Das BGB ist heute in Deutschland ein Bestseller, andere Nationen haben sich davon einiges abgeschaut. Vor zweihundert Jahren war daran noch gar nicht zu denken. 1814 stritten die Juristen, ob Deutschland ein einheitliches Gesetz brauchte. Beim Blick zurück kommt André Niedostadek vieles bekannt vor.
Es sind bewegte Zeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist passé. 1806 dankt der letzte Kaiser Franz II. ab und löst obendrein kurzerhand das Reich selbst auf, was allerdings niemanden so richtig kümmert. Mehr als ein loser Zusammenschluss von Einzelstaaten war aus dem verzwickten Gebilde ohnehin nicht übrig geblieben.
Auch rechtlich ist das Reich zersplittert. Neben verschiedenen Partikularrechten hier und da, etwa dem Codex Maximilianeus Bavaricus civilis von 1756, sind es vor allem drei Rechtsquellen, die herausragen. Teils gilt das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" von 1794. Tausende von akribisch detaillierten Vorschriften waren der Versuch, zivil-, straf- und öffentlich-rechtliche Regelungen unter einen Hut zu bringen. Daneben gilt der von den Franzosen während der Besatzungszeit in den Rheinbundstaaten eingeführte Code Civil. Den hatte Napoleon Bonaparte erst wenige Jahre zuvor 1804 auf den Weg gebracht. Und schließlich durchzieht sich von Nord nach Süd ein Band des sogenannten gemeinen Rechts. Es steht in römisch-rechtlicher Tradition und ist vor allem Gewohnheitsrecht.
In dieser Gemengelage erscheint 1814 eine kleine Schrift "Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland". Sie wird einen Stein ins Rollen bringen und eine der bekanntesten juristischen Debatten entfachen: den Kodifikationsstreit.
Der Professor aus Heidelberg
Der Autor der Schrift ist Anton Friedrich Justus Thibaut. 1772 in Hameln geboren, beginnt er 1792 mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen. Keine zehn Jahre später ist er Professor für Römisches Recht in Kiel. Ein Jahr darauf geht er nach Jena, wo er unter anderem Goethe und Schiller begegnet. Dort bleibt er drei Jahre, bevor er einem Ruf als Ordinarius nach Heidelberg folgt.
Sein Augenmerk gilt vor allem der Pandektenwissenschaft. Sie ist darauf angelegt, das aus Fällen abgeleitete "gemeine Recht", dessen Wurzeln bis in das römische Recht zurückreichen, systematisch zu erschließen. Sein "System des Pandekten-Rechts", das ab 1803 in mehreren Auflagen erscheint, gilt als sein Hauptwerk und ist zu jener Zeit maßgebend. Thibaut avanciert zu einem der führenden Zivilrechtler. Unter anderem prägt er ganz maßgeblich die privatrechtliche Irrtumslehre. Den Motivirrtum, den er für unbeachtlich hält, lernen heute noch Erstsemester kennen.
Ein Recht für eine neue Einheit
Thibaut will weg von den vielen einzelstaatlichen Regelungen und appelliert "aus der vollen Wärme meines Herzens" für eine Kodifikation des gesamten deutschen Rechts: "So ist also unser ganzes einheimisches Recht ein endloser Wust einander widerstreitender, vernichtender, buntscheckiger Bestimmungen, ganz dazu geartet, die Deutschen voneinander zu trennen und den Richtern und Anwälten die gründliche Kenntnis des Rechts unmöglich zu machen".
Dem Rechtwissenschaftler, der mit einem Werk zur "Reinheit der Tonkunst" auch in musikalischer Sicht Akzente setzt, schwebt ein gemeinsames Gesetzbuch für das gesamte Volk vor. Es soll neben dem Zivilrecht auch das Straf- und Prozessrecht umfassen. Angesichts eines übergreifenden Rechts- und Warenverkehrs sieht er ganz ein praktisches Bedürfnis für ein solches Vorhaben und verspricht sich einen einfacheren Zugang zum Recht. Eine Forderung, die mit Blick auf Europa noch heute überaus aktuell klingt. Sein Ansatz ist aber vor allem auch politischer Natur: Anstatt das Recht weiterhin in die Hände der jeweiligen Landesfürsten zu legen, will der Jurist die politische Einheit Deutschlands beflügeln: das Recht als Impulsgeber für ein Nationalgefühl und eine neue staatliche Einheit.
Thibaut rechnet angesichts einer damit verbundenen Beschränkung landesfürstlicher Gewalt mit Widerstand. Der schlägt ihm sogar aus den eigenen Reihen entgegen. Noch im gleichen Jahr meldet sich aus Berlin der wohl bekannteste deutsche Jurist des 19. Jahrhundert mit einer weniger optimistischen Gegenschrift.
André Niedostadek, Kodifikationsstreit oder der lange Weg zum BGB : . In: Legal Tribune Online, 30.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13344 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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