Staatswesen, Struktur und Ordnung hängen in Baden mitunter an einem Faden. Der kann auf zwei Weisen geknotet sein und ist als badische Aktenheftung über die Region hinaus bekannt. Doch nun naht das Aus.
Es funktioniert wie beim Schnürsenkelbinden: Mit ein, zwei Griffen eine Schlaufe bilden, Faden durchziehen – und zack sitzt der badische Aktenknoten. Was klingt wie ein regionales Relikt aus alten Zeiten, ist genau das. Aber es ist auch die gängige Praxis, mit der noch heute Papierakten in der Justiz in Baden zusammengehalten werden. Während der Aktenknoten dort eine große Fangemeinde hat, rühmt sich die Region ebenso, fortschrittlich in Sachen Digitalisierung in der Justiz zu sein. Nur: Mit dem Vormarsch der elektronischen Akte wird die badische Aktenheftung aussterben.
Daraus macht auch Klaus Stohrer vom Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe keinen Hehl: "Die E-Akte will keiner mehr missen. Damit wird der Knoten irgendwann Geschichte sein." Noch arbeiten 25 Gerichte laut Justizministerium ausschließlich mit der badischen Aktenheftung – von Schopfheim im Südwesten des Landes bis Tauberbischofsheim im hohen Norden. Und auch dort, wo schon die E-Akte Einzug gehalten hat, sind in vielen Abteilungen - vor allem im Strafrecht - Papierakten gang und gäbe. Das hängt laut Stohrer damit zusammen, dass in diesem Bereich mehr Behörden mit verschiedenen Computersystemen involviert sind als im Zivilrecht, etwa die Polizei.
Sicher vor Windstößen im Büro und rostenden Klammern
Spricht man mit Badenern über die Aktenheftung, bewerben manche diese so engagiert wie Markthändler: Ist die Schnur durch zwei Löcher gefädelt, gibt es den Knoten in den Ausführungen Bearbeitungs- und Ablageknoten. Letzterer sitzt eng am Papier, die Fadenenden werden zwischen Blätter geklemmt. So wird das Bündel platzsparend gelagert.
Beim Lesen und Bearbeiten wird die Schlaufe deutlich lockerer gebunden. Der Vorteil: Man kann Seiten entlang der Schnur vollständig umschlagen, ohne dass die Akte wie im Schnellhefter zusammenklappt. Ein Bearbeiter kann die Akte so aufschlagen, dass die ihm wichtige Seite oben liegt - und dann an Kollegen weiterreichen, die nicht erst blättern müssen. Weht Wind durchs Zimmer oder fällt mal Papier zu Boden, sind alle Seiten noch in korrekter Reihenfolge am Bändel.
Außerdem sparen die Archivare sich die Arbeit, Heftklammern zu entfernen oder Akten aus Ordnern zu holen. Das ist nötig, weil Metall mit der Zeit rostet, was wiederum Papier angreift und so Informationen zerstören könnte, wie Peter Exner vom Generallandesarchiv Karlsruhe erläutert.
Über 200 Jahre alt
Die Ursprünge der badischen Aktenheftung reichen nach Angaben von Annette Riek vom Staatsarchiv Freiburg weit mehr als 200 Jahre zurück, lassen sich aber nicht mehr genau datieren. Schon in der badischen Archivordnung von 1801 sei vom Stechen und Schnüren der Akten die Rede. In einer Gemeinderegistraturordnung von 1905 würden die genauen Maße der Lochung genannt: Die beiden Löcher sollen 43 Millimeter auseinander liegen, das obere Loch 21 Millimeter vom oberen Aktenrand und 14 Millimeter vom linken Rand entfernt sein.
Aus dem anderen Landesteil kennt man sogenannte Württembergische Büschel: Hierbei werden die ein- und ausgehenden Schreiben einfach lose aufeinander gelegt. Um dabei die Reihenfolge wahren zu können, müssen Archivare hier nachträglich die Seiten durchnummerieren.
Exner erläutert, Johann Nikolaus Friedrich von Brauer (1754-1813) habe zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Aufbau des Großherzogtum Badens organisiert und ein neues Gemeinwesen geschaffen. Damals hätten Kurpfälzer und Markgräfler sowie Menschen vom Bodensee und aus der Region Wertheim zusammengeführt werden müssen. Um Einheitlichkeit zu verwirklichen, verfasste Brauer sogenannte Organisationsedikte. In einem geht es um "landesherrlich sanctionierte Normen gegen die wandelbare Willkür jedes Archiv-Beamten". "Es ging darum, Wildwuchs zu vermeiden", erklärt Exner. Er spricht vom "durchgestylten" Staat und vergleicht das mit Normierungsvorgaben durch die EU.
Außerhalb Badens keine Chance gegen den Leitz-Ordner
Das Thema sei emotional, habe viel mit Identitätsbildung zu tun, sagt Exner. Dass sich der Knoten nicht über Baden hinaus durchsetzte, liege an der Dominanz der Leitz-Ordner aus Stuttgart seit Kriegsende.
Dass im Bezirk des OLG Karlsruhe heutzutage überhaupt noch geknotet werden darf, ist sogar extra geregelt: in der baden-württembergischen Zusatzbestimmung Nummer 12 der bundeseinheitlichen Anweisung für die Verwaltung des Schriftguts bei den Geschäftsstellen der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Im OLG-Bezirk Stuttgart wurde zum 1. Juli 1967 angeordnet, dass Akten mit Hilfe von Schnellheftern zu führen sind.
Die Knotentechnik hat auch Nachteile, wie Stohrer vom OLG Karlsruhe einräumt: Mit der Zeit fransen die Fäden aus. Manche versuchen sich dann mit Spucke zu helfen, andere friemeln herum. Um das Auffädeln zu erleichtern, gibt es Aktenstecher, die wie kleine Lanzen durch die Löcher geschoben werden. So wird der Papierstapel akkurat angeordnet.
Der badische Aktenstecher
Das Instrumentarium zur badischen Aktenheftung stellen Häftlinge her: Aktenlocher in groß und klein sowie Aktenstecher beispielsweise kommen aus der Mannheimer Justizvollzugsanstalt. Dort kann man sie im Online-Shop bestellen. Auch da kennt Exner eine Anekdote: Einst stammten die robusten Locher von einer Firma aus Ettlingen. Weil sie nicht kaputtgingen, brauchte aber kaum jemand Nachschub. Das stürzte die Firma in den Bankrott.
Knoten, Hefter, Ordner, lose Blättersammlungen: Der Umgang mit Akten in Deutschland ist ganz unterschiedlich. Beim Bundesgerichtshof zeigt sich das föderale Potpourri der Ordnungssysteme. Hier geht man souverän damit um: Die ankommenden Akten werden nicht verändert, behalten also ihre Heftung und werden wie sie waren zurückgesandt.
Über die badische Aktenheftung wird dabei gestaunt, gelacht und geschimpft. Stohrer vom OLG sagt: "Je weiter weg, desto verzweifelter werden die Menschen." Es seien auch schon mal Akten zurückgekommen mit einem Zettel drauf, man habe sie nicht mehr zusammengekriegt.
"Die Praxis ist allerdings vom Aussterben bedroht", räumt auch Justizministerin Marion Gentges (CDU) ein, die den Aktenknoten ebenfalls beherrscht. "Mit Einführung der elektronischen Akte, die rasch voranschreitet, wird in Zukunft an den Gerichten und Justizbehörden in Baden-Württemberg weder geknotet noch geheftet werden." Gentges kann dem etwas Positives abgewinnen: "Mit einem Augenzwinkern kann man also sagen: Die Digitalisierung bringt Baden und Württemberg noch einmal ein Stück näher zusammen."
ast/dpa/LTO-Redaktion
E-Akte in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48385 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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