Claudia von Selle ist Rechtsanwältin für Zivil-, Kunst- und Medizinrecht, pendelt zwischen Berlin, Paris und New York –aber immer mit der Natur im Einklang. Denn die Juristin hat eine abgeschlossene Ausbildung in Phytotherapie und bietet zusammen mit einer Heilpraktikerin Beratung und Kuren für Kollegen an. LTO über ein Leben zwischen Heilpflanzen, Skulpturen und Gerichtssälen.
"Physiotherapie?" "Nein, Phytotherapie!" Wenn die Anwältin Claudia von Selle erzählt, was für Kurse sie anbietet, kämpft sie oft mit Verwechslungsgefahr und gegen Vorurteile. Auch wenn es ähnlich klingt, Phytotherapie hat nichts mit Krankengymnastik zu tun, sondern ist die Lehre der Verwendung von Pflanzen als Heilmittel. Sie gehört zu den ältesten medizinischen Therapieformen.
Zusammen mit der Heilpraktikerin Natascha von Ganski bietet Claudia von Selle individuelle Beratungen und berufsbegleitende Fastenkuren an. Dabei erhalten die Teilnehmer sämtliche Produkte in Bioqualität. "Unsere Kunden sind im Moment ausschließlich Juristen", sagt die Mutter von zwei Kindern, die monatlich zwischen ihren Kanzleien in Berlin und Paris pendelt. "Dabei gibt es einen klaren Unterschied zwischen den Geschlechtern: Männer bevorzugen Tropfen zur Stressbewältigung oder selbst hergestellte Liköre, aber machen einen Bogen um Kräutertees. Wofür wiederum Frauen sehr empfänglich sind." Auf negative Skepsis stößt sie in ihrer Berufsgruppe trotz des eher exotisch anmutenden Themas erstaunlicherweise nicht. "Selbst beinharte Wirtschaftsanwälte sind für alles offen, wenn es um ihre Gesundheit geht."
Schnell in der Esoterikschiene
Zu Recht, denn die moderne Phytotherapie unterscheidet sich grundlegend von "alternativen Behandlungsmethoden". Trotzdem denken dabei nicht wenige an die esoterische Schiene. "Dieses Vorurteil besteht leider zur Recht. Die Pflanzenheilkunde muss für bestimmte Menschen als Ersatz herhalten. Oft wird Pflanzenheilkunde auch für Aberglaube gehalten." Tatsächlich ist Phytotherapie Bestandteil der Schulmedizin und damit wissenschaftsbasiert. "Die Medizin baut auf Erfahrungswissen auf. Das berücksichtigt etwa der Gesetzgeber, der die Anwendung von pflanzlichen Arzneimitteln unter strengen Vorschriften seit mehr als 30 Jahren zulässt." Claudia von Selle achtet deshalb darauf, dass sie bei ihrer Arbeit aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse unverändert übernimmt und ohne Einschränkung fortführt. Das Einfliesen von jahrhundertealten Traditionen sei in diesem Bereich normal. "Weleda, der weltweit größte anthroposophische Arzneimittelhersteller, stellt seine Kosmetikprodukte nach astrologischen Prinzipien her und gewinnt regelmäßig Preise von Warenteststiftungen." Wichtig ist für Claudia von Selle, dass die Qualität der Kräuter und Mittel stimmt. "Der Missbrauchsgrat und Aberglaube ist in diesem Bereich besonders hoch. Umso mehr ist es zu schätzen, wenn dieses Feld nicht nur den Esoterikern überlassen wird."
Ohnehin ist in vielen Teilen der Welt Pflanzenheilkunde - mangels Zugang zu synthetischen Arzneimitteln - die einzige Behandlungsmöglichkeit. In Europa sind Deutschland und Frankreich mit 50% die größten Absatzmärkte für Phytopharmaka.
Die Idee zu den Kursen kam Claudia von Selle jedoch bei einem ihrer zahlreichen beruflichen New York-Aufenthalte. "Ich sah, dass in den USA viele Anwälte einen Personal Trainer und Food Coach haben. Die Gesundheitsvorsorge gilt dort als Mittel zur Existenzsicherung - welche durch längere Erkrankungen gefährdet wird." Dort werde der menschliche Körper mehr als Maschine betrachtet, die man warten muss.
Auch bei Claudia von Selles Kursen steht die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Vordergrund, ihr Angebot richtet sich vor allem an gesunde Kollegen. "Mittlerweile ist auch in Deutschland Vorsorge das Schlüsselwort der Krankenkassen. Allerdings fehlt es dafür noch an entsprechender professioneller Begleitung. Sie spielt sich irgendwo zwischen Wellness-Hotel und Arztbesuch ab." Die Phytotherapie soll die Lücken zwischen Ärzten und Apotheken füllen, denen oft das phytotherapeutische Wissen fehle und die meist nicht die individuellen Bedürfnisse einschätzen könnten. "Oft geht es bei uns um Vorsorgeschutz vor Infekten. Oder auch Schlafmangel und Stress. Um diesen zu kurieren, benutzen wir z.B. die Taigawurzel, die schon bei russischen Militärfliegern zur Stressbewältigung eingesetzt wurde. Meistens berate ich Kollegen darüber vor Großmandaten."
Wurzeln in einer Medizinerfamilie
Claudia von Selle hat ihre Ausbildung vor knapp zwei Jahren an der Heilpflanzenschule ihrer heutigen Geschäftspartnerin Natascha von Ganski in Berlin absolviert. Gegenstand der Lehre sind sowohl chemische, botanische als auch geschichtliche und medizinische Grundlagen der Heilpflanzenkunde. "Es gibt mittlerweile unzählige Anbieter dieser Ausbildung auf sehr unterschiedlichem Niveau", meint die Anwältin. "Es gibt keine festen Lehrpläne, es reicht also vom Wochenendseminar bis zur mehrjährigen Ausbildung. Eine Einführung von Mindeststandards würde dem Ansehen der Phytotherapie sicher gut tun."
Doch wie kommt man als Juristin auf Phytotherapie? "Da ich aus einer Medizinerfamilie komme, gab es sicher schon immer bei mir ein Grundinteresse für medizinische Themen." Auch wegen der verschiedenen Aspekte, die in der Phytotherapie vereint werden: Chemie, Botanik, Geschichte und Medizin. "Im Unterschied zur Homöopathie - mit der sie oft in einen Topf geworfen wird - faszinieren mich die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten: Von der Creme oder Tinktur bis zu Tee, Wickeln, Auflagen, Tropfen, ätherischen Ölen. Hauptsache es riecht und sieht farbig aus", scherzt die Anwältin. Probleme gab es damals nur kurzzeitig mit der Berliner Anwaltskammer. "Als ich vor der Aufnahme meiner Beratungstätigkeit nachfragt habe, ob es Einwände gegen diese Nebentätigkeit gebe, habe ich die wohl ganz schön ins Schwitzen gebracht", grinst Claudia von Selle. "So eine Anfrage hatten sie noch nie gehabt. Aber dann haben sie letztlich mein Projekt durchgewunken."
Mehrere Leben in einem
Dabei lebt die Anwältin auch abseits der Pflanzenheilkunde ein außergewöhnliches juristisches Leben, wie ihr Büro mit breiter Fensterfront und Blick auf den Walter-Benjamin-Platz bezeugt – es ist vollgestopft mit Skulpturen der Stiftung für Bildhauerei, deren Vorsitz sie momentan innehat. "Damit erfülle ich wohl alle Klischees einer Kunstrechtsanwältin", sagt Claudia von Selle und lacht. "Aber ich bringe es nicht übers Herz, die Skulpturen in den Keller zu verdammen. Zumindest solange nicht, bis ein längerfristiger Ausstellungsort gefunden ist."
Naheliegend auch, dass ein weiterer Schwerpunkt der Anwältin das Medizinrecht ist. Doch als Medizinerin hatte sich Claudia von Selle nie gesehen. "Schon allein das sture Auswendiglernen hat mich abgeschreckt." Am Jurastudium hingegen schätzte sie, dass man eigenständiges Denken und Arbeiten lernen würde. "Für die Kunst fehlten mir das Talent und für das Medizinstudium der Fleiß. Dennoch sind es die beiden Gebiete, zu denen es mich schon mein Leben lang hingezogen hat."
Ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit Mandanten schildert sie in einem Blog – auch wenn Claudia von Selle am Anfang Angst hatte, das könnte im strukturkonservativen juristischen Milieu als unseriös angesehen werden. "Das hat sich zum Glück nicht bestätigt. Erst durch den Blog ist mir bewusst geworden, dass Menschen, die sich für Kunst interessieren, in der Regel auch sehr offen für Themen aus dem Medizinbereich sind - und anders herum." Sogar Leser aus Frankreich, Russland und dem englischsprachigen Räumen folgen der Berlinerin, was sicherlich auch an ihren zahlreichen Mandanten im Ausland liegt. "Ich vermute auch, dass mir das Leben in Deutschland allein zu eng wäre - obwohl ich gern hier lebe. Denn ich merke, dass ich trotz der Unruhe, die eine berufliche Auslandsreise mit sich bringt, doch auch immer geistig erfrischt wiederkomme." Die vielseitig interessierte Claudia von Selle lebt also mehre Leben in einem - und sagt von sich selbst: "Seit ich Kunst, Medizin und Recht in meine Tätigkeit integrieren kann, bin ich höchst zufrieden mit dem Anwaltsberuf."
Christian Grohganz, Taigawurzel vor Großmandaten: . In: Legal Tribune Online, 18.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5591 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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