Auf die Unruhen in britischen Großstädten reagieren die Gerichte gerade mit kurzen Prozessen und harten Urteilen. Bis 1973 war noch mehr Härte möglich. Der Riot Act aus dem Jahr 1715 erlaubte Höchststrafen gegen Teilnehmer ungesetzlicher Versammlungen. Neben seiner bizarren "formaljuristischen" Seite ist das Gesetz Teil einer düsteren Strafrechtsgeschichte. Von Martin Rath.
Als der hannoveranische Herzog Georg Ludwig im Jahr 1714 zusätzlich zu seinen Würden als Fürst des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation auch noch zum König von Großbritannien und Irland erklärt wurde, gewann er formal die Herrschaft über einen sehr unruhigen Winkel Europas samt ozeanischer Interessensgebiete.
Vor gerade einmal 20 Jahren hatte sich das Parlament weitgehende Vorrechte gesichert und katholische Thronanwärter von dynastischen Ansprüchen ausgeschlossen. 70 Jahre zuvor war das Land für einige Zeit Republik gewesen, und das Parlament hatte zu diesem Zweck Charles I. enthaupten lassen. Katholische Iren, verarmende Schotten und das ebenso multikulturelle wie ungezähmte Volk der Hafenstädte galten als stete Quellen von Verschwörungen und Aufruhr gegen die legitime Obrigkeit.
Anders als sein entfernter Verwandter, der preußische König Friedrich Wilhelm IV., noch über 100 Jahre später, konnte eine britische Majestät für seine Herrschaft nicht behaupten: "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten." Ein stehendes Heer im Inland bewilligte das Parlament dem königlichen Gastarbeiter aus Deutschland schlichtweg nicht.
Law and Order statt "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten"
Am 1. August 1715 trat – zunächst in Großbritannien, später in Irland und den Kolonien – als so genannter Riot Act ein Gesetz in Kraft, mit dem jeder Aufruhr innerhalb der so unruhigen Gesellschaft unterdrückt werden sollte. Nach dem Ermessen des lokalen Friedensrichters oder Sheriffs, des Bürgermeisters oder - später, nach dem Entstehen dieser modernen Behörde - nach dem Ermessen der Polizei konnten problematische Menschenansammlungen unter das "Gesetz gegen den Aufruhr" gestellt werden. Außer Kraft treten sollte der "Riot Act" erst unter Elizabeth II. im Jahr 1973. Die Todesstrafe, später dann die Deportation ("transportation") in eine überseeische Kolonie waren juristische Mittel der Wahl gegen Aufrührer im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland.
Die Anwendung des Gesetzes war für die zuständige Obrigkeit, etwa den Friedensrichter oder Sheriff, allerdings keine ganz einfache Übung. Galt ihm eine Menschenansammlung als Erscheinungsform von Aufruhr, Tumult, Krawall oder Aufstand, hatte der Beamte den versammelten Untertanen ihrer britannischen Majestät wortwörtlich die folgende Formel vorzutragen:
"Unser souveräner Herr, der König, fordert von und befiehlt allen Personen, die hier versammelt sind, unverzüglich auseinanderzugehen und sich friedlich in ihre Wohnungen oder zu ihren rechtmäßigen Geschäften zu entfernen unter Androhung der Strafen, die das Gesetz vorsieht, das im ersten Jahr von König Georg erlassen wurde, um Tumulten und aufrührerischen Versammlungen vorzubeugen. Gott schütze den König!"
Komische "Formaljuristerei" ohne humanitäres Beiwerk
Vergaß der deklamierende Beamte beispielsweise zu erwähnen, dass der Riot Act "im ersten Jahr von König Georg erlassen wurde", blieb die Formel unwirksam. Unterließ es beispielsweise der Sheriff, nervös womöglich durch die finstren Blicke streikender Bergleute oder um ihre Heuer betrogener Seeleute, rituell auszurufen "Gott schütze den König!", verlor der ganze vorangegangene Sermon seine Verbindlichkeit. Doch diese komische Seite, die formstrenge Juristerei haben kann, schwindet schnell - einmal beim Blick ins Gesetz, zum anderen angesichts der gerichtlichen Entscheidungspraxis.
Der Riot Act spricht unter anderem wörtlich davon, dass diejenigen, die eine Versammlung auch noch eine Stunde nach der - formal korrekten - Aufforderung nicht verlassen hatten, sich schuldig machten eines "felony without benefit of clergy". Für dieses Verbrechen wurde die Todesstrafe verhängt, die erst im Lauf des 18. Jahrhunderts durch "transportation" ersetzt werden konnte - also die Verschiffung in eine überseeische Kolonie, wo dem Verurteilten eine Form von De-facto-Sklaverei blühte, in deren Verlauf die Überlebenswahrscheinlichkeit allerdings auch nicht sonderlich hoch lag.
Mit einem "benefit of clergy" wurden nach dem englischen Recht des Mittelalters straffällige Kleriker begünstigt, später war es für einen Angeklagten von Vorteil, lesen und schreiben zu können. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde der "benefit of clergy" umgebaut zu einem Strafmilderungsmechanismus für Ersttäter. Aufrührern wurde diese Möglichkeit, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indes nicht zugebilligt.
Im Übrigen stellte schon William Murray, als Lord Chief Justice of the King’s Bench führender Jurist des späten 18. Jahrhunderts, nach gewalttätigen Ausschreitungen im Jahr 1780 klar, dass Fehler bei der quasi-rituellen Verkündigung der gesetzlichen Formel zwar die Angeklagten vor den schwersten Strafandrohungen schützten – aber die korrekte Formel keine Voraussetzung dafür sei, dass die Obrigkeit der Gewalt der Untertanen mit Gegengewalt begegnen dürfe.
Britische Staatsgewalt im Kampf gegen die vielköpfige Hydra
Für gewalttätige Ausschreitungen oder ihre verschwörerische Anbahnung hatten die Untertanen der britannischen Majestät im 18. und 19. Jahrhundert andere Gründe als den Wunsch, in den Besitz von höherwertiger Elektronik oder von Textilien im US-"Gangsta"-Stil zu gelangen.
Wenn es um die Armutsbekämpfung ging, verbanden die englischen Behörden von jeher die Träume von überseeischen Herrschaftsgebieten mit Alpträumen für weite Teile der inländischen Bevölkerung. William Petty (1623-1687), ein Berater des Königs, fragte etwa: "Warum sollten mittellose Diebe nicht mit Sklaverei statt mit dem Tode bestraft werden?" Sir William, der als Gründungsvater der britischen Volkswirtschaftslehre gilt, schlug vor, Sträflinge zur Zwangsarbeit in die Kolonien zu verbringen und sie dort nur so knapp arbeitskrafterhaltend zu versorgen, dass das "Gemeinwesen auf diese Weise gewissermaßen zwei Männer dazugewinnt, statt einen zu verlieren". Im britisch regierten Irland wurde Armut künstlich produziert: Katholische Bauern mussten ihr Land zu gleichen Teilen unter ihren Söhnen vererben, eine unwirtschaftliche Parzellierung und Verarmung war die Folge.
In der aufblühenden britischen Kriegs- und Handelsmarine herrschten Zustände, weit schlimmer als sie Hollywood für die "Meuterei auf der Bounty" erfunden hat. Die US-amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker halten in ihrer "Verborgenen Geschichte des revolutionären Atlantiks" fest, dass es für die Seeleute in den Häfen des britischen Herrschaftsgebiets einem Urteil zu Sklaverei und Tod gleichkam, wenn sie einem Presskommando in die Hände fielen. Der Habeas Corpus galt nicht für die Zwangsdienste in der aufblühenden Schifffahrt, mit dramatischen Folgen: Drei von vier Seeleuten überlebten die ersten zwei Jahre nicht. Die Überlebenden wurden regelmäßig um ihren Lohn betrogen, korrupte Proviantmeister enthielten Nahrung vor. Für Desertion gehängt zu werden, gehörte zu den beinah harmlosen Rechtsfolgen: Je 700 Peitschenhiebe auf den Rücken trafen 1764 drei Deserteure der Kriegsmarine, auch das war ein Todesurteil.
Die Matrosen der britischen Handels- wie der Kriegsmarine erlitten derweil auch weniger terroristische Körperstrafen bei allen erdenklichen Disziplinverstößen. Diese darf man sich grundsätzlich vorstellen wie in den Filmen zur "Meuterei auf der Bounty", die allerdings drei Fehler haben: Die Filme sind zu harmlos. Der angeblich sadistische Kapitän Blight war, zweitens, in Wirklichkeit ein ausgesucht humaner Vorgesetzter. Und drittens: Der multikulturelle, seemännische "Abschaum der Meere" träumte vermutlich nicht vom süßen Leben auf Tahiti, sondern von den zwar nicht idealen, aber doch mehr oder weniger demokratischen "Genossenschaften", in denen sich die Piraten der Karibik organisierten - mit gewählten Offizieren, funktionsfähiger Kranken- und Invalidenversicherung und fairer Verteilung des ökonomischen Ertrags.
Zwischen den geschundenen Seeleuten des britischen Seereichs und den irischen Schuldknechten der nordamerikanischen Kolonien, zwischen den merkwürdig christianisierten afrikanischen Sklaven in Neuengland, der Karibik, aber auch im Herzen von London, wollen die US-amerikanischen Historiker Linebaugh und Rediker ein verborgenes Netzwerk revolutionärer Köpfe aufgespürt haben - eine "vielköpfige Hydra", ein mythologisches Ungeheuer, von dem sich die gebildete britische Oberschicht bedroht sah und dem sie sich unter anderem mit Mitteln wie dem "Riot Act" von 1715 zu erwehren versuchte.
Vom Aufruhr zum Streik – und wieder zurück?
In den 1760er-Jahren entdeckten die Seeleute der britischen Handelsmarine, folgt man Linebaugh und Rediker, Handlungsformen, die erfolgversprechender werden sollten als der hoffnungslos-anomische Kampf um vorenthaltene Heuer - sie verweigerten kollektiv die Arbeit. Dieser "passive" Widerstand ließ sich nicht mehr ohne Weiteres unter die Tatbestände des "Riot Acts" subsumieren.
Die Entdeckung dieses passiven Moments mag dann im 19. Jahrhundert dazu beigetragen haben, dass sich die politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen zwischen der entstehenden Fabrikarbeiterschaft und dem "Kapital" jedenfalls in Großbritannien halbwegs friedlich vollzogen - der "Streik" war geboren.
Ob es beim Frieden bleibt? Bei den Unruhen in Großbritannien wurde jüngst ein Grundschullehrer aufgegriffen, der sich an einer Plünderung beteiligt hatte. Ob er sich nach dem heutigen "Riot"-Straftatbestand schuldig gemacht hat, der ohne die rituelle Formelverlesung auskommt, sei dahingestellt. Interessant ist, dass sich die Kommentarspalten britischer Online-Medien mit Bestrafungsphantasien füllten, die diesen Mann karibischer Herkunft betrafen: Von Brandmarken war die Rede und von der Prügelstrafe mit der Peitsche - Konsequenzen, die ihm von Rechts wegen vor 150 oder 200 Jahren sicher gewesen wären. Kaum geraten die Dinge etwas durcheinander, schon gehen die Strafrechtsphantasien in den "Reset"-Modus und damit 200 Jahre zurück?
In Deutschland haben zuletzt Gewerkschaften und das Bundesarbeitsgericht die Dinge etwas durcheinandergebracht. Nach dem so genannten Flashmob-Urteil dürfen zum Beispiel die streikenden Mitarbeiter eines Discounter-Ladens den Betrieb aufhalten - die neue "Kampfform" fand den Segen der Erfurter Richter: "Ich fülle meinen Einkaufswagen, lasse ihn dann stehen und nenne das auch noch 'Streik'."
Durchaus renommierte Juristen erkannten darin schon den Wandel vom wohlgeordneten deutschen „Streik“ zum per definitionem regellosen "Partisanenkampf". Vom Partisanen- zum Piratentum ist es womöglich nur ein kurzer Weg (oder ein Griff ins Regal).
Wenn aber schon der lästige und infantile, im Wesentlichen aber doch harmlose gewerkschaftliche "Flashmob" in den Augen deutscher Juristen zum "Partisanenkampf" mutierte, darf man wohl schon grimmig den Tag erwarten, an dem deutsche Innenpolitiker einen "Riot Act 2.0" fordern werden.
Nachträge
Zur Ehrenrettung von König Georg I. muss gesagt werden, dass er jenes Gesetz, das in seinem Namen die rituell-förmliche Grundlage für tödliche Strafverfolgungsmaßnahmen gab, womöglich selbst nicht verstanden hätte: Es heißt, der deutsche Fürst habe Englisch nur sehr gebrochen gesprochen und sich - auch als englischer König - überwiegend auf Deutsch und Französisch verständigt.
Das Buch von Peter Linebaugh und Marcus Rediker ist erschienen unter dem Titel "Die vielköpfige Hydra". Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin/Hamburg 2008. Als nicht ganz konventionelle Sozialgeschichte könnte es sich im Regal gut neben Carl Schmitts politiktheoretisches Seemannsgarn "Land und Meer" fügen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Aufruhr in der britischen Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 21.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4070 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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