Zwischen 1871 und 1940 bestand in Deutschland ein heute kaum noch bekanntes Gericht: das Bundesamt für Heimatwesen. Ein Blick auf seine Arbeit könnte dabei helfen, aus der heute surreal verkitschten "Heimat"-Diskussion herauszufinden.
Seit sich Horst Seehofer (CSU) im März des Jahres 2018 neben den Titeln seiner handfesten Ministerial-Sprengel "Inneres" und "Bau" auch noch die "Heimat" aufs Briefpapier setzen ließ, steht die Frage im Raum, welchen Sinn die zusätzliche Vokabel haben soll.
Möchten die einen unter "Heimat" nur ihre regionale Wohlfühloase verstehen, in der Friesentee-Trinker nicht der Geschmacklosigkeit geziehen oder Liebhaber folkloristischer Lederhosen nicht ausgelacht werden, sahen andere primär das Bedürfnis, sich in "Debattencamps" zu sperren, um schon einmal vorsorglich die Hände über einer semantischen Exklusion der nun vermeintlich Heimatfremden zu ringen.
Aus diesem etwas surrealen Wortspielbetrieb bietet womöglich die historische Gesetzgebung und Rechtsprechung einen Ausweg. Nähern wir uns der „Heimat“ im deutschen Recht mit einem historischen Fall:
Der mit 17 Groschen am Tag außergewöhnlich schlecht bezahlte Arbeiter R. steht, wohl irgendwann im Jahr 1872 kurz davor, seine Wohnung zu verlieren, da es ihm nicht gelingt, den rückständigen Mietzins aufzubringen. Mit ihm drohen seine vier unmündigen Kinder sowie seine alte Mutter obdachlos zu werden. In seiner Not springt ihm der Orts-Armenverband der Gemeinde Hörde bei, heute ein Stadtteil von Dortmund.
Die Erstattung der hierzu aufgewendeten fünf Taler verlangte nun der Orts-Armenverband Hörde vom Orts-Armenverband Hamm ein – einer rund 30 Kilometer entfernt gelegenen Ruhrgebietsstadt, wo der Arbeiter R. nach den Ermittlungen der Hörder Behörde seinen "Unterstützungswohnsitz" hatte.
Bundesamt für das Heimatwesen: ein unbekanntes Gericht
Beim Bundesamt für das Heimatwesen handelte es sich um ein Verwaltungsgericht, das auf der Grundlage des "Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz" vom 6. Juni 1870 geschaffen worden war und als Berufungsinstanz über Verwaltungsstreitigkeiten zwischen den Armenverbänden zu entscheiden hatte, jeweils Körperschaften des öffentlichen Rechts. Auf lokaler Ebene übernahmen die Orts-Armenverbände Fürsorgeleistungen wie im Fall des Hörder Arbeiters R. Soweit nicht die Verantwortung eines Orts-Armenverbandes in Betracht kam, fielen die "Hülfsbedürftigen" in die Zuständigkeit der überörtlichen Landes-Armenverbände.
Eine generelle Ausnahme bildete das Königreich Bayern, das sich erst 45 Jahre später, 1916, dem "Gesetz über den Unterstützungswohnsitz" anschloss – bis dahin galten Bayern in Deutschland daher fürsorgerechtlich als Ausländer.
Obwohl das Bundesamt für das Heimatwesen nach dem Baumuster des Bundes-Oberhandelsgerichts, das später auch dem Reichsgericht Pate stehen sollte, als ordentlicher Spruchkörper eingerichtet wurde und in den knapp 70 Jahren seines Bestehens eine Sammlung von nicht weniger als 96 Bänden didaktisch extrem kurzer Urteile produzierte, ist es heute kaum noch bekannt – vermutlich, weil die "Kundschaft" des Gerichts ausschließlich aus dem Armenverbänden bestand.
Den "Hülfsbedürftigen" selbst blieb zur Frage, ob und in welchem Umfang ihnen Fürsorgeleistungen zustanden, allenfalls eine Beschwerde zur kommunalen Aufsichtsbehörde – nicht aber der Rechtsweg. Dahin sollte der Rechtstaat erst mit dem Grundgesetz (1949), der Sozialstaat mit dem Bundessozialhilfegesetz (1961) reifen.
Rechtseinheit in Fürsorgefragen für Deutschland (ohne Bayern)
Auszulegen hatte das Bundesamt für das Heimatwesen im Wesentlichen landesrechtliche Fürsorgevorschriften, z. B. nach dem preußischen "Gesetz betreffend die Ausführung des Bundesgesetzes über den Unterstützungswohnsitz" vom 3. März 1871. Sein § 1 Abs. 1 und 2 war etwa im Fall des Hörder Arbeiters einschlägig:
Früh war hierzu bereits anerkannt, dass die Armenverbände nicht abwarten müssten, bis Obdachlosigkeit eingetreten und dann erst neues Obdach zu beschaffen wäre – so hatte aber beispielsweise im Streit zwischen den Orts-Armenverbänden Hörde und Hamm noch die um Kostenerstattung angegangene Körperschaft gegenüber der Eingangsinstanz, der "Deputation für das Heimathwesen" in Münster, argumentiert –, sondern auch Zahlungen zur Abwendung der "Exmission" (Zwangsräumung) zur Abwendung der Not vom Gesetz gedeckt seien.
Heimatrechtlicher "Unterstützungswohnsitz" als Klageflutanlass
Von der Frage, ob die Bestattungskosten für einen zum Todeszeitpunkt noch nicht hinreichend verarmten Mann vom Orts-Armenverband zu bezahlen waren – das Gericht bejahte dies mit einer Frühform des postmortalen Persönlichkeitsrechts –, bis hin zur Frage, ob die Desinfektion der Kleidung eines auf Fürsorgebasis im Krankenhaus behandelten "Hülfsbedürftigen" auf Kosten eines anderen als des zunächst einspringenden Orts-Armenverbands desinfiziert werden durfte, obwohl es dafür im preußischen Tarif-System keine Kostenstelle gab: Wenn das Bundesamt für das Heimatwesen – unbeschadet des Umstands, dass die "Hülfsbedürftigen" selbst ihre Ansprüche gar nicht vor Gericht vertreten durften – eine überaus reiche Spruchpraxis vorlegte, hatte dies mit dem Heimatrecht zu tun.
Denn unmittelbar verantwortlich für die Hilfeleistung war zwar regelmäßig der Orts-Armenverband, in dessen Bezirk der "Hülfsbedürftige" in Not geraten war. Seinen sogenannten "Unterstützungswohnsitz" musste er sich aber – sofern nicht durch Verehelichung oder Verwandtschaft vermittelt – zunächst durch einen mindestens zweijährigen Aufenthalt im Bezirk des Orts-Armenverbandes erworben haben. Fehlte es am zweijährigen Aufenthalt, sprang regelmäßig der übergeordnete räumlich zuständige Landes-Armenverband ein, suchte dann aber natürlich nach einem Orts-Armenverband, in dessen Sprengel sich der "Hülfsbedürftige" bereits seinen Unterstützungswohnsitz ersessen hatte.
Neben solchen kompetenziellen Streitigkeiten hatte das Bundesamt, wie gesagt, über die sachliche Berechtigung des jeweiligen Hilfeumfangs zu richten. Die Orts-Armenverbände handelten zwar mit paternalistischer Arroganz gegenüber den armen Leuten, doch weitgehend in Anschauung der konkreten Notlage und dessen, was zur Abhilfe geboten erschien – der Kostenträger in 35 Kilometern Entfernung mochte die Sache dann freilich wieder ganz anders sehen.
Unterstützungswohnsitz war Teil des älteren Heimatrechts
So kurios dies mit Blick auf die egalitären Leistungen im modernen Sozialstaat anmutet, lag in diesem System kein eben kleiner Fortschritt. Das moderne Deutschland (unter Ausklammerung Bayerns und des frisch annektierten Elsass-Lothringen) machte mit dem Recht auf Freizügigkeit ernst.
Denn bisher limitierte das Heimatrecht die Freizügigkeit der Deutschen weitaus mehr. Wer es vor Ort nicht durch Abstammung, Entrichtung von Steuern oder eben den Aufenthalt von einiger Dauer erworben hatte, durfte je nach Landesrecht vielfach bis 1867/68 nicht zuziehen, kein Grundstück erwerben, kein Gewerbe ausüben, dem blieb oft sogar die Heirat verwehrt. Mit Blick auf Ehe oder Gewerbe entfielen diese heimratrechtlichen Beschränkungen der Freizügigkeit durch Gesetze des Norddeutschen Bundes im Jahr 1868.
Das ebenfalls noch vom Bund, im Verlauf seiner Gründung dann ins neue Deutsche Reich mitgenommene Gesetz über den Unterstützungswohnsitz konservierte jedoch noch für die kommenden rund 50 Jahre das Heimatrechtprinzip für die in absolute Not geratenen, ärmeren Bevölkerungsteile.
Nicht nur, dass sich die – im preußischen Dreiklassenwahlrecht unter der Aufsicht der finanzstarken Gemeindemitglieder stehenden – Orts-Armenverbände um die Kostenträgerschaft stritten, unter gewissen Umständen wurde der "Hülfsbedürftige" auch weiterhin genötigt, von seinem aktuellen Lebensschwerpunkt in eine Armen-Unterkunft des Unterstützungswohnsitzes umzusiedeln bzw. durfte am Zuzugsort abgewehrt werden.
Dass der Unterstützungswohnort, dieser Rest des Heimatrechts, durch zweijährigen Aufenthalt ersessen wurde, hatte dabei im noch weitgehend bäuerlich geprägten Deutschland des späten 19. Jahrhunderts immerhin eine gewisse Logik: Im Zweifel hatte der zugezogene Mensch, bildlich gesprochen, mindestens einmal an Saat und Ernte mitwirken können: Es bestand die Vermutung, dass er sich in die dörfliche Wertschöpfungskette eingegliedert hatte.
Wenn heute z. B. über eine europäische Arbeitslosenversicherung als Ziel des gegenwärtigen Einheitsprozesses diskutiert wird, fehlt dem technokratisch geführten Diskurs eine aus den ökonomisch-sozialen Bedingungen unmittelbar anschaulich werdende, zugleich Rechte begründende wie limitierende Größenordnung, wie es der Zweijahres-Zeitraum des älteren deutschen "Heimatrechts" war.
Soweit das politisierende Feuilleton sich lieber mit ethnischen, religiösen oder kulturkreislerischen Grenzziehungen der "Heimat"-Zugehörigkeit befasst als mit deren sozioökonomischen Voraussetzungen, fällt es hinter den intellektuellen Stand deutscher Rechtsdiskurse des 19. Jahrhunderts zurück.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Sozialstaat: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32617 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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