Die deutschen Akademiker waren einst weltberühmt, nicht nur wegen ihrer Forschungsleistungen: Farbentragende Studenten, drollige Professoren mit spitzen Bärten – Mark Twain reiste eigens aus den USA an, um sich darüber lustig zu machen. Das ist vorbei. Allein die knorrige Tradition der "Festschrift" wird von Juristen bis heute gepflegt. Ein Orientierungsversuch von Martin Rath.
Von der Heidelberg-Romantik und den Festschriften abgesehen, ist nicht viel vom Reiz der akademischen Kultur erhalten geblieben, die im 19. Jahrhundert britische und amerikanische Beobachter in ihren Bann schlug. Als Lehnwort ist "Festschrift" inzwischen jedenfalls unter Akademikern in die englische Sprache eingewandert.
Hierzulande wird die Tradition nicht nur gepflegt, von Juristen wird ihr Wachstum inzwischen beklagt. Rund 2.600 rechtswissenschaftliche Festschriften ergab eine neuere Zählung. Im Vorwort zur Festschrift "150 Jahre Deutscher Juristentag" glaubt Rechtsanwalt Felix Busse daher, sein Werk vor Spöttern in Schutz nehmen zu müssen. Seine Worte galten wohl Kritikern wie dem Hamburger Staatsrechtslehrer Ingo von Münch, der dem neueren deutschen Festschriftenwesen attestiert "mit dem Jahrmarkt persönlicher Eitelkeiten verbunden" zu sein (Neue Juristische Wochenschrift 2000, 3.253-3.256).
Den spitzen Anmerkungen von Münchs über die heimlichen Motive der Autoren und Herausgeber, über die Inflation dieses Literaturtyps und seines oft zweifelhaften rechtswissenschaftlichen Werts zum Trotz, wurden für den vorliegenden Essay rund drei Regalmeter juristischer Festschriften zumindest grob gesichtet – die Ausbeute der Jahre 2008 bis 2010.
Juristische Monstren und skurrile Gelehrsamkeit
Der Versuch, echten Service-Journalismus zu leisten, muss vorläufig an der schieren Masse scheitern. Interessant wäre es beispielsweise, die Netzwerke akademischer Lehrer-Schüler-Verhältnisse anhand der Festschriften zu analysieren. Elitenforschung nach Art des bekannten Darmstädter Soziologen Michael Hartmann fände hier reiches Anschauungsmaterial. Dagegen sperrt sich das teilweise monströs umfangreiche Festschriftenwesen.
Neun eng bedruckte Seiten braucht die 2010 erschienene Festschrift für den Wirtschaftsrechts-Professor Klaus J. Hopt allein, um die Autoren der Beiträge aufzulisten. Insgesamt bringt es dieses Prachtstück der Gelehrsamkeit auf fast 3.500 Seiten.
Manches bemerkenswerte Detail in den gesichteten Exemplaren rechtfertigt mehr Neugierde. An das einst bewunderte, romantische Gelehrtentum aus Deutschland erinnert beispielsweise ein Beitrag in der Festschrift für den Rechtshistoriker Elmar Wadle (zum 70. Geburtstag 2008). Anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich drollige deutsche Juristen mit dem angelsächsischen Common Law, das heute im Zeichen der Globalisierung wieder viel Aufmerksamkeit genießt, worauf Filippo Ranieri in seinem Beitrag eingeht. Damals beruhte das Interesse am Common Law nicht auf handfestem ökonomischen Interesse, sondern auf einem märchenhaft-romantischen Bemühen: Man suchte nach den "germanischen" Wurzeln eines oft idealisierten "Deutschen Rechts". Dieser Ansatz fand sein Ende mit der modernen Rechtsvergleichung eines Max Rheinstein, von der heutige Juristen im world wide business profitieren.
Pragmatismus und methodische Ehrungsproduktion
Andere Beiträge in der Wadle-Festschrift behandeln beispielsweise "Badens lange[n] Weg zum Amtsgericht" oder "Königliche Wahlkapitulationen des Früh- und Hochmittelalters". Ein bisschen sonderbar mag auf juristische Praktiker die Frage nach der "Herkunft Hans Kelsens" wirken, der sich ein weiterer Beitrag widmet, dürfte der 1973 verstorbene Kelsen doch längst kein Fall fürs Familiengericht mehr sein.
Im Vergleich dazu strotzen die Beiträge in der "Festschrift für Dieter Sellner zum 75. Geburtstag" vor praktischem Leistungswillen. Selbst ein schlichter Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt wird den Nutzwert von Beiträgen zur "Rechtspflicht zum Abbau stillgelegter kerntechnischer Anlagen unter besonderer Berücksichtigung des Baurechts" oder über "Kartellrechtliche Aspekte im Recht der Netzentgeltregulierung für die Strom- und Gaswirtschaft" nicht grundsätzlich in Frage stellen, selbst wenn so wichtige Mandate selten sind.
Aus diesem harten Pragmatismus fallen die persönlichen Anmerkungen Konrad Redekers über seinen zwölf Jahre jüngeren Kollegen Dieter Sellner heraus. Fast anrührend, dass er einräumt, Sellners Dissertation aus dem Jahr 1961 erst jetzt gelesen zu haben. Nicht nur für Nachwuchsjuristen, die glauben, man müsse heute Promotionsvorhaben gleich stromlinienförmig für den Arbeitsmarkt zuschneiden, enthält Redekers Beitrag damit eine – vielleicht unangenehme – Überraschung.
Ein Beispiel für einen Mittelweg zwischen hartem Pragmatismus und knorrig-romantischer Rechtsgelehrsamkeit bietet ein Beitrag in der "Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag". Klaus Hoffmann-Holland analysiert hier die neuere Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts zur Todesstrafe an Minderjährigen. Die US-Bundesrichter haben sich dabei unter anderem auf kriminologische Hypothesen gestützt, die Hoffmann-Holland immer wieder mit einem deutschen Standardwerk abgleicht – natürlich der "Kriminologie" von Ulrich Eisenberg. Seine Kritik an der teilweise angreifbaren US-amerikanischen Todesstrafen-Judikatur würde wohl auch ohne die Referenzen bestehen. Aber nur mit ihnen besteht sie als Festschriften-Beitrag.
Festschrift für den Arbeitsrechtler – Mitten ins Herz des "cui bono"?
Einen Druckkostenzuschuss diverser Arbeitgeberverbände weist die Festschrift für Arbeitsrechtler Klaus Adomeit am Schluss nach. Für böse Zungen, die im Arbeitsrecht nach einer schnellen Antwort auf die Frage "cui bono?" suchen, wäre damit schon fast alles gesagt. Dabei enthält die "Gegen den Strich" betitelte Festschrift neben vielen arbeitsrechtlichen Beiträgen, deren Tendenz sich meist aufgrund des jeweiligen Autorennamens voraussagen lässt, eine echte Überraschung. Erstaunlich offenherzig berichtet Dirk Neumann über die "Assistenten von Nipperdey".
Hans Carl Nipperdey, einst Mentor Adomeits, war bekanntlich von 1954 bis 1963 der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Nicht nur sein Einfluss auf die Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts ist bis heute legendär. Stoff für Legenden – oder für soziologische Elitenforschung – enhalten auch Neumanns Erzählungen zur Nachwuchsförderung Nipperdeys. Das böte Stoff für spitze Zungen. Bekanntlich fehlt dem kollektiven Arbeitsrecht bis heute die aktive demokratische Legitimation. Umso interessanter ist, wie weit sich hier dynastische Verhältnisse entwickeln konnten.
"Deutscher Juristentag" – einst ließ man es krachen
Reizvolle Fundstücke dieser Art sind aber selten. In der Regel sollen Festschriften den Ruhm des Geehrten und seiner Schüler mehren und bieten daneben "nur" einen mehr oder weniger konzentrierten Überblick über eine Regelungsmaterie. Rechtshistoriker werden in 150 Jahren bloß die bescheidenen 3.500 Seiten der Festschrift für Klaus J. Hopt zur Hand nehmen müssen, um sich wirklich erschöpfend über das Wirtschaftsrecht des Jahres 2010 belehren zu lassen.
Das es auch anders geht, beweist die überwiegend spannungsreiche Festschrift "150 Jahre Deutscher Juristentag". Neben einer erfrischend kritischen Darstellung Geschichte des "DJT", die Rainer Maria Kiesow mit einer rund 100-seitigen Monografie beisteuert, stellt Rainer Hamm überraschende und bemerkenswerte Befunde zum materiellen Strafrecht vor.
Er berichtet beispielsweise vom 34. DJT (1926 in Köln), auf dem diskutiert wurde, wie das Strafrecht auf moralisch-ideologisch motivierten Terrorismus reagieren solle. Im Gespräch war, für Gesinnungstäter häufiger die Festungshaft vorzuschreiben, an Stelle des entwürdigenden Zuchthauses. Hamm sieht hier eine erstaunliche Toleranz gegenüber "Feinden" der bestehenden Ordnung am Werk, die in der heutigen Diskussion um ein "Feindstrafrecht" gänzlich fehle.
Auch wer eine systematische Kritik an der mitunter grotesk unordentlichen Arbeit der heutigen Gesetzgebungsmaschinerie formulieren möchte, wird hier fündig. Denn seit über 150 Jahren verzichten die im "DJT" organisierten Juristen, ihr beherzt ins Rad zu greifen. Eine Einladung zur Demut oder zur Kritik, man mag sich selbst mit dieser ungewöhnlichen Festschrift prüfen.
Spannung bis zur Gänsehaut: Keine Festschrift fürs Flugzeug
Sich und andere selbst prüfen, das lässt sich mit dem wohl spannendsten Beitrag anfangen, der sich aus rund drei Metern gesichteter Festschriften-Literatur ziehen ließ. In der "Festschrift für Winfried Hassemer" befasst sich Lothar Philipps mit "Moralische[n] Doppelwirkungen".
Sein Beitrag handelt von den sogenannten "Trolley-Fällen". Das sind vereinfachte Fälle, wie sie jeder Jurastudent im ersten Semester kennenlernt: Fährt ein unbemanntes Schienenfahrzeug auf eine Gruppe Menschen zu. Ihr Tod kann vermieden werden, indem ein schwergewichtiger Mann vor den Trolley geworfen wird...
Der US-amerikanische Evolutionsbiologe Marc D. Hauser hat Variationen dieses Falls für eine Untersuchung benutzt, in der er einen Instinkt für moralische Entscheidungen nachweisen möchte, der dem Menschen angeboren sei. Nachlesen und mitmachen kann man das hier.
Es passt zum drollig-knorrigen Festschriften-Sujet, wenn Philipps während seiner Spaziergänge am Isarufer zufällige Bekanntschaften zu ihrer Meinung ausfragt, was diese Notstandsprobleme betrifft. In den Mauern der Münchener Juristenfaktultät setzt er seine private Ermittlung an Studenten fort, um zunächst festzustellen, dass sie über ein juristisch unverdorbenes Urteilsvermögen schon nicht mehr verfügen. Überrascht zeigt sich Philipps auch, wie viele jüngere Juristen sich intensiv mit den Notstandsproblemen auseinandergesetzt hätten – ja, sogar der Versuch ihrer Lösung durch den großen Theologen Thomas von Aquin sei bemerkenswert weit verbreitet.
Darf das Leben weniger Menschen geopfert werden, um das Leben vieler Menschen zu retten? Ob die Antwort des Bundesverfassungsgerichts, zu finden im Urteil zum "Luftsicherheitsgesetz" vom 15. Februar 2006 (1 BvR 357/05) sich mit den moralischen Befunden deckt, die Lothar Philipps beim Spazierengehen mit Hund diversen Isar-Flaneuren entlockt hat?
Im Gegensatz zu jeder juristischen Gewissheitsproduktion entdeckte Philipps viele Unsicherheiten, die sich offenbar mit dem moralischen Urteil zahlloser Menschen decken. Bei einer Flugreise sollten ängstliche Menschen die "Festschrift für Hassemer" also vielleicht nicht mit ins Handgepäck nehmen.
Allen anderen mag man aus Gewichtsgründen abraten.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Literatur:
"Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag", herausgegeben von Tiziana J. Chiusi, Thomas Gergen und Heike Jung, Duncker & Humblot, Berlin 2008. Inhaltsverzeichnis; aktuelle Referenz: http://kontinentalesrecht.de/
"Verfassung – Umwelt – Wirtschaft. Festschrift für Dieter Sellner zum 75. Geburtstag", herausgegeben von Klaus-Peter Dolde und anderen, C.H. Beck, München 2010, Inhaltsverzeichnis
"Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag", herausgegeben von Henning Ernst Müller und anderen, C.H. Beck, München 2009, Inhaltsverzeichnis
"Gegen den Strich. Festschrift für Klaus Adomeit", herausgegeben von Peter Hanau, Jens T. Thau und Harm Peter Westermann, Luchterhand, Köln 2008 Inhaltsverzeichnis
"150 Jahre Deutscher Juristentag. Festschrift Deutscher Juristentag 1860-2010", herausgegeben von der Ständigen Deputation des DJT durch RA Felix Busse, C.H. Beck, München 2010. Inhaltsverzeichnis
"Festschrift für Winfried Hassemer", herausgegeben von Felix Herzog und Ulfrid Neumann, C.F. Müller, Heidelberg 2010. Online ist kein Inhaltsverzeichnis verfügbar
"Unternehmen, Markt und Verantwortung. Festschrift für Klaus J. Hopt", herausgegeben von Stefan Grundmann und anderen, de Gruyter, Berlin 2010. Inhaltsverzeichnis
Martin Rath, Festschriftenwesen in den Rechtswissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 13.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2527 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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