Kai Ambos hat eine umfassende Analyse des Strafrechts der Nationalsozialisten vorgelegt. Er schildert darin die Kontinuität und Radikalisierung des Strafrechts vor und nach 1945 – und wie die "neue Rechte" heute daran anknüpft.
Es hat lange gedauert, bis sich die deutsche Strafrechtswissenschaft intensiv und ohne Scheuklappen mit ihrer Rolle während des NS-Regimes beschäftigt hat. Und nach der Lektüre des im Januar erschienen Werkes des Göttinger Strafrechtslehrers Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos "Nationalsozialistisches Strafrecht – Kontinuität und Radikalisierung" weiß man auch wieder warum: Über viele Jahre noch nach 1945 wirkten maßgebliche NS-Strafrechtslehrer an deutschen Universitäten fort; aktuelle Lehrbücher tragen noch immer ihre Namen und auch ein Blick ins heutige Strafgesetzbuch (StGB) zeigt, dass einige Tatbestände, wie etwa der Nötigungs- oder der Untreueparagraf, noch immer den Geist der NS-Zeit "atmen".
Kai Ambos weist auf diese Kontinuitäten gleich zu Beginn seines Werkes hin: "Das NS-Strafrecht kam weder aus dem Nichts noch ist es nach 1945 völlig verschwunden. Nach 1945 bestand eine personelle und sachliche Kontinuität "auch und gerade im Hochschulbereich", schreibt Ambos. Am Beispiel des Straftatbestandes der Untreue beschreibt er an späterer Stelle, wie sehr der heutige § 266 StGB mit seiner Orientierung am Treuegedanken ("NS-Treuegedanke") letztlich für Ambos "ein Vermächtnis nationalsozialistischer Gesetzgebungstechnik darstellt". Daran ändere auch ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nichts, das 2010 erklärt hatte, dass die dem Paragrafen heute zugrunde liegenden Wertungen nicht als nationalsozialistisches Gedankengut anzusehen seien (Beschl. v. 23.06.2010, Az. 2 BvR 2559/08).
Ambos lehrt Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht ausgerechnet an der Universität in Göttingen, wo in den 1950er und 1960er Jahren einer der bedeutendsten Strafrechtslehrer der NS-Zeit, Friedrich Schaffstein (1905-2001) – nach einer kurzen Phase der Suspendierung – weiter lehren durfte. Schaffstein repräsentierte während der Nazi-Zeit gemeinsam mit Georg Dahm (1904-1963) für den Bereich Strafrecht die berüchtigte Kieler Schule.
Diese galt während der NS-Zeit als eine Art nationalsozialistische Jura-Musterfakultät und wurde daher auch "Stoßtruppenfakultät" genannt. Wer in Kiel als Jurist lehrte, hatte die NS-Ideologie absolut verinnerlicht. Die Kieler Schule wollte, so beschreibt es Ambos, in Überwindung jeglicher Relikte des aufgeklärten Liberalismus – und in deutlicher Abgrenzung zum "nationalsozialistisch aufgeladenen Neukantianismus der Marburger Schule" – ein eigenständiges NS-Strafrecht entwickeln. Sie wurde damit zur bedeutendsten strafrechtlichen Stütze des NS-Regimes.
"Gesundes Volksempfinden" und Führerwille
Wie Ambos erläutert, hatten Dahm und Schaffstein bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in ihrer programmatischen Schrift "Liberales oder autoritäres Strafrecht" vorgezeichnet, wie das "rationalistische-individualistische Denken" auf strafrechtlichem Gebiet mittels des Nationalsozialismus zu überwinden sei. Mit ihren Ideen bereiteten sie so die kriminalpolitischen Grundlagen für den totalen rassistischen Volks- und Führerstaat mit seinem gesetzesgleichen Führerbefehl.
Aufgenommen wurden die Kieler Thesen nicht zuletzt vom berüchtigten, späteren Präsidenten des Volkgerichtshofes, Roland Freisler. Dieser machte, wie Ambos anhand diverser Fundstellen erläutert, das Konzept der "rassisch-blutsmäßig verstandene Volksgemeinschaft zur zentralen Grundlage des NS-Strafrechts".
Freisler propagierte einen von formalen Bindungen freien materiellen Rechts- und Unrechtsbegriff, der in der "völkischen Sittenordnung" wurzeln sollte. Als Rechtsgrundlage sollte den Gerichten im Zweifel das "gesunde Volksempfinden" dienen – wobei der Inhalt dieses Volkswillens selbstverständlich der nationalsozialistischen Rechtsidee entsprechen musste und damit am Ende dem Führerwillen. Die Grenzen der richterlichen Rechtsfindung im NS-Führerstaat hatte NS-Strafrechtler Schaffstein, wie Ambos darlegt, 1934 klar umrissen: Maßgeblich sei für die Richter das "den Führerwillen repräsentierende Gesetz" und gegebenenfalls der Führerbefehl.
"Rekonstruktion des germanischen Mythos durch die neue Rechte"
Ambos versteht das NS-Strafrecht als "rassistisch (antisemitisch), völkisch ('germanisch') und totalitär ausgerichtete Fortschreibung der autoritären und antiliberalen Tendenzen des deutschen Strafrechts der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik". Diese Kontinuität reiche bis in die Gegenwart: So schließe der "zeitgenössische Versuch der identitären Rekonstruktion des germanischen Mythos durch die neue Rechte" daran nahtlos an. Der von ihr betriebene Politikstil ersetze im digitalen Zeitalter den argumentativen Diskurs durch ein vermeintlich unmittelbares Zustimmen in einer virtuellen Volksgemeinschaft.
Ambos erläutert in seiner Publikation eindrucksvoll, wie die beiden strafrechtlich-akademischen Hauptrichtungen in der NS-Zeit – "Stroßtruppenfakultät" Kiel sowie die offenbar etwas weniger fanatische Marburger Schule – sich zur politischen Aufgabe bekannt hatten, die Verwirklichung des NS-Staates auch mit strafrechtlichen Mitteln voranzutreiben. Dogmatisch diente hierzu auch die Abkehr vom liberalen "Rechtsgutsverletzungsstrafrecht" hin zum "Gesinnungsstrafrecht".
Dass Kai Ambos nunmehr überhaupt eine eigene Analyse zum NS-Strafrecht vorgelegt hat, ist übrigens eher Zufall: Denn im Grunde wollte der Göttinger Hochschullehrer, der auch als ausgewiesener Lateinamerika-Kenner gilt, eigentlich nur die 2017 erschienene Abhandlung des berühmten argentinischen Strafrechtslehrers Eugenio Raul Zaffaroni zur nationalsozialistischen Strafrechtsdogmatik rezensieren. Herausgekommen ist dabei jedoch jetzt eine über 140-Seiten starke, selbständige Abhandlung, die Zaffaronis Thesen nur zum Anlass für eigene Ansätze und Untersuchungen nimmt.
Und auch wenn es mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur NS-Strafrechtsdogmatik und ihren maßgeblichen Protagonisten gibt: Kai Ambos vermag mit seinem Werk auch im Jahr 2019 noch einmal die Augen dafür zu öffnen, wie sehr unser aktuelles Strafrecht vom Nationalsozialismus und seinen Anhängern geprägt wurde.
Die Liste der Strafrechtslehrer, die während des Dritten Reichs für ein nationalsozialistisches Strafrecht eintraten, ist lang. Und Ambos lässt keinen Namen aus. Dass viele von ihnen im Übrigen nach 1945 mit Festschriften besonders gewürdigt wurden, hat der mittlerweile emeritierte Strafrechtsprofessor Eberhard Wolf seinerzeit beklagt: "Man hat nicht nur 'großen Frieden' mit den Hauptpersonen der NS-Strafrechtswissenschaft gemacht, sondern man deckt ihr Versagen bis heute", formulierte Wolf in einem viel beachteten Aufsatz Mitte der neunziger Jahre. Der "Kieler" NS-Strafrechts-Vordenker Schaffstein beispielsweise blieb auch nach 1945 ein herausragender Vertreter des Jugendstrafrechts. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" existiert mittlerweile in der 15.Auflage.
"Buch, mit der die herrschende Meinung Mühe haben wird"
Kai Ambos nimmt in seinem profunden Werk kein Blatt vor den Mund, relativiert die Verfehlungen der eigenen Zunft nicht, sondern zeigt sich vielmehr verwundert, dass sich kaum einer der in der NS-Zeit überzeugten Nazi-Strafrechtler später von seinen früheren Lehren distanziert hat. Selbst Ikonen der deutschen Strafrechtswissenschaft – wie etwa Hans Welzel – verschont Ambos nicht. In Welzels berühmter finaler Handlungslehre, die jeder Jurastudent in den ersten Strafrechts-Semestern lernt und die den Verbrechensaufbau auch heute noch prägt, sieht er eine nicht zufällige Nähe zur nationalsozialistischen Strafrechtslehre: Auch diese sei von einer "finalistischen Grundhaltung“, nämlich von der Finalität des NS-Staates geprägt gewesen.
Nicht zuletzt Welzels Mitgliedschaften in NSDAP und im NSD-Dozentenbund belegten, so Ambos, dass sich Welzel eindeutig zum Nationalsozialismus bekannt und als Wissenschaftler sich dem Regime "jedenfalls ideologisch angedient" habe. Natürlich wurde auch Welzel 1974 mit einer Festschrift anlässlich seines 70. Geburtstages geehrt.
Kai Ambos hat mit seiner mutigen Veröffentlichung alles richtig gemacht – gerade in einer Zeit, in der in vielen europäischen Ländern Rechtspopulisten an die Macht kommen und sich auch das Strafrecht vorknöpfen. Fast überschwänglich fällt daher auch das Lob von namhaften Strafrechtsprofessoren wie unter anderem Claus Roxin, Günther Jakobs, Albin Eser und Wolfgang Naucke aus.
Letzterer bezeichnete Ambos' Werk als "ein gehaltvolles Buch, das für die Bestimmung des Gegenstandes der modernen Strafrechtswissenschaft wichtig ist, jedenfalls werden sollte". Allerdings rechnet Naucke auch damit, dass die vorherrschende Meinung im Strafrecht Mühe haben werde, "die Themen aufzunehmen, die hier mit Klarheit ausformuliert werden". Kai Ambos dürfte genau dies einkalkuliert haben.
Kai Ambos, "Nationalsozialistisches Strafrecht - Kontinuität und Radikalisierung", erschienen im Nomos-Verlag in der Reihe "Grundlagen des Strafrechts", ISBN 978-3-8487-5631-5 (Print), 978-3-8452-9714-9 (ePDF)
Buchrezension zu Kai Ambos' "Nationalsozialistisches Strafrecht": . In: Legal Tribune Online, 26.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34055 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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