben. Immerhin stellte das Reichsgericht mit Urteil vom 20. Juni 1900 (Az. I. 140/00) noch ungerührt fest, dass über die Leistungen von Ehemaklern ein sittliches Unwerturteil nicht generell zu sprechen sei.

70 Jahre nachdem der Gesetzgeber ihnen die Klagbarkeit ihrer Ansprüche genommen hatte, machte auch das Bundesverfassungsgericht kurzen Prozess mit der Vorstellung, die kommerzielle Ehevermittlung genieße durchgreifenden Grundrechtsschutz. Im Beschluss vom 20. April 1966 (Az. 1 BvR 27/64) teilte es in dürren Sätzen mit, dass § 656 BGB nicht im Widerspruch zu Gleichheitsgrundsatz und Berufsfreiheit stehe. Noch knapper wurde der – für die soziologische Betrachtung eines "Heiratsmarkts" interessante – Gedanke abgetan, gute Ehevermittlung könnte etwas mit dem Schutz von Ehe und Familie zu tun haben, Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

In diesen Jahren, in denen das Elend des westdeutschen Liebeslebens Ausdruck in den von Habermas kritisierten Heiratsanzeigen fand, wurde jedoch kein Gedanke daran verschwendet, einen rechtlich gut regulierten, durch die Wechselseitigkeit der Leistungsansprüche attraktiven Markt wieder zuzulassen – obwohl es nicht nur wegen der virulenten Heiratsschwindlerinnen und -schwindler der Nachkriegszeit dazu guten Grund gegeben hätte.

Auch die unter den widrigen Bedingungen trotzdem tätigen Heiratsvermittler entsprachen leider oft gar nicht dem Bild guter unternehmerischer Praxis. Entsprechend stellte der Bundesgerichtshof beispielsweise mit Urteil vom 8. Juli 1957 klar, dass § 656 BGB den Schadensersatzansprüchen der Klienten von Ehemaklern nicht entgegenstehe – die Ehemäklerin hatte ihrer Klientin einen potenziellen Gatten vermittelt, der zwar dem in den proteinarmen Nachkriegsjahren begehrenswerten Beruf des Metzgers nachging, jedoch wegen Vorstrafen und falschem Führen eines Doktortitels keinen guten Heiratskandidaten abgab (Az. II ZR 57/56).

Kein Heil in den kapitalistischen Hilfsmitteln, kein Sinn für die moralischen

Der Gedanke, dass rechtlich gut geordnete Geschäfte von Ehemäklern den krassen Missständen auf dem Heiratsmarkt – vom echten Betrug bis zur fehlenden Annoncen-Ästhetik – abhelfen könnten, entsprach augenscheinlich nicht dem Zeitgeist, der bereits 1956 einen Zug ins Kapitalismuskritische nahm, vielleicht aber auch nur eine antiliberale Moral von Kaiserreich und NS-Zeit fortsetzte.

Zu reizvoll war es wohl, wie unbeholfen sich Menschen dabei anstellten, auf dem Heiratsmarkt eine Partnerin oder einen Partner für Tisch und Bett, aber auch für die Vermehrung von Kapital und Sozialstatus zu finden. Noch einmal O-Ton Habermas: "Besonders in den 'gehobenen' Blättern drapiert sich der Heiratsmarkt in den karnevalistischen Gewändern hochgeschraubter Statussymbole. Da geben sich Akademikerwitwen aus ersten Industriekreisen … mit Diplomaten, Berufsoffizieren (alten und neuen), mit dem Fabrikantennachwuchs, mit 'erfolgreichen Geistesarbeitern', Gutsbesitzern (gewesenen und aktuellen), Haustöchtern mit Abitur, hohen Beamten und Damen, die Zuschriften nur aus dem Ruhrgebiet wünschen, ein sorgfältig distinguiertes Stelldichein."

Nicht nur beim "Heiratsmarkt" neue Unbefangenheit üben

In Ehe und ähnlichen Verhältnissen kommen heikle Fragen von Sexualität, Macht und anderen Ressourcen zusammen, die jede Gesellschaft mehr oder weniger eigenwillig regelt – so lässt sich vielleicht der ethnologische und soziologische Hausverstand zusammenfassen.

Wie sich die Gesellschaft dabei festlegt, wird dann meist für lange Zeit als sehr selbstverständlich wahrgenommen – gewiss gilt das auch heute für das Arrangement, das 1896 für einen wesentlichen Teil des "Heiratsmarkts" getroffen wurde. Immerhin liegt in Habermas‘ historischer Diagnose aus dem Jahr 1956 aber auch eine Kritik an der seither wohl durchgreifenden Tendenz, sich selbst zur Sache zu machen. Und doch betrifft sie ein Gebiet, das nach wie vor provoziert – in Gestalt von harmlos heiratslustigen "Akademikerwitwen und ersten Industriekreisen" ebenso wie in Gestalt jener, die sich moralisch über sie erheben.

Schließlich bleibt die Frage, warum und in welchem Umfang Gesetzgeber und Rechtsprechung sozial relevante Tauschverhältnisse davon ausnehmen sollten, eine Honorarforderung gerichtlich durchsetzen zu können, eine interessante Provokation für das gesellschaftliche Selbstverständnis.

Zitiervorschlag

Ehegesuche in der Kritik Habermas: . In: Legal Tribune Online, 12.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48702 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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