Aussagepsychologe Max Steller warnt vor Fehlurteilen: Wahr­heit, Wahn und Willkür

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller

17.10.2015

2/2: Psychotherapie kann Erinnerungen schaffen, statt sie zu finden

Besonders engagiert schreibt Steller gegen die immer wieder seine Gutachtenpraxis kreuzende Methode an, bei (mutmaßlichen) Opfern Erinnerungen an die Straftat mittels psychotherapeutischer "Aufdeckung" oder gar Hypnose zu erwecken. Denn die so emporgebrachten Gedanken können auch Schein- oder Zerrbilder des Erlebten sein, ohne dass das Opfer selbst ihre Unrichtigkeit erkennen könnte. Insbesondere hier zeigen sich die Grenzen der Beurteilung mittels Realkennzeichen, denn suggerierte oder vermeintlich wiedergefundene Erinnerungen können ähnlich detailreich sein wie echte. Da Zeugen unter ihrem Eindruck nicht bewusst lügen, sondern im Gegenteil von der Wahrheit ihres Vortrags überzeugt sind, ist ihnen mit den Methoden der Aussagepsychologie schwer beizukommen.

Stellers vorletztes Kapitel endet mit dem Satz: "Ich plädiere daher für eine Rückkehr zur Vernunft". Dieses "Plädoyer wider die Unvernunft" ist vor allem eines gegen den Einfluss von ideologisch geprägten Stimmungen im Strafprozess. Dem kann man gewiss nicht widersprechen: Zu allererst  – vor der Bestimmung, ob es überhaupt ein Opfer und einen Täter gibt – muss es um die möglichst objektive Wahrheitsfindung im einzelnen Fall gehen. Es folgen Reformvorschläge, die diesem Zweck dienen sollen. So fordert Steller, Filmaufnahmen wichtiger Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren sowie ein Wortprotokoll der gerichtlichen Hauptverhandlung anfertigen zu lassen, damit eine spätere Beurteilung der Aussagen sich auf diese selbst und nicht auf eine von Ermittlungsbeamten und Richtern womöglich absichtslos entstellte Fassung stützt.

Von der Sorge, als "Täterschützer" zu gelten

Hart geht Steller auch mit der jüngeren Gesetzgebung zum Opferschutz ins Gericht. Er sieht sie als "Schaufensterpolitik" mit nachteiligen Folgen: Sowohl die angestrebte Vermeidung mehrfacher Vernehmungen als auch die Ausdehnung der Verjährungsfristen schadeten der Wahrheitsfindung. Es bestehe auch die Gefahr, dass künftig mehr Vorwürfe weit zurückliegender Straftaten auf Basis von Scheinerinnerungen laut würden, welche der Betreffende infolge versuchter psychotherapeutischer Aufdeckung imaginiert. Eine Gesetzgebung, die auf der Annahme beruhe, sexueller Missbrauch werde regelmäßig  "vergessen" und erst viel später wieder erinnert, sei keineswegs vernünftig, denn, so zitiert er holländische Kollegen: "Missbrauch vergisst man nicht."

Steller antizipiert gegen Ende des Buches die Möglichkeit, als "Täterschützer" oder gar, entgegen der Ergebnisstatistik seiner Gutachten, als "Opfergegner" bezichtigt zu werden. Aber sein Plädoyer hält skeptischer Reflektion stand: Auch tatsächlichen Opfern schadet jeder Fall, in denen belastende Zeugenaussagen ohne kritische Prüfung zu irrtümlicher Untersuchungshaft, Anklage oder gar Verurteilung führen. Die von Steller geschilderten Justizkatastrophen aus den 1990er Jahre sind dafür ebenso mahnende Beispiele wie verschiedene Justizirrtümer der jüngeren Zeit. Auch wenn man, anders als der Rezensent, die rechtspolitischen Erwägungen Stellers nicht teilt, lohnt die Lektüre seines modernen und engagiert geschriebenen Sachbuchs schon um des seltenen Einblicks in die psychologische Gutachterpraxis willen.

Der Autor Prof. Dr. Henning Ernst Müller ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Universität Regensburg.

Das Buch "Nichts als die Wahrheit?: Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann" ist im Heyne Verlag, 2015 erschienen. ISBN: 978-3453200906

Zitiervorschlag

Aussagepsychologe Max Steller warnt vor Fehlurteilen: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17233 (abgerufen am: 13.11.2024 )

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