Schon vor 50 Jahren brachte das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge u.a. die Entkolonialisierung der Welt zu einem vorläufigen Ende. Wie bedeutsam das war, zeigt eine recht frische Dissertation.
Manchmal fällt es mit Blick auf die Schwerpunkte, die akademisch gebildete Menschen in ihrem Leben setzten, schon etwas schwer, die Fassung zu behalten: Vor drei Jahren sah sich, ein erster Fall von vielen, Tilda Swinton publizistischen Scherereien ausgesetzt. Weil sie in der Verfilmung des Marvel-Comics "Doctor Strange" die Rolle einer magisch begabten asiatischen Kampfkunst-Oberhexe übernommen hatte, wurde der schottischen Schauspielerin der Vorwurf gemacht, sich an einem "Whitewashing" beteiligt zu haben.
Vertreter der Postcolonial Studies kreideten den "Strange"-Produzenten an, die Rolle der märchenhaften Oberhexe keiner optisch passenderen Person of Color (PoC) zugeteilt zu haben. "Weiße" Darsteller nähmen "farbigen" Kollegen die Engagements weg, der Westen plündere nach wie vor in postkolonialer Art Kulturgüter des globalen Südens.
Die Klage, dass PoC im westlichen Medienbetrieb nicht hinreichend sichtbar sind, ist zwar schwer zu bestreiten. Regelrecht sprachlos macht es jedoch, wie anonym der indische Jurist Ram Prakash Anand (1933–2011) die Welt verlassen hat: Anand war, wie die 2018 publizierte Tübinger Dissertation "Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht" von Anna Krueger belegt, eine der wichtigsten Stimmen in der durchgreifenden rechtlichen Neuordnung der Staaten im 20. Jahrhundert.
Während die Anhängerschaft des Postcolonial-Ansatzes Zeit findet, dumme Märchenfilme wegen der Hautfarbe der Darsteller anzugreifen, sieht sie keinen Anlass, einen ihrer Vordenker und juristischen Gestalter des postkolonialen Zeitalters mit einen deutsch- oder englischsprachigen Wikipedia-Eintrag der Allgemeinheit bekannt zu machen. Immerhin: Diese Umbruchphase ist allgemein zu wenig präsent.
Postkolonialismus – eine ernste juristische Angelegenheit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren das Vereinigte Königreich, Frankreich, Belgien und die Niederlande bekanntlich nicht mehr in der Lage, ihren Herrschaftsanspruch über Asien und Afrika mit hinreichender Gewalt durchzusetzen.
Das Ende ihrer Imperien wurde keinesfalls als selbstverständlich gesehen. Dies zeigte sich nicht nur in brutalen Versuchen, die Vorkriegsordnung wiederherzustellen. Allein dem niederländischen Staat fielen beispielsweise zwischen 1945 und 1949 in Indonesien rund 160.000 Menschen zum Opfer.
Auch in juristischen Dokumenten dieser Zeit finden sich unverhoffte Spuren des formal ungebrochenen imperialen Anspruchs. Art. 6 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 stellte beispielsweise fest, dass die von Frankreich 1848 annektierten Teile Algeriens vom neuen nordatlantischen Bündnis geschützt werden. Großbritannien erklärte 1953 sogar verbindlich, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) auch für seine Protektorate und Überseegebiete – von den Kanalinseln über Nigeria bis zum fernen Tonga – anwenden zu wollen. Imperialisten, die sich verabschieden wollen, sehen anders aus.
In ihrer Tübinger Studie zeichnet Krueger nun nach, mit welcher Argumentation die ersten Völkerrechtsgelehrten der nach staatlicher Unabhängigkeit strebenden Gesellschaften Afrikas und Asiens auf der Bühne des internationalen Rechts reüssierten.
Machtpolitische Anarchie oder stabilisierende Apologetik?
Es boten sich zum Auftritt auf der völkerrechtlichen Bühne zwei weitgehend gegensätzliche Zugänge an.
Einmal bestand die Möglichkeit, das Völkerrecht als potenziell freundliche Gegebenheit anzunehmen. Aus dieser "apologetischen" Position ließ sich die allgemeine strategische Richtung ableiten, die Staaten der Welt für "Gerechtigkeit, Gemeininteresse, Fortschritt oder Weltgemeinschaft" in Haftung zu nehmen. Die andere Möglichkeit ging dahin, die individuelle Autonomie der staatlichen Akteure zu betonen, also "Willen, Verhalten oder Interessen der Staaten" als Ausgangspunkt jeder völkerrechtlichen Argumentation zu wählen.
Wie Krueger in einer umfangreichen und spannenden Einführung zeigt, gaben über diese strategische Richtungsentscheidung hinaus – in der sich, wie wohl zu erwarten, die Regierungen der jungen Dritten Welt oft wechselhaft verhielten –, die rechtshistorischen Erzählungen der Völkerrechtsgelehrten aus Afrika und Indien wichtige Argumentationslinien vor.
Ram Prakash Anand, neben dem nigerianischen Juristen Taslim Olawale Elias (1914–1991) einer der führenden Köpfe dieser Generation, erklärte beispielsweise, ausgehend von der Beobachtung einer entsprechenden vorkolonialen Staatspraxis Chinas, Indiens, Ägyptens und Syriens, dass weite Teile der späteren Dritten Welt eine vorwestliche Vorstellung von Völkerrecht hatten, dieses also kein rein imperiales europäisches Konstrukt gewesen sei. Elias befand, dass auch die Völker Afrikas vor dem imperialen Landraub seitens der europäischen Staaten über ebenbürtige Rechtssysteme, mithin über eigene Völkerrechtssubjektivität verfügt hätten.
Rechtsgeschichtliche Erzählungen haben normatives Potenzial
Derartige völkerrechtliche Rahmenerzählungen hatten den Zweck, die Gleichheit der Staaten zu akzentuieren. Wenn die Zubilligung der Völkerrechtssubjektivität für eine real existierende Herrschaftsordnung in Asien oder Afrika nicht nur von den Merkmalen Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet abhing, sondern auch von der Anerkennung durch die europäischen Mächte, konnte sie aus weltanschaulichen Gründen verweigert werden. Anand erklärte, die europäischen Mächte hätten den afrikanischen und asiatischen Herrschaften die Völkerrechtssubjektivität zunächst abgesprochen, weil sie nicht christlich gewesen seien.
Als das Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Club christlicher Mächte durch die Beziehungen mit dem Osmanischen Reich, dann zu China und Japan durchbrochen wurde, habe man während des 19. Jahrhunderts auf das Konzept der "Zivilisation" zurückgegriffen, um die formale Gleichheit aller Staaten zu vermeiden. Unter der neuen Ordnung der Vereinten Nationen sei dieses nun vom Kriterium der Friedensliebe abgelöst worden.
Ein zentrales Argument der imperialen Landnahme, seit sich Spanier und Portugiesen, Engländer, Franzosen, Niederländer, Dänen und Schweden ab 1492 ganz Süd- und Nordamerika angeeignet hatten, lag in der Behauptung, "terra nullius" vor sich zu haben – herrschaftsfreies Land. Dass sich die Kolonialmächte dabei bewusst waren, mit einer normativen Fiktion zu operieren, liegt zwar nahe. Beispielsweise sicherten sich die Spanier Loyalität, indem sie die Nachkommen der mexikanischen Aztekenherrscher in ihren Adel eingliederten, heute vertreten durch Don Juan José Marcilla de Teruel-Moctezuma y Valcárcel (1958–). Allenthalben wurden in Afrika, Asien und Ozeanien der "terra nullius"-Idee zum Trotz Unterwerfungsverträge abverlangt – viele Umstände für ein Niemandsland.
Die Niemandslandfiktion westlicher Völkerrechtler musste also seit den 1950er Jahren von den neuen Kollegen aus dem globalen Süden aufs Korn genommen werden – mit durchaus praktischen Konsequenzen: Nach 450 Jahren portugiesischer Herrschaft besetzten beispielsweise indische Truppen am 18. Dezember 1961 die Kolonien Goa, Diu und Damão: War dies ein Verstoß gegen das Gewaltverbot nach Artikel 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen oder ein Akt, überholte Fremdherrschaft zu beseitigen? Verweigerte man der rechtshistorischen Erzählung von der "terra nullius" die Gefolgschaft, verschob sich das völkerrechtliche Urteil zugunsten Indiens.
Diskurs "AT" des internationalen Vertragsrechts
Im Detail zeichnet Anna Krueger den Richtungsstreit unter den neuen und bereits etablierten Völkerrechtsgelehrten des frischen postkolonialen Zeitalters aber in den Auseinandersetzungen um den "Allgemeinen Teil" des kodifizierten Völkerrechts nach, also zum Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜV), das nach langen Verhandlungen im Mai 1969 abgeschlossen wurde.
Sollten sich die neuen Staaten der Dritten Welt beispielsweise lästiger vertraglicher Bindungen durch einseitige Erklärung entledigen können, wie es die Sowjetunion 1917/1922 im Sinne ihres anarchistischen freien Willens getan hatte? Oder sollte die alteuropäische Gesamtrechtsnachfolge greifen? Konnte diese generell oder nur im begründeten Einzelfall als durchbrochen gelten? Unter afrikanischen Diplomaten populär war zeitweise die sogenannte Nyere-Doktrin, die den neuen Staaten zwei Jahre Bedenkfrist ab Unabhängigkeit einräumen wollte.
Die Art. 62 und 64 WÜV, die eine Lösung von Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen bei Wegfall der Geschäftsgrundlage in Betracht kommen lassen bzw. im Fall einer neuen zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts ("ius cogens") den bestehenden Vertrag nichtig machen, sind Ergebnisse dieses Grundsatzstreits.
Hoch verdichtetes juristisches Wissen
Anna Kruegers Dissertation bietet eine dichte Darstellung, in der juristische Axiome, rechtshistorische Erzählungen und die politischen Machtinteressen einer revolutionär umbrechenden Staatenwelt in ihrem Zusammenspiel verständlich werden. Prinzipiengeleitetes juristisches Denken, das in seiner politischen Machtdimenison erklärt wird, findet sich im Gewimmel examensrelevanter Stoffe bekanntlich allenfalls noch im Arbeitsrecht. Kruegers Dissertation öffnet darüber hinaus Zugang zur exotischen Wunderwelt weithin unbekannter Rechtsgelehrter.
Seit dem Amtsantritt von Donald Trump, über den der Komiker Trevor Noah spottete, er sei der erste wahrhaft afrikanische US-Präsident, werden die Karten von Anarchie und Völkerrechtsvertrauen zudem neu gemischt. Selten dürfte Rechtsgeschichte so aktuell sein.
Lesetipp: Anna Krueger, "Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Zeitalter" ist als eBook zum stolzen Preis von 69,99 zu erwerben. Studenten sollten sie aber in jeder gut sortierten digitalen Universitätsbibliothek finden.
Dissertation zum Völkerrecht: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36333 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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