Seit der Reformation wurde die evangelische Kirche von der staatlichen Obrigkeit geprägt. Auch die kirchenrechtlichen Formen gleichen den staatlichen oft verblüffend. Nach dem 2. Mai 1946 folgte daraus ein eigenartiges Problem.
Worüber sich evangelische Christinnen und Christen streiten können, ist für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen. Im Jahr 1946 ging es jedenfalls hoch her.
Durch das Ende der NS-Herrschaft im Jahr zuvor konnten sich die Vertreter der "Bekennenden Kirche", einer Oppositionsfraktion, die dem nahtlosen Anschluss der Mehrheit an die Ordnung des NS-Staats nicht hatte folgen wollen, nun in der Hierarchie nachdrücklicher betätigen als es ihrer Mannstärke entsprach – in demokratisch verfassten Organisationen ist das eine Quelle steter Konflikte.
Christenmenschen, die sich der Lehre Luthers verpflichtet fühlten, beklagten sich im Kampf um die Neuorganisation gemeinsamer Kirchenstrukturen öffentlich darüber, ihre calvinistischen Glaubensbrüder bekämpften sie – dafür seien sie ja bereits seit dem 16. Jahrhundert berüchtigt.
Zu den Streitigkeiten des Sommers 1946 zählte neben der heiklen Frage, wie sehr evangelische Mitschuld am nationalsozialistischen Terroröffentlich eingeräumt werden dürfe, ohne sich beim Kirchenvolk unbeliebt zu machen, auch ein Konflikt um eine neue Perikopenordnung – also die Anordnung, in welcher Reihenfolge im Lauf des Jahres welche Bibeltexte gottesdienstlich zu Gehör zu bringen waren. Gut möglich, dass zweiteres für viele wichtiger war.
Und nebenbei verabschiedete sich die Evangelische Kirche in Deutschland mit Beschluss vom 2. Mai 1946 auch von ihrem bisherigen Disziplinarrecht.
Kirchenbeamter begehrt Entschädigung nach 131er-Gesetz
Ein Tatbestand, über den der Bundesgerichtshof 1955 urteilte, illustriert auf eigenartige Weise die verwickelten Verhältnisse von nationalsozialistischem Staat und evangelischer Christenheit:
Im Jahr 1943 war der spätere Kläger im Sprengel der Landeskirche Hannover zum Kirchenbeamten auf Lebenszeit berufen worden. Am 3. Mai 1945, also noch vor dem Kriegsende in Europa und rund drei Wochen, nachdem amerikanische Streitkräfte die Stadt Hildesheim besetzt hatten, wurde über den Landeskircheninspektor ein Disziplinarverfahren eröffnet, weil er sich unter Verletzung seiner Dienstpflichten "durch unkameradschaftliche Angeberei bei außerkirchlichen Stellen unwürdig gezeigt" habe, indem er drei Kirchenmitarbeiter wegen politischer Verfehlungen gegen den NS-Staat bezichtigt habe.
Bevor der Landeskirchenrat das Disziplinarverfahren jedoch betreiben konnte, stellte der Kirchenbeamte mit Schreiben vom 11. Juli 1945 den Antrag, nach § 60 Deutsches Beamtengesetz (DBG) entlassen zu werden, um sich einstweilen als Landwirt betätigen zu können.
Nach dem Krieg verliefen gegen ihn Verfahren wegen des Verdachts, sich als Gestapo-Denunziant strafbar gemacht zu haben, im Sande. Im Anschluss begehrte der vormalige Landeskircheninspektor die Wiedereinstellung als Kirchenbeamter und die Zahlung von Bezügen nach dem "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" vom 11. Mai 1951, dem "131er"-Gesetz, das die Verhältnisse der vor dem 8. Mai 1945 tätigen, mitunter aus dem Dienst entfernten oder verdrängten Beamten klären sollte.
Organisatorische Nähe von Staat und Kirche bis in den Beamteneid
Durch die Brille eines evangelischen Milieus betrachtet, das sich heute vor allem in den Großstädten nur mit Mühen von linksliberalen oder "grünen" Kreisen unterscheiden lässt, mag das Begehren kurios erscheinen, dass hier ein offenbar durch seine Regime-Nähe belasteter, nach der Befreiung vom NS-Staat ausgeschiedener Kirchenbeamter seine Rückkehr in den Dienst, jedenfalls eine Entschädigung nach einem Recht begehrte, das die Rechtsverhältnisse der oftmals nationalsozialistisch vorbelasteten Staatsbeamten regeln sollte.
Der Blick ins Gesetz vermittelt aber den Eindruck von einer nahezu nahtlosen Nähe der evangelischen Kirchenorganisation zur allgemeinen Staatsverwaltung.
Als der Landeskircheninspektor 1943 zum Kirchenbeamten auf Lebenszeit berufen wurde, war die "Kirchenbeamtenverordnung der Deutschen Evangelischen Kirche" vom 13. April 1939 einschlägig, deren Ermächtigungsgrundlagen sich im staatlichen Recht fanden.
Die Kirchenbeamtenverordnung beruhte einerseits auf dem "Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 24. September 1935", mit dem die Staatsgewalt in die internen Auseinandersetzungen um die Gleichschaltung des evangelischen Kirchenbetriebs eingegriffen hatte. Eine weitere Ermächtigung zur Regelung von Rechtsverhältnissen evangelischer Kirchenbeamter ergab sich aus § 174 Deutsches Beamtengesetz (DBG) vom 26. Januar 1937.
Nach § 3 Kirchenbeamtenverordnung vom 13. April 1939 hatte der Inspektor im Jahr 1943 folgenden Eid zu leisten: "Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe." Der einzige Unterschied zum weltlichen Beamteneid nach § 4 DBG bestand darin, dass Kirchenbeamte beim Treueschwur auf Hitler zwingend die Hilfe Gottes zu bekunden hatten.
Selbstverständlich zeigt der Eid nur eine offensichtliche Gleichheit von Regelungen für Staats- und Kirchenbeamten. Doch glich der Status beider bis tief in die Verästelungen des Versorgungs- und Disziplinarrechts.
Die Nähe zwischen evangelischer Kirche und nationalsozialistischem Staat reichte so weit, dass beispielsweise der für kirchliche Disziplinarverfahren zuständige "Untersuchungsführer" sein Amt verlor, "wenn er aus der NSDAP ausgeschlossen oder ausgestoßen wird" – ein Tatbestand, den § 35 der Disziplinarordnung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 13. April 1939 sogar noch vor einem Kirchenaustritt des ermittelnden Beamten nannte. Der Organisationsgrad evangelischer Hierarchen in der NSDAP und ihren Nebengliederungen war beachtlich, die Regelung ergab mithin einen Sinn.
Kein Wunder also, dass der Landeskircheninspektor glaubte, an der Rehabilitation der nach dem 8. Mai 1945 nicht weiter beschäftigten Beamtenschaft teilhaben zu können.
III. Zivilsenat des BGH, Vorsitzender Willi Geiger
Nach dem 131er-Gesetz suchten viele Beamte um Versorgung nach. Anlass gab unter anderem, dass nach der Annexion durch Polen und die Sowjetunion viele Planstellen in Schlesien, Pommern, Ostpreußen oder Danzig entfallen waren. Nicht alles war, durch die heutige Brille betrachtet, verfänglich.
Aus der Perspektive der 1950er Jahre war es das ohnehin nicht. Selbst die DDR entdeckte ihre vermeintlich höhere Moral, was den Umgang mit vormals NS-belasteten Verwaltungsfachleuten betraf, propagandistisch erst, als diese ohnehin wegen der besseren Lebensbedingungen in die Bundesrepublik übersiedelten – wie andere Fachleute auch.
In der Sache des Landeskircheninspektors a.D. aus dem Hannoverschen lagen die Verhältnisse jedoch wirklich ein wenig heikel.
Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 3. November 1955 (Az. III ZR 148/54) erklärte zwar, dass die Rechtsverhältnisse von Beamten der Kirchen nicht von Artikel 131 Grundgesetz (GG) und dem Ausführungsgesetz vom 11. Mai 1951 geregelt seien, die Kirchen aber womöglich aus allgemeinen rechtsstaatlichen Gründen dazu verpflichtet sein könnten, ihre im Zusammenhang mit dem Ende des NS-Staats ausgeschiedenen Beamten entsprechend zu versorgen.
Um jedoch über diese folgenreiche Frage nicht entscheiden zu müssen, erörterte der III. Zivilsenat des BGH den Fall des Landeskircheninspektors ausführlich. Möglicherweise galt es für den Senat auch, sich rechtspolitisch zu positionieren. Ihm saß mit Willi Geiger (1909–1994) ein Jurist vor, der für seine beamtenrechtliche Expertise in der Bundesrepublik geschätzt, aber als vormaliger Staatsanwalt mit Todesurteilen belastet war, sich vor allem über richterliche Kompetenzen nicht zu beklagen brauchte, diente er doch seit 1951 parallel zum BGH auch noch als Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Es sei zwar, stellte der BGH unter anderem fest, zugunsten des Klägers anzunehmen, dass Beamte, die vor dem Abschluss eines Disziplinarverfahrens um ihr Ausscheiden aus dem Dienst ersuchten, durch das Verfahren motiviert seien.
Nationalsozialistische Gesinnung blieb hinten angestellt
Würde es sich so verhalten, dass auf den Inspektor in den Wochen vor und nach dem Kriegsende in Europa am 8. Mai 1945 Druck ausgeübt worden wäre, um eine "Säuberung der Kirchenverwaltung von nationalsozialistischen Elementen" zu bewirken, käme es in Betracht, sich mit seinem Versorgungsanspruch zu beschäftigen – um dann zu klären, ob aus solchen "politischen Gründen" entfernte Kirchenbeamte entsprechend den Regelungen für die staatlichen Beamten zu alimentieren seien.
Wohlgemerkt: Anlass zur Sorge um eine rechtstaatlich korrekte Versorgung gaben dem BGH solche NS-belasteten Kirchenbeamten, die womöglich nach dem 8. Mai 1945 aus politischen Gründen entlassen worden waren, weil sie die evangelische Kirche moralisch für nicht mehr tragbar hielt – was augenscheinlich nicht allzu oft der Fall war.
Dieser Entscheidung entzog sich der Senat jedoch, indem er befand, dass der vormalige Inspektor sich durch sein Verhalten als Kirchenbeamter hinreichend schwerer Pflichtverletzungen – etwa mangelnder "Kameradschaftlichkeit" – schuldig gemacht habe, sodass eine nationalsozialistische Gesinnung dabei hintangestellt bleibe, eine Entlassung aus dem Dienst auch aus 'objektiven' Gründen in Frage gekommen wäre.
Leider sind die Fälle rar, in denen die Verstrickungen und die Identifikation der evangelischen Kirche mit dem NS-Staat sichtbar wurden. Der Blick ins Gesetzblatt erklärt immerhin manches, etwa ihr nationalsozialistisch geprägtes Disziplinarrecht. Bereinigt, etwa um die Wertschätzung der NSDAP-Mitgliedschaft, wurde es mit Regelung vom 2. Mai 1946.
Evangelische Kirche und das NS-Regime: . In: Legal Tribune Online, 02.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44864 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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