Mit einstweiliger Anordnung vom 27. Mai 1958 verhinderte das Bundesverfassungsgericht, dass in Hamburg eine Volksbefragung zur atomaren Aufrüstung durchgeführt wird. Die repräsentative Demokratie verteidigte es damit freilich noch nicht.
Es mutet unhöflich an, Wilhelm Hoegner (1887–1980), den tapferen zweifachen Ministerpräsidenten Bayerns (SPD) und Co-Verfassungsvater des Freistaats, in die Nähe des ungarischen Anti-Soros-Demagogen Viktor Orbán (1963–) zu rücken.
Erst recht dürfte kaum eine hamburgische Nase ungerümpft bleiben, wollte man bei Hoegners Genossen Max Brauer (1887–1973), dem hoch angesehenen Ersten Bürgermeister Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg, eine politische Familienähnlichkeit mit dem doch etwas unfeinen Brexit-Aktivisten Nigel Farrage (1964–) entdecken.
Im Frühjahr 1958 war jedoch die deutsche Sozialdemokratie auf den Gedanken verfallen, ihrer relativen bundespolitischen Bedeutungslosigkeit durch eine populistische Strategie beizukommen, die sich eines heute beliebten politischen Mittels bedienen wollte: Einer zwar gesetzlich geregelten, rechtlich aber unverbindlichen Volksbefragung.
Der SPD ging es damals darum, die von der parlamentarischen Mehrheit befürwortete, im Volk aber stark unpopuläre atomare Bewaffnung der Bundesrepublik zur nicht bindenden Abstimmung zu stellen.
Streit um Atomwaffe für Bundeswehr
Gemessen an den sachlich wenig robusten Fragen, die heute die Gemüter erhitzen, war dies eine Angelegenheit von höchstem strategischen Format.
Seit Mitte der 1950er Jahre waren Atomwaffen in mehr als einer Hinsicht zum Streitpunkt zwischen der CDU/CSU und der SPD – bei eher opportunistischer Einstellung der FDP – geworden.
Während öffentliche Proteste gegen die in Westdeutschland untergebrachten Atomwaffenbestände des amerikanischen Heeres und der US-Luftwaffe allenfalls zaghaft ausfielen und erst in den 1980er Jahren zur Massenbewegung wurden, trieben die Bundesregierung unter Konrad Adenauer (1876–1967) seit 1956 Pläne um, die soeben neu aufzubauenden Streitkräfte des Bundes auch mit Atomwaffen auszurüsten. Hier war also keine Opposition gegen die transatlantische Schutzmacht vonnöten.
Nachdem die Sowjetunion 1957 mit dem Sputnik bewiesen hatte, dass sie künftig die USA mit Interkontinentalraketen direkt atomar angreifen konnte, war zu vermuten, dass die amerikanischen Verbündeten keinen atomaren Gegenschlag würden führen wollen, sollte der Ostblock – unter Verschonung des US-Mutterlandes – allein Westeuropa angreifen.
Die atomare Aufrüstung des Vereinigten Königreichs und der französischen Republik beruhte auf diesem Kalkül. Dem betagten und von einer finsteren Weltsicht geplagten Kanzler Adenauer lag nun ebenso an einem westdeutschen Zugriff auf Nuklearwaffen wie seinem forschen jungen Atom-, dann Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (1915–1988).
Ausgestattet mit einer absoluten CDU/CSU-Mehrheit beschloss der Bundestag am 25. März 1958, die Bundeswehr möglichst ab dem Jahr 1959 atomar zu bewaffnen.
Hingegen lehnte die Unionsmehrheit in der übernächsten Sitzung des Bundestags vom 18. April 1958 einen von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf ab, nach dem binnen drei Monaten eine bundesweite Volksbefragung hätte durchgeführt werden müssen zu den Fragen: "1. Sind Sie einverstanden, daß deutsche Streitkräfte mit atomaren Sprengkörpern ausgerüstet werden? 2. Sind Sie einverstanden, daß in Deutschland Abschußeinrichtungen für atomare Sprengkörper angelegt werden?"
Urteil vom 27. Mai 1958
In Anbetracht ihrer Abstimmungsniederlagen sah die sozialdemokratische Führung eine Chance, auf Landesebene gegen die in der Bevölkerung recht unpopuläre Entscheidung zu mobilisieren.
In einigen Ländern gestaltete sich dies auch unter SPD-Führung schwierig. Beispielsweise bildete die SPD in Hessen zwischen 1954 und 1966 eine Koalitionsregierung mit dem rechtskonservativen, NS-belasteten "Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten". Hier wurde gespottet, man müsse die Stimmen der als korrupt verschrienen Rechtskonservativen erst noch kaufen.
Die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg beschloss dagegen alsbald ein "Gesetz betreffend die Volksbefragung über Atomwaffen", das am 9. Mai 1958 verkündet und auf dessen Grundlage das hamburgische Volk für den 8. Juni 1958 an die Urnen gerufen werden sollte. Die Fragen lauteten nunmehr:
"1. Sind Sie für eine Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen? 2. Sind Sie für eine Lagerung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik? 3. Sind Sie für die Errichtung von Abschußbasen für Atomraketen im Gebiet der Bundesrepublik?"
Das Land Bremen zog mit einem ähnlichen Gesetz nach, das noch einmal ausdrücklich nach Abschussbasen auf bremischem Boden fragte, um eine besondere Landeskompetenz für die Volksbefragung zu unterstreichen.
Auf Antrag der Bundesregierung setzte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 27. Mai 1958 (Az. 2 BvQ 1/58) im Wege der einstweiligen Anordnung die in Hamburg bereits anberaumte Volksbefragung bis zur Entscheidung in der Hauptsache aus.
Demokratie zum Nachteil der Republik
Ihren Antrag begründete die Bundesregierung damit, dass diese Befragung eines Landesvolks "als eine Art Plebiszit über Bundesangelegenheiten" zu verstehen sei, das die "ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes über Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten verletze". Die Hamburger Volksbefragung breche zudem mit der repräsentativen Demokratie, wie sie das Grundgesetz für den Bund vorsehe, und nehme in ihren politischen Auswirkungen, sollte sie ungehindert durchgeführt werden, die Entscheidung des Gerichts faktisch vorweg.
Gegenüber dem Gericht wandte die die Freie und Hansestadt Hamburg dagegen unter anderem ein, dass hier für eine einstweilige Anordnung durch die Karlsruher Richter kein Platz sei, da die Bundesregierung den näherliegenden Weg über den Bundeszwang nach Artikel 37 Grundgesetz (GG) zur Verfügung habe.
Diesen Einwand erledigte das Bundesverfassungsgericht, indem es der Bundesregierung ein gerichtlich nicht überprüfbares Ermessen zubilligte, ob sie zur Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung verfassungsgerichtlich oder mittels Bundeszwang vorgehen wolle.
Beim zweiten Einwand aus Hamburg, das Gesetz zur Volksbefragung sehe ausdrücklich vor, dass das Votum rechtlich unverbindlich bleibe, hatten sich die SPD-Strategen bereits öffentlich selbst widersprochen: Hatte Hoegner, der prominente Anführer der bayerischen Sozialdemokratie, noch erklärt, dass die Volksbefragung nur eine besondere Ausdrucksform der allgemeinen Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 1 GG sei, war sein hamburgischer Genosse, der Erste Bürgermeister Max Brauer schon mit den Worten vorgeprescht, die Volksbefragung könne einen sozialdemokratischen Erdrutsch gegen die unbeliebte atomare Aufrüstung der Bundesrepublik auslösen – entfalte also zwar keine rechtliche, aber doch erhebliche politische Verbindlichkeit.
Ein bisschen putzig wirkt, dass die Karlsruher Richter ihre einstweilige Anordnung auch damit begründeten, dass die Verwirrung des hamburgischen Volks, an einer Volksbefragung teilgenommen zu haben, die im späteren Hauptsacheverfahren womöglich für unzulässig erklärt wird, unverträglich sei "mit dem Ansehen des Bundesverfassungsgerichts" und seiner Macht, zum Schutz der Verfassung einzugreifen.
Ungeliebte konsultative Demokratie
Das Urteil vom 27. Mai 1958 sprach damit bereits einige Punkte an, die in der Hauptsacheentscheidung, dem Urteil vom 30. Juli 1958, dogmatisch vertieft und nun auch mit Blick auf die zwischenzeitliche Anti-Atom-Gesetzgebung in Bremen erörtert wurden (Az. 2 BvF 6/58).
Der populistische Traum von Volksbefragungen, die formal einerseits rechtlich unverbindlich sein sollen, deren Votum die gewählten Volksvertreter aber nach erfolgtem "Wahlkampf" zur Entscheidungsfrage nur um den Preis widersprechen könnten, nicht dem "wahren Willen des Volkes" gehorchen zu wollen, war damit in Deutschland vorläufig ausgeträumt.
1983 sollte die "Grünen"-Bundestagsfraktion nochmals einen Gesetzentwurf über eine konsultative Volksbefragung in Sachen atomarer Rüstung einbringen. Dieser Entwurf ging freilich auf dem Beratungsweg verloren.
Die CSU-Mehrheit im Bayerischen Landtag beschloss wiederum am 11. Februar 2015 folgende Wahlrechtsergänzung: "Über Vorhaben des Staates mit landesweiter Bedeutung wird eine Volksbefragung durchgeführt, wenn Landtag und Staatsregierung dies übereinstimmend beschließen" (Artikel 88a Abs. 1 Satz 1 Landeswahlgesetz).
Diese Norm erklärte der Bayerische Verfassungsgerichtshof u.a. mit dem Argument für nichtig, derartige Befragungen seien geeignet, die Institutionen der repräsentativen Demokratie systematisch unter Zugzwang zu setzen, den vermeintlich "wahren Willen" des Volkes zu ermitteln (BayVerfG, Entsch. v. 21.11.2016, Az. Vf. 15-VIII-14 u. -15).
Lerneffekte aus eigener Geschichte
Bedauerlich ist, dass die Entscheidungen vom 27. Mai und 30. Juli 1958 nichts sind, was man in aktuellen Diskussionen zu sogenannten Demokratiedefiziten ohne nähere Erklärung als Beispiele dafür anführen kann, warum unsere Republik auf der Hut ist, wenn einmal wieder gefordert wird, den "wahren Volkswillen" über formal oder faktisch verbindliche Plebiszite zu ermitteln.
Zählten solche Kenntnisse über die Konflikte in unserer Verfassungsgeschichte zum populären kulturellen Wissen, nicht nur von Juristen, uns blieben wohl viele onkelhafte "Werte"-Streitigkeiten erspart – und über etwaige Mängel der repräsentativ-demokratischen Willensbildung ließe sich dann auch diskutieren, ohne Nigel Farrage oder Viktor Orbán bemühen zu müssen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, BVerfG zum Atom-Plebiszit 1958: . In: Legal Tribune Online, 27.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28807 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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