In den 1990-er Jahren hatten Gerichte ein Problem mit der Bürgschaft. Sie lösten es, aber bloß auf juristische Art. Dabei hätten sie ein überkommenes Rechtsinstitut entstauben können. Und es lagen so gute Ideen auf dem Tisch, meint Martin Rath.
Mit Urteil vom 5. Januar 1995 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in der Sache einer geschiedenen Ehefrau, die zur Sicherung des Kredits ihres Gatten gegenüber der Bank die Bürgschaft übernommen hatte. Nach der Scheidung der Ehe und der Hinfälligkeit seines Gewerbebetriebs, den die Bank finanzierte, wollte sie nicht zur Gänze aus einer Bürgschaft in Anspruch genommen werden, deren Höhe nie ihrer eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprochen hatte (Az. IX ZR 85/94).
Verkürzt gesagt stellte der BGH erstens fest, dass Banken in Fällen derartiger Ehegattenbürgschaften ganz oder teilweise daran gehindert seien, den Bürgschaftsanspruch geltend zu machen, wenn die Bürgschaft mangels eigenen Vermögens oder Einkommens des bürgenden Gatten allein hatte verhindern sollen, dass die Eheleute durch Vermögensverschiebungen innerhalb ihrer Beziehung das Sicherheitsbedürfnis der Bank unterlaufen würden.
Zweitens sei der bürgende Ehepartner aber nicht allein deshalb aus der Haftung zu entlassen, weil die Bürde der Bürgschaft im Verhältnis zum eigenen Leistungsvermögen lächerlich hoch oder die Bürgin – meist ging es ja um die (Ex-)Gattinnen von Geschäftsmännern – zu unerfahren in Geschäftsdingen gewesen sei.
Viel Unruhe
Keine zwei Jahre vor diesem Urteil des BGH hatte das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 19. Oktober 1993 (1 BvR 567, 1044/89) vor allem die deutsche Kreditwirtschaft und den ihr wohlgesonnenen Teil der Rechtswissenschaft in helle Aufregung versetzt, indem es die Zivilgerichte verpflichtete, den Inhalt von Verträgen zu kontrollieren, durch die einer der Vertragspartner "ungewöhnlich stark" belastet und wenn der Vertrag "das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke" war.
Mit ihrem Beschluss hatten die Verfassungsrichter insbesondere ein Urteil ihrer BGH-Kollegen kassiert, das einer womöglich wenig geschäftserfahrenen und kaum hinreichend zahlungskräftigen Bürgin die Haftung nicht hatte von den Schultern nehmen wollen (BGH, Urt. v. 16.03.1989, Az. IX ZR 171/88).
Das Verfassungsgericht erntete dafür eine Frühform des "shit storms" – damals rümpfte der deutsche Professor lieber vornehm die Nase als öffentlich loszutoben. Den Richtern wurde nun aber eine "Legasthenie" vorgeworfen. Schief geratene vertragsrechtliche Beziehungen am Maßstab der Grundrechte zu prüfen, sei hier ein "methodologischer Staatsstreich" und löse eine "Spirale der Infantilisierung" aus.
Zwar hatten die Verfassungsrichter die Inhaltskontrolle nicht neu erfunden. Im Arbeitsrecht oder für Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) gehörte sie schon lange zum Tagesgeschäft. Seit 1949 waren dabei die Grundrechte, was sonst, zu einem wichtigen Maßstab geworden. Während aber im Fall des AGB- oder des Arbeitsrechts Vertragswerke von der richterlichen Inhaltskontrolle betroffen waren, in denen ein eigenwilliges Aushandeln der Vertragsinhalte regelmäßig gar nicht erfolgt, betraf es nun mit den Bürgschaften ein altehrwürdiges Rechtsinstitut, für das die herrliche alte Vertragsfreiheit noch gelten mochte.
Es nun an Grundrechtsmaßstäben prüfen zu sollen, provozierte die Gelehrten gleich doppelt zum "shit storm" avant la lettre: Erstens, weil hier ein neuer paternalistischer Eingriff der Gerichte in die privatautonome Entscheidung von Bürgen, Begünstigten und Hauptschuldnern befürchtet wurde.
Zweitens, weil die Verfassungsrichter ausgerechnet den Schutz der Privatautonomie des intellektuell und/oder wirtschaftlich überforderten Bürgen zum verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab erhoben. Denn würgte die Bürgschaft dem Bürgen die Bewegungsfreiheit allzu sehr ab, so das Verfassungsgericht, war es um seine Privatautonomie geschehen. Bürgen daran zu hindern, sich durch die Übernahme der Bürgschaft selbst diese Freiheit abzuwürgen, so die Kritiker des Gerichts, schränke deren Privatautonomie aber auch ein.
Aber keine Generalrevision eines alten Rechtsinstituts
Zur Schärfe der Auseinandersetzung trug bei, dass nach dem Beschluss des Verfassungsgerichts die Instanzgerichte mit vielen Fällen von Bürgen konfrontiert wurden, die von Banken belastet worden waren, obwohl sie sich – in den vagen Worten der Verfassungsrichter – nach "strukturell ungleichen" Vertragsverhandlungen auf eine "ungewöhnlich starke" Weise aus der Bürgschaft in Anspruch genommen sahen. Es klagten nun Kinder, die für ihre Eltern gebürgt hatten, ebenso wie Eltern, die ihren insolventen Kindern entkommen wollten. Die einstige Unreife, mit der gebürgt worden war, wurde gesucht, wo intellektuelle Leistungsdefizite üblicherweise zu finden sind, z.B. in der Verliebtheit oder dem noch jugendlichen Alter selbst des erwachsenen Bürgen.
Dass es sich bei der Bürgschaft um ein altes, möglicherweise archaisches Rechtsinstitut handelte, dessen Sinn sich weitgehend überholt haben könnte, wurde kaum diskutiert – obwohl es doch zu einer Zeit ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) gekommen war, als ostelbische Großgrundbesitzer oder hanseatische Kaufleute ihre Duellpistolen noch aus zwei Gründen in der Schublade hatten: Um in guten Zeiten ihren Status als Ehrenmann zu behaupten und um im Bankrottfall ihrem Leben ein Ende zu setzen. In begüterten Familien durch Bürgschaften und Wechsel mehr oder weniger dichte Haftungsnetzwerke zu weben, war im Jahr 1900 – in Zeiten vor Schufa und solventen Bankbetrieben – noch sinnvoll gewesen.
1995 war es eigentlich an der Zeit, den Sinn von Bürgschaften grundsätzlich zu bezweifeln, doch wurde das kaum jemals in hinreichender Schärfe getan.
Gewisse Bürgschaften generell verbieten, statt Asymmetrie-Dogmatik zu entwickeln
Eine sehr gewitzte Ausnahme vom Unvermögen, die vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfene Bürgschaftsproblematik zu Ende zu denken, machte der Frankfurter Rechtswissenschaftler Gunter Teubner (1944–), der eine ungewöhnliche Perspektive einnahm.
Teubner erkannte zwar an, dass "ruinöse Familienbürgschaften kein Problem gestörter Vertragsparität" seien. Sein Argument kleidete er in die Frage: "Wie wäre zu entscheiden, wenn der Kreditgeber nicht ein wirtschaftlich und intellektuell dominantes Kreditinstitut, sondern ein mittelständischer Unternehmer wäre, der für seinen Kredit eine Bürgschaft verlangte?"
Eine "strukturelle" Überlegenheit des Kreditgebers sei dann nicht gegeben. Dass sich Bürginnen und Bürgen womöglich zu viel an fremden Kreditrisiken aufbürdeten, sei kein Argument, sie primär durch richterliche Kontrolle des Bürgschaftsvertrags zu schützen. Vor dem vollständigen Abwürgen der wirtschaftlichen Grundlage ihrer künftigen privatautonomen Spielräume bewahre sie das Zwangsvollstreckungsrecht mit seinem begrenzten Zugriff aufs verbleibende Einkommen und Vermögen.
Nicht indem sie die Privatautonomie von Bürgen überforderten, böten ruinöse Familienbürgschaften eine Angriffsfläche für Gerichte bzw. den Gesetzgeber, sondern weil sie die Spielregeln, unter denen Familien ihre Beziehungen organisierten, durch ökonomische Versuchungen beschädigten.
Unverträgliche Handlungslogiken in Familie und Wirtschaft
Teubner sprach hier von "unverträglichen Handlungslogiken" des sozialen Systems der Familie einerseits, des Systems der Wirtschaft andererseits.
Eine in den Bürgschaftsfällen einschlägige Handlungslogik in Familien besage etwa: Ein Freund oder Familienangehöriger, der in Geldsorgen ist, weiß, ab wann er die Hilfe, die ihm aus der Liebe des Familien- oder Freundeskreises angeboten wird, nicht aktiviert. Das wird meist gar nicht erst ausgehandelt. Dort, wo Menschen durch Liebe zusammenfinden, ist dieses Wissen unausgesprochen vorhanden.
Die Handlungslogik des sozialen Teilsystems Wirtschaft sagt hingegen: Wer Kredit sucht, soll jede Möglichkeit nutzen, sich zur Tilgung oder Absicherung Geldmittel zu verschaffen. Hier ist es im Grunde gleichgültig, ob die Mittelbeschaffung legal oder illegal ist, aus wirtschaftlicher Tätigkeit oder aus familiärer Solidarität resultiert.
Der Witz von Teubners Ansatz: Schon das diffuse Wissen, wann man die Angebote von Familienangehörigen, wirtschaftlich auszuhelfen, besser ausschlagen sollte, sei mit Blick auf Artikel 6 Abs. 1 GG als spezifisch familiale Kommunikationsform schützenswert.
Klar wird sein Argument durch den Vergleich mit anderen rechtlichen Arrangements: Indem beispielsweise § 52 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) für Familienangehörige ein Zeugnisverweigerungsrecht vorsieht oder § 41 Nrn. 1–3 Zivilprozessordnung (ZPO) den Richter daran hindert, in Angelegenheiten seiner Verwandtschaft zu entscheiden, werden nicht nur Straf- und Zivilverfahren vor möglicherweise befangenen Akteuren bewahrt – vielmehr wird auch die Familie vor interner Kommunikation geschützt, die ihren Zusammenhalt gefährdet.
Denn dank des zwingenden Ausschlusses von Richtern oder Beamten aus Sachen ihrer Verwandtschaft muss erst gar kein Abwägungsprozess zwischen den Objektivitätserwartungen an das Amt und den Liebes- oder Solidaritätserwartungen an den Richter oder Beamten beginnen. Das entlastet aber nicht nur den juristischen Prozess von Lügen, sondern auch das System der Familie.
BGH entscheidet, erweiterter Diskurs fällt aus
Mit seinem Urteil vom 5. Januar 1995 entlastete der BGH zwar die Bürgin erheblich. Die Last der subtilen Ökonomisierung von Familienverhältnissen, wie sie Teubner in seinem ziemlich gewitzten Aufsatz entdeckt hatte, blieb seither aber erhalten.
Es wäre schön, würden z. B. rechtspolitische Auseinandersetzungen mit dem Scharfsinn betrieben, der Teubners Untersuchung zur Bürgschaftsrechtsprechung der 1990-er Jahre zugrunde lag. Eine derart soziologisch aufgeklärte Diskussion würde viel öffentlichen Ärger abwenden.
Tipp: Gunther Teubner: Ein Fall von struktureller Korruption? In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 83 (2000), S. 388–404 [online].
Mehr als ein Bankrechtsproblem: . In: Legal Tribune Online, 05.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39501 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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