Zum 17. Juni 1953: Der Auf­stand in der DDR

von Martin Rath

16.06.2013

Gefeiert wird die Wiedervereinigung am 3. Oktober, dem Tag, an dem 1990 der Einigungsvertrag unterzeichnet wurde – jenes Meisterwerk juristischer Ministerialverwaltungskunst. Man erinnert sich mutiger Menschen, die 1988/89 gegen die SED-Diktatur auf die Straße gingen und bietet in jährlich wechselnden Landeshauptstädten Kirmes fürs Volk. Der 17. Juni hatte da noch ganz andere Dimensionen, meint Martin Rath.

Zwischen einem Gesetz über die Rechtsstellung von Beamten im Bundestag und einer Änderung des Tabaksteuergesetzes findet sich im Bundesgesetzblatt des Jahres 1953 (BGBl. I, S. 773) das kurze "Gesetz über den Tag der deutschen Einheit" vom 8. August 1953, dessen Präambel deutlich länger ausfiel als der eigentliche Gesetzestext:

"Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden."

§ 2 des Gesetzes lautete: "Der 17. Juni ist gesetzlicher Feiertag." Damit zählte das Datum in der westdeutschen Lebenswelt – spätestens in den 1980er-Jahren – zu den zahlreichen arbeitsfreien Tagen, die der christliche Kirchenkalender den Arbeitnehmern alljährlich im Mai und im Juni beschert. Aber man feiert gerne den Erfolg – und so ist heute die friedliche Revolution des Jahres 1988/89 deutlich präsenter als der Aufstand des Jahres 1953.

"Volksaufstand"? – Steht so im Bundesgesetzblatt

Mit der Präambel im Bundesgesetzblatt kam der Gesetzgeber schon recht nah an die geschichtswissenschaftliche Bewertung der Ereignisse im Mai des Jahres 1953. Sie hatten Folgen auch in der Rechtsgeschichte der DDR: Bei der Aburteilung der Aufständischen durch die Gerichte der DDR-Justiz wurde ein zusätzliches Element zentraler Lenkung der Richterschaft etabliert, der SED-Staat bekam mit Hilde Benjamin eine neue Justizministerin, aber auch einer der mutigsten Schöffen der deutschen Rechtsgeschichte verdient es, erinnert zu werden.

Doch der Reihe nach.

Am 5. März 1953 starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Wer in Moskau im Kampf um die Nachfolge obsiegen sollte, blieb bis auf weiteres unklar. Der mächtige Geheimdienstchef Lawrenti Beria wurde beispielsweise erst Ende Juni 1953 verhaftet und im Dezember hingerichtet. In den Führungsgremien der Kommunistischen Partei machte man sich derweil auch Sorgen um die ökonomische Leistungsfähigkeit der deutschen Besatzungszone – die Enteignung von Mittelstand, Handwerk und Bauern, die stete Flucht nach West-Berlin und in die Bundesrepublik schmälerten den Wert der DDR als Quelle von Reparationsleistungen sowie als potenziellem Frontstaat gegen die Westmächte.

Zu allem Überfluss entdeckten im späten Frühjahr 1953 insbesondere die Arbeiter in der DDR das kollektive Arbeitsrecht sowie den Anspruch auf Versammlungsfreiheit wieder: In der Stadt Brandenburg legten beispielsweise schon am 12. Juni 1953 einzelne Belegschaften die Arbeit nieder und forderten in öffentlichen Versammlungen den Sturz der DDR-Regierung sowie freie Wahlen.

Neben der zunächst nur lokalen Bedeutung des Protests spielte in die Beurteilung des weiteren Geschehens als "Arbeiteraufstand" hinein, dass die von der stalinistischen DDR-Führung 1952/53 forcierte Wirtschaftspolitik massiven Unmut in der Arbeiterschaft bewirkte: Während von Staats wegen einseitig eine Reduzierung der Arbeitsentgelte bereits verordnet worden war, wurde nun noch die geforderte Leistung erhöht – was die Aussicht beseitigte, durch Mehrleistungsprämien auf "seinen Lohn zu kommen". Je nach Branche wird der Einkommensverlust, der dem "beschleunigten Aufbau des Sozialismus" dienen sollte, auf 25 bis 40 Prozent geschätzt, bei ohnehin desolater Versorgungslage bei Nahrungs- und Konsumgütern und – und dass die Förderung der Schwerindustrie den Mangel noch verschärfen würde, daran dürfte sich mancher noch von den Vierjahresplänen Hermann Görings erinnert haben.

Am Wochenende des 13./14. Juni 1953 unternahmen Arbeiter, die auf der Baustelle des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain eingesetzt waren, einen Betriebsausflug – am Montag, dem 15. Juni traten sie in den Streik – was an den weiteren Baustellen des zerstörten Berlins (Ost) registriert wurde.

Die Ereignisse des 17. Juni

Die Streiks und politischen Demonstrationen der nächsten Tage dürfen von Seiten des Volks wohl beanspruchen, in der Summe vergleichsweise zivilisiert geführt worden zu sein. Neben vertretbaren Arbeits- und Versorgungsbedingungen standen Forderungen nach dem Sturz der SED-Regierung, freien Wahlen sowie Freiheit für die politischen Gefangenen im Raum – eine vorsichtige Schätzung spricht von rund 30.000 politischen Gefangenen im Frühjahr 1953, die barbarischen Strafen der DDR-Justiz für einfache Meinungs- oder harmlose Schwarzmarkt-Delikte waren allerorts präsent.

Am 17. Juni wurden die symbolischen Orte der SED-Herrschaft, Partei- und "Gewerkschafts"-Büros gestürmt. Zur symbolischen Ordnung zählt das Bild von der roten Fahne, die vom Brandenburger Tor geholt wurde. Soweit die Demonstranten ihrer habhaft wurden, befreiten sie Gefangene – was in einem Fall noch zu einer grauenhaften Justiz-Travestie führen sollte.

Es ist nur ein Fall von Lynchjustiz bekannt: In Rathenow fällt ein Wilhelm Hagedorn kollektiver Gewalt zum Opfer – er ist als Werkschutzleiter der HO-Geschäfte und, dank einer Sendung des „Rundfunks im Amerikanischen Sektor“ (RIAS), als Vertreter der politischen Polizei des Besatzungs- bzw. SED-Regimes bekannt.

Beinahe komisch, jedenfalls eher friedlich fällt ein Vertreter des Regimes zunächst den Berlinern, dann dem RIAS in die Hände: Otto Nuschke (1883-1957), Vorsitzender der DDR-CDU und stellvertretender Ministerpräsident will sich, im Auto sitzend, persönlich ein Bild von der Lage machen: "Ich wurde geraubt", sagte er dem RIAS-Reporter, in den Westen "verschleppt".

Nuschke gibt gegenüber dem westlichen Reporter an, dass die inzwischen zurückgenommenen Leistungsforderungen gegenüber den Arbeitern schlecht – heute würde man sagen – kommuniziert wurden. Tatsächlich sind die Proteste des 17. Juni 1953 wohl auch dem Unvermögen der Herrschenden geschuldet, eigene Fehler anders als in verschachteltem Nominalstil zu formulieren. Daraus mag man aus dem empörten und daher schlichten O-Ton des CDU-Funktionärs vielleicht noch heute lernen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Zum 17. Juni 1953: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8935 (abgerufen am: 16.11.2024 )

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