Am 24. Juni 1968 wies der BGH eine Schadensersatzklage von Eltern ab, die glaubten, ihre Tochter sei an einem Impfschaden gestorben. Der Kampf ums Impfrecht wurde damals schon über 150 Jahre geführt – mit erstaunlichen Déjà-vu-Effekten.
Vom medizinischen Standpunkt war es augenscheinlich ein aussichtsloser Fall: Mit Urteil vom 24. Juni 1968 wies der Bundesgerichtshof (BGH) die Klage eines Vaters ab, der seine Tochter bald zehn Jahre zuvor an den Tod verloren hatte.
Das zwölfjährige Kind war im März 1957 gegen Pocken, im April und Mai 1957 sowie im Februar 1958 gegen Kinderlähmung (Polio) geimpft worden. Im April 1958 wurde das Mädchen wegen des Verdachts einer bakteriellen Herzklappenentzündung stationär behandelt. Einem zunächst positiven Befund folgte ein negativer. Die Antibiotika-Therapie schien aber anzuschlagen. Im April 1959 stellte man beinahe zufällig ein Ewing-Sarkom im Schädel fest, ein übler Knochenkrebs, an dem die inzwischen 14-Jährige im November 1959 verstarb.
Die Eltern sahen in den Impfungen die Ursache für Erkrankung und Tod ihres Kindes und begehrten vom Land Niedersachsen entsprechend Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Von ihrem Standpunkt aus sollte "bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen werden, daß der Geschehensablauf (Krankheit und Tod des Kindes) auf dieser [Polio-] Impfung" beruhte. Bereits das Oberlandesgericht Celle hatte sich jedoch der Verschiebung der Beweislast verweigert, da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen und der Krebserkrankung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nahezu ausgeschlossen werden konnte. Der BGH urteilte im Wesentlichen entsprechend (Urt. v. 24.6.1968, Az. III ZR 97/67).
Impfschadensklage als strategischer Weg
Dass einige Formen von Krebs durch Viren verursacht werden, war schon seit 1911 bekannt. Der amerikanische Pathologe Francis Peyton Rous (1879–1970, Nobelpreis 1966) hatte dies in Versuchen an Hühnern belegen können.
Beide Impfungen, die das Kind erfahren hatte, waren allerdings 1957 bereits weit verbreitet. Ein wirksamer Polioimpfstoff stand zwar erst seit 1955 zur Verfügung, erreichte aber angesichts des Elends der Kinderlähmung rasch hohe Anwendungszahlen. Die Pockenimpfung war sogar schon seit dem späten 18. Jahrhundert bekannt. Ewig-Sarkome waren zu selten, um auf diese Impfungen zurückgeführt zu werden.
Dass die Eltern ihre Klage gleichwohl nicht etwa auf einen Aufklärungs- und Behandlungsfehler stützten – der Tumor war beim Kind trotz mehrerer medizinischer Interventionen unglücklich spät und zufällig entdeckt worden –, sondern den Ärzten die Beweislast für die Unschädlichkeit der Impfungen aufbürden wollten, kam nicht von ungefähr.
Denn so aussichtslos die Klage angesichts der relativen Seltenheit von Ewing-Sarkomen in der geimpften Population sein musste, so sehr steckte das allgemeine Arzthaftungsrecht in den 1950er und 1960er Jahren noch in den Kinderschuhen. Die Kommentarliteratur nahm sich kaum Fragen der Beweiserleichterung oder der Beweislastumkehr bei medizinischen Kausalitätsproblemen an. Der Deutsche Juristentag befasste sich wiederholt mit rechtspolitischen Forderungen, die Haftung der Mediziner vom Richter- ins Gesetzesrecht zu überführen. Dass der Behandlungsvertrag aber erst 2013 in §§ 630 a–h Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geregelt wurde, obwohl bereits seit 1982 ein breit diskutierter Entwurf vorlag, zeigt, wie zäh sich das Haftungsrecht entwickelte.
Ein erster Lichtblick, aus Sicht der tatsächlichen oder vermeintlichen Opfer medizinischer Interventionen, hatte sich jedoch schon 1953 auf dem Gebiet des Impfrechts abgezeichnet. Darin lag ein guter Grund, es auch in so schwierigen Fällen wie jenem des am Krebs verstorbenen Mädchens zu versuchen.
Impflicht und Impfschaden
Dabei war das deutsche Recht jahrzehntelang ausgesprochen hartherzig selbst gegenüber denjenigen gewesen, die zweifellos bei einer staatlich vorgegebenen Impfung einen Schaden erlitten hatten. Zum Verständnis muss man hier etwas ausholen.
Die Impfung gegen die Pocken war eines der ersten, wenn nicht überhaupt das erste gesundheitspolitische Großvorhaben des 1871 gegründeten Deutschen Reichs. Pocken, auch Blattern (Variola) genannt, sind eine unbehandelt für rund 30 Prozent der Betroffenen tödliche Viruserkrankung, die für die Überlebenden häufig mit Behinderungen, beispielsweise dem Verlust der Sehkraft, verbunden war. Während sich die Industrialisierung und Urbanisierung Deutschlands unter prekären Ernährungs-, Hygiene- und Wohnverhältnissen vollzog, trugen Pocken- sowie Cholera-Epidemien und die dauerhaft präsente Tuberkulose erheblich zur Gesamtmortalität, insbesondere zur hohen Kindersterblichkeit bei.
Ausgehend von England hatte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Entdeckung der immunisierenden Wirkung von Kuhpockeninfektionen beim Menschen zu halbherzigen Impfkampagnen geführt – anfangs oft nur von begeisterten Landpfarrern getragen, den einzigen gebildeten Männern im Dorf.
Die nach einigen Jahren verblassende Wirkung der Kuhpockenimpfung beim Menschen und die gefährliche Gewinnung des Impfstoffs – nahm man den Kuhpockenschorf von infizierten Menschen ab, drohte z. B. die Übertragung des recht weit verbreiteten, schlecht behandelbaren Syphilis-Erregers – machten eine staatliche Regulation erforderlich. Die großen deutschen Staaten wie Preußen, Bayern, Baden oder Sachsen, gingen dabei seit den 1810er Jahren mit je eigenen Strategien und Widerständen vor – auf einer Skala von Aufklärung bis staatlichem Zwang. In der Fläche oft unzureichend bleibend, traten auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Epi- und Pandemien auf, beispielsweise ausgehend von den französischen Kriegsgefangenen nach dem Krieg von 1870/71.
"Deutscher Bund der Impfgegner"
Engagierte Bürger, häufig vom schlechten Ausgang der Revolution von 1848/49 enttäuschte Liberale, verlegten sich aufs Projekt des wissenschaftlich-technischen Fortschritts – aus ihren Kreisen kam die Anregung, namentlich die Pockenbekämpfung im neugegründeten Reich endlich mit modernen Mitteln anzugehen. Ergebnis war das nach heftiger Kontroverse verabschiedete Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874 – die Diskussion im Reichstag ist vorbildlich dokumentiert –, das eine Pflichtimpfung gegen Pocken vorsah.
Außerparlamentarisch regte sich nun organisierter Protest. Während z. B. ein "Deutscher Verein impfgegnerischer Juristen" vergleichsweise elitär blieb, erreichte der 1896 gegründete "Deutsche Bund der Impfgegner" eine breite Anhängerschaft – darunter Vegetarier und Nudisten, Rohkostapostel und Antisemiten, Theosophen und antimarxistische Kapitalismuskritiker, gern auch christliche Fundamentalisten aus dem notorischen Breisgau. Die Furcht davor, von Staats wegen mittels Impfung vergiftet zu werden, trug jene erstaunlichen Blüten, die man heute praktisch wort- und ideengleich in jedem "impfkritischen" Online-Forum nachlesen kann.
Im überwiegenden Irrsinn der wilhelminischen "Impfskeptiker" gingen, nicht anders als heute, rationale Kritikpunkte oft verloren. Dass das Königlich Preußische Oberverwaltungsgericht 1908 die wiederholte – und für arme Leute ruinöse – Sanktionierung von Eltern zuließ, die ihre Kinder nicht impfen ließen, machte etwa das Prinzip mürbe, dass niemand in der gleichen Sache zwei Mal gestraft werden sollte.
Auch ein weiteres wichtiges Rechtsproblem blieb unbefriedigend gelöst: Der Anspruch von Menschen, die nicht im antimodernen Wahn gestört, sondern tatsächlich durch die Impfung zu Schaden gekommen waren.
Kein Aufopferungsanspruch bis 1953
Denn fast 80 Jahre lang fanden Impfgeschädigte kein Recht auf Kompensation ihres Nachteils – bis zu einem Urteil des BGH vom 19. Februar 1953 (Az. III ZR 208/51). Seit Inkrafttreten des Reichsimpfgesetzes hatten Geschädigte versucht, einen Anspruch auf Grundlage des Satzes durchzusetzen: "Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten" (§ 75 Einl. Allgemeines Preußisches Landrecht).
Dies hatte das Reichsgericht aber in Impfschadensfällen stets abgelehnt, u. a. mit dem etwas rabulistischen Argument, dass die Risiken einer Impfung alle Betroffenen gleichermaßen beträfen und der unglückliche Einzelfall einer schweren Gesundheitsschädigung den Eingriff der erduldeten Impfung nicht im Nachhinein zum Sonderopfer des Betroffenen machte.
Mit dieser ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung brach der BGH 1953 und öffnete den Weg für staatliche Entschädigungszahlungen. Zunächst für Schäden infolge von Pflichtimpfungen, schließlich aber mit Blick auf das Vertrauen, das der "rechtschaffende Bürger" dem demokratisch und sozial verfassten Staat des Grundgesetzes entgegenbringen dürfe, auch mit Blick auf Impfungen, die von öffentlichen Stellen bloß empfohlen wurden – hier sparte etwa das wegweisende Urteil vom 23. November 1959 (Az. III ZR 146/59) nicht an Pathos.
Dass die Eltern des 1959 vermeintlich durch einen Impfschaden zu Tode gekommenen Kindes diesen Weg suchten, statt den Versuch zu unternehmen, über das noch unausgereifte allgemeine Arzthaftungsrecht Schmerz und Schaden zu lindern, wird vor diesem Hintergrund verständlich – so irreal der behauptete Kausalzusammenhang in ihrem Fall war. Die Geschichte hat eine zusätzliche Pointe: An der Ausweitung der Aufopferungsansprüche, die bald über das Impfschadensrecht hinausgingen, war u. a. mit Willi Geiger (1909–1994) ein – gelinde formuliert – konservativer BGH- und Verfassungsrichter beteiligt.
Wenn heute also wieder einmal das kulturkonservative Klagelied davon angestimmt wird, in unserer Gesellschaft erklärten sich "identitätspolitisch" allzu viele Menschen zum "Opfer", es grassiere ein unbegrenztes Anspruchsdenken und es mangele an kerndeutscher Leid- und Opferbereitschaft: Man wird die Ursache nicht bei den bösen 1968er-Hedonisten suchen müssen, sondern bereits bei einem BGH-Senat der 1950er Jahre.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Impfrecht: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29329 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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