Im Juni 1964 entschied der BFH über die Besteuerung von Einnahmen aus Prostitution. Das Gericht griff damit der allgemeinen Entwicklung ökonomischer und moralischer Wertvorstellungen weit voraus.
Dass es dem Fiskus bei der Erhebung von Steuern nicht sonderlich auf die moralische Qualität ihrer Grundlagen ankommt, ist bereits seit der Antike sprichwörtlich.
Dem römischen Staatsoberhaupt Vespasian (9–79, Imperator seit 69 n. Chr.) wird verkürzt die Redewendung "pecunia non olet" zugeschrieben, "Geld stinkt nicht", mit der er auf Zweifel reagierte, nachdem er eine Latrinensteuer auf Urin aus den öffentlichen Toiletten eingeführt hatte, damals ein wirtschaftlich wertvolles Gut, weil die faulige Substanz als Rohstoff unter anderem für Gerbereien und die Wäschereinigung taugte.
Eine gewisse Schamlosigkeit gehört seither derart gründlich zum Tätigkeitsprofil der Steuern erhebenden Berufe, dass Verwunderung, beispielsweise darüber, dass der Staat auch bei Einnahmen aus sexuellen Dienstleistungen die Hand aufhält, fast selbst erklärungsbedürftig ist.
Im vorliegenden Fall findet sich die Erklärung in einem Meinungsunterschied zwischen zwei Senaten des Bundesfinanzhofs (BFH), der vielleicht nicht zufällig in die große Zeit der moralischen Wiederaufrüstung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg fiel. Daher hatte der Große Senat des Gerichts mit Urteil vom 23. Juni 1964 (Az. GrS 1/64 S) darüber zu entscheiden, ob und wie die Einkünfte einer Prostituierten zu besteuern sind.
Dissens zwischen den BFH-Senaten, was Geschlechtsverkehr steuerrechtlich ist
Im Urteil des BFH wird die Sache nüchtern, aber nicht ganz wahrheitsgemäß dargestellt, wie sich später zeigen wird:
Zur Einkommensteuer herangezogen wurde die Mutter und Alleinerbin einer verstorbenen Frau, die "ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch Prostitution verdiente. Die Prostituierte lenkte die Aufmerksamkeit begütert aussehender Männer auf sich und forderte sie zum Geschlechtsverkehr gegen Entgelt auf. Als nach ihrem Tode die Art und der Umfang der erzielten Einnahmen bekanntwurden, zog das Finanzamt die [Beschwerdeführerin] als Alleinerbin heran."
Das Finanzamt setzte unter Schätzung der Einkünfte die Einkommensteuer, das "Notopfer Berlin", also den Solidarzuschlag zugunsten von Berlin (West), und die Kirchensteuer fest. Die Behörde sah in den Leistungen der "begüterten Männer" sogenannte "sonstige Einkünfte" nach § 22 Nr. 3 Einkommensteuergesetz (EStG), einer Vorschrift, an der sich seit den 1950er Jahren vergleichsweise wenig geändert hat.
Damit begann der Konflikt unter den Steuerrechtsgelehrten im Richteramt.
Das Finanzgericht und der IV. Senat des BFH sahen keinen Fall der "sonstigen Einkünfte" nach § 22 Nr. 3 EStG, wohl aber eine ebenfalls steuerpflichtige gewerbliche Tätigkeit nach § 15 Nr. 3 EStG (jeweils alter Fassung).
Jedoch hatte der VI. BFH-Senat gerade erst im Jahr 1962 entschieden, dass "Geschlechtsverkehr gegen Entgelt" keine Tätigkeit im Sinne der §§ 15, 22 EStG sei. Die Richter hatten dazu unter anderem erklärt: "Nach Auffassung des Senats kann aber der Geschlechtsverkehr überhaupt nicht als eine einkommensteuerlich beachtliche 'Leistung' angesehen werden. […] Der Senat verkennt nicht, daß es als ungerecht erscheinen kann, die hier streitigen Einnahmen unbesteuert zu lassen, wenn Bezüge aus ehrlicher Arbeit besteuert werden. Das berechtigt aber den Senat nicht, den Kreis der vom Gesetzgeber geschaffenen Steuertatbestände zu erweitern. Der Gesetzgeber hat eindeutig nur solche Einnahmen zur Einkommensteuer heranziehen wollen, die unter eine der sieben Einkunftsarten gebracht werden können" (BFH, Urt. v. 22.06.1962, Az. VI 112/59 S).
Großer Senat versteht den Begriff der "Leistung" weit
Dieser Auffassung schloss sich der Große Senat des BFH nicht an. In ihrem Urteil vom 23. Juni 1964 erklärten die Richter, "in der entgeltlichen Hingabe der Straßendirnen" sei eine "Leistung im Sinne der Vorschrift" zu sehen.
Der Begriff der "Leistung" sei hier "weit zu fassen", er umfasse "jedes Tun, Unterlassen und Dulden, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrages sein kann". Es sei gegeben "weil sich die Straßendirne einem unbestimmten Kreis von Partnern anbietet und aus den Einnahmen ganz oder zum wesentlichen Teil ihren Lebensunterhalt bestreitet".
Unter solchen Bedingungen spielten "Freundschaft und intime Beziehungen keine Rolle". Im vorliegenden Fall der 1957 verstorbenen, von ihrer Mutter beerbten Prostituierten waren sich die Richter auch sicher, dass das persönliche Verhältnis zu "Freunden" – das Gericht setzte hier selbst distanzierende Anführungszeichen – nicht der Anlass für die Geldzuwendungen gewesen sei.
Wenn allerdings klar sei, dass das Geld im Rahmen von intimen Beziehungen in einem Liebesverhältnis geflossen war, könnte das bei keinem der Partner als "Leistung" im steuerrechtlichen Sinn erfasst werden – das war eine rhetorische Konzession an den VI. Senat des BFH, der im Geschlechtsverkehr gar keine steuerrechtlich relevante Leistung hatte sehen wollen.
Fall der toten Frau: Dauerbrenner der "true crime"-Formate
Zu den Kontakten jener toten "Straßendirne" – um an den Wortschatz des BFH anzuschließen –, deren Mutter nun Einkommensteuer, Notopfer Berlin und Kirchensteuer zu zahlen hatte, gehörten prominente Männer der jungen Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise die Industriellensöhne Harald von Bohlen und Halbach (1916–1985), Harald Quandt (1921–1967) und Gunther Sachs (1932–2011).
Ob es sich bei ihnen um "Freunde" – mit oder ohne Anführungszeichen zu lesen – handelte, wurde auch vom Finanzamt und -gericht nicht aufgeklärt, handelte es sich doch um den sensiblen und von "true crime"-Formaten endlos skandalisierten Fall der sogenannten "Edelprostituierten" Rosemarie Nitribitt (1933–1957), die unter bis heute nicht aufgeklärten Umständen ermordet worden war.
Die junge Frau aus tief gestörten Familienverhältnissen war als Mädchen vergewaltigt, später wegen sexueller Auffälligkeit in der Arbeitsanstalt Brauweiler bei Köln inhaftiert worden, einer nicht nur unter alten Alkoholkranken, ihren letzten Insassen, in der Region äußerst verrufenen Einrichtung zur Beseitigung von Menschen, die der bürgerlichen Gesellschaft lästig fielen.
Wohl aufgrund ihrer prominenten "Freunde" und der Bemühungen Nitribitts, trotz ihrer prekären schulischen Bildung als "kultiviert" wahrgenommen zu werden, wird sie häufig als "Edelprostituierte" bezeichnet – hinzu kamen die "feinen Unterschiede" eines sozial abgehobenen Konsumverhaltens, wie es die Historikerin Jennifer Striewski beschreibt: "Bereits im Mai 1956 erlaubten ihre Einnahmen aus der Prostitution die Anschaffung des legendären Mercedes 190 SL mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, der zu ihrem Markenzeichen werden sollte. Das Luxuscoupé, mit dem sie auf Kundenfang ging, signalisierte, dass sie keine gewöhnliche Straßendirne war."
Dass "Art und der Umfang der erzielten Einnahmen" von Nitribitt erst nach ihrem Tod im Jahr 1957 bekannt geworden sein sollen, wie der BFH erklärte, ist unter diesen Umständen also etwas fragwürdig.
Und heute, wo viele für das verzweifelte und mitunter abgründige Bemühen traumatisierter, biografisch beschädigter Menschen, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen oder "kulturelles Kapital" zu sammeln, sensibel geworden sind, fragt sich vielleicht auch, warum die BFH-Richter die ermordete sogenannte "Edelprostituierte" eifrig unter das moralisch anstößige Konstrukt der "Straßendirne" subsumierten.
Denn dass sich der Fiskus im Zweifel überhaupt nicht um den moralischen Geruch des Geldes zu kümmern braucht, hatte der Gesetzgeber bereits 1934 mit § 5 Abs. 2 Steueranpassungsgesetz geregelt: "Die Besteuerung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein Verhalten (ein Tun oder ein Unterlassen), das den steuerpflichtigen Tatbestand erfüllt oder einen Teil des steuerpflichtigen Tatbestands bildet, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt."
Daran, dass die in dieser Norm durch den NS-Gesetzgeber vorgegebene Abwertung bürgerlicher Moralvorstellungen bis 1945 auch ein Grundsatz der staatsterroristischen Finanzverwaltung gewesen war, störte man sich in anderen Steuerfragen nur selten – für die Abgrenzung des freundschaftlich-steuerfreien vom prostitutiv-steuerpflichtigen Geschlechtsverkehr brauchte die deutsche Verwaltung und Justiz aber, bemerkenswert genug, noch einmal das die Sittlichkeitsfrage ausklammernde Urteil des Großen Senats vom 23. Juni 1964.
Besteuerung von "Sex-Arbeit" avant la lettre griff ihrer Zeit voraus
Trotz seiner rustikalen Rhetorik, die in der "Edelprostituierten" bestenfalls einen Sonderfall der "Straßendirne" erkennen konnte, enthielt das Urteil des BFH eine Wertung, die der Zeit in ökonomischer und sozial-moralischer Hinsicht vorausgriff.
In ihrer gründlichen und historisch klugen Studie zum Thema ("Dialektik der Hure", Berlin 2023) schreibt die Philosophin Theodora Becker, es sei seltsam, dass ausgerechnet die sog. Hurenbewegung – eine politische Strömung, die eine rechtliche Emanzipation ihrer Zugehörigen verlangt –, "die dies am besten hätte wissen müssen, nicht begriffen" habe, "dass der Übergang von einer seltenen Ware, deren Tabuisierung, Schambehaftetheit und unvergleichliches Genussversprechen ihren hohen Preis bedingten, in eine allgemein akzeptierte und normale Dienstleistung zwangsläufig zur Folge haben muss, dass die Preise fallen".
Mit dem heutigen Schwinden der bürgerlichen Gesellschaft, ob man diese nun im Stil der marxistischen Kapitalismuskritik versteht oder nur als ein historisches Modell kultureller Gepflogenheiten und Institutionen, komme es zwar zu einer Entstigmatisierung und vielleicht Anerkennung des Berufs "sexueller Dienstleistungen", von der aber arme Frauen kaum profitierten, denn: "Wenn die Prostitution nur noch eine schlichte Dienstleistung ist, die auf dem Markt alles andere als rar ist, gibt es keinen Grund, warum Prostituierte höher bezahlt werden sollten als Postboten, Lehrer, Friseure oder Krankenpfleger. Und dies ist ja auch kaum noch der Fall."
Einkommensteuerrechtlich sah der BFH das schon 1964 ähnlich. Vielleicht also ein Akt avantgardistischer Rechtsanwendung, auch das soll ja manchmal vorkommen.
Hinweis: Theodora Becker: Die Dialektik der Hure. Von der "Prostitution" zur "Sex-Arbeit", eine gut lesbare "marxistisch-adornitische" Studie, erschien 2023 bei Matthes & Seitz, Berlin, 592 Seiten, 34 Euro.
BFH streitet um Besteuerung der Prostitutionseinkünfte: . In: Legal Tribune Online, 23.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54831 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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