Im Januar 1922 musste sich Adolf Hitler wegen Landfriedensbruchs vor dem Bayerischen Volksgericht in München verantworten. Ihn erwartete Milde. Es sollte nicht das letzte Entgegenkommen der bayerischen Justiz sein, wie Sebastian Felz zeigt.
Nach vier Jahren Krieg kehrte der Gefreite Hitler 1918 nach München zurück. Er war fast 30 Jahre alt, familien-, berufs- und mittellos und nutzte daher die Möglichkeiten, die das Militär ihm (wieder einmal) bot. Zwischen Niederschlagung der Räterepublik und Rückkehr der gewählten Landesregierung aus dem Bamberger Ausweichquartier im August 1919 herrschte das Militär in Bayern. Mitte Juli 1919 nahm Hitler an politisch-weltanschaulichen Kursen der Nachrichtenabteilung der Reichswehr teil und erhielt einen Crashkurs in Antibolschewismus, Kriegsschuldlüge, Nationalismus sowie Antisemitismus.
Im September 1919 besuchte er eine Versammlung der "Deutschen Arbeiterpartei", die von seinen Reichswehrvorgesetzen gefördert wurde und im Januar 1919 von einem Werkzeugschlosser und einem Sportjournalisten gegründet worden war. Ihr Ziel war es, die Arbeiterschaft durch Nationalismus und Antisemitismus von der politischen Linken wegzulocken. Hitler trat im Oktober 1919 in diese 200 Mann starke rechtsextreme Splitterpartei ein, die von wichtigen Organisationen des Rechtsextremismus (Thule-Gesellschaft, Alldeutscher Verband, Völkischer Schutz- und Trutzbund) sowie der Reichswehr unterstützt und für deren jeweilige Ziele eingesetzt wurde. Schon Anfang 1920 sprach Hitler vor tausenden von Zuhörern.
Ab Frühjahr 1920 war die NSDAP ein Werkzeug der rechtskonservativen bayerischen Regierung, um den Konflikt mit der Reichsregierung in Berlin zu forcieren. Die Partei wuchs 1920 auf 2.000 Mitglieder an. Mit Geldern der Reichswehr kaufte Hitler den "Völkischen Beobachter", mit Empfehlungsschreiben des Münchener Polizeipräsidenten ("ein außerordentlicher und tatkräftiger Verfechter unserer gemeinsamen Ideen") warb er zudem um Gelder in Berlin.
"Eine bewegende Kraft, ein Volksredner 1. Ranges"
Dieses Lob des Reichswehrvorgesetzten reichte Hitler nicht mehr. Im Sommer 1921 ließ er sich zum "ersten Vorsitzenden mit diktatorischen Machtbefugnissen" der NSDAP inthronisieren. Als zur gleichen Zeit auf Druck der Alliierten die paramilitärischen Einwohnerwehren im Deutschen Reich aufgelöst werden mussten, unterstützte die Reichswehr Wehrverbände wie die Turn- und Sportabteilung der NSDAP, später Sturmabteilung (SA). Diese Schlägertruppe nutzte Hitler zum wortwörtlichen "Kampf" gegen den politischen Gegner.
Ein gefährlicher Kontrahent in der damaligen Zeit war Otto Ballerstedt, der im Herbst 1918 den zeitweise sehr erfolgreichen Bayernbund gegründet hatte. Mit den Farben "weiß-blau" stand Ballerstedt für ein starkes Bayern in einem streng föderalistisch aufgebauten Deutschen Reich. Für Hitler war Ballerstedt ein "Separatist", und auch nach Jahrzehnten erinnerte sich Hitler in seinen Monologen im "Führerhauptquartier" an den gefährlichen Gegenspieler um die Vormachtstellung in der "Ordnungszelle Bayern". Ballerstedt wurde 1934 ("Röhm-Putsch") ermordet.
Im Januar 1921 strengte Ballerstedt zunächst als Privatkläger einen Prozess vor dem Schöffengericht an. Hitler habe behauptet, Ballerstedt hätte sich während einer Rede in Salzburg gegen den Anschluss Österreichs an das Reich ausgesprochen. Des Weiteren habe Hitler Ballerstedt des Landesverrats bezichtigt und ihn "Französling" genannt. Hitler wurde wegen einer fortgesetzten üblen Nachrede zu 1.000 Mark Geldstrafe verurteilt. Die Berufung Hitlers vor dem Landgericht München I hatte keinen Erfolg.
Haft im Gefängnis Stadelheim
Mitte September 1921 stürmten Hitler und andere NSDAP-Anhänger eine von Ballerstedt geleitete Versammlung im Münchener Löwenbräukeller. Der erste Biograph Hitlers, Konrad Heiden, beschreibt die Szene so:
"An der Spitze einer mit schweren Eichenstöcken bewaffneten Bande dringt er in die Versammlung eines Rivalen um die Volksgunst, eines gewissen Ballerstedt, ein. Hitler und Esser stürmen mit geschwungenem Spazierstock das Podium, und auf Ballerstedt hagelt es Schläge. Die Polizei kapituliert wieder einmal; der arme Wachmeister weiß, daß Hitler bei seinen Vorgesetzen tausendmal mehr gilt als er und bittet schüchtern: 'Herr Hitler, Sie sehen selbst, hier gibt es ja Tote, bringen Sie doch Ihre Leute zur Räson!' Hitler wirft einen Siegerblick über das Schlachtfeld und sagt gnädig: 'Schön, der Zweck ist ja erreicht, Ballerstedt spricht heute nicht mehr!'."
Hitler wurde Mitte Januar 1922 wegen dieser Tat vor dem bayerischen Volksgericht angeklagt und wegen Landfriedensbruchs (§ 125 Strafgesetzbuch) zu einer Freiheitsstrafe von 100 Tagen und zur Zahlung von 1.000 Reichsmark verurteilt. In einem Beschluss vom 18. Februar 1922 hatte Landgerichtsdirektor Georg Neidhardt sein Urteil als für zu hart angesehen und eine teilweise Bewährungsstrafe für angemessen erachtet. Nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft musste das Bayerische Oberste Landesgericht entscheiden. Mitte März 1922 verwarf es die staatsanwaltliche Beschwerde und führte aus: " […] dass die Angeklagten durchweg gut beleumundet sind und eine im Wesentlichen straffreie Vergangenheit hinter sich haben sowie dass ihre an sich nicht zu rechtfertigende Handlungsweise nicht der Ausfluss gemeiner Gesinnung, sondern hemmungsloser politscher Leidenschaft gewesen ist".
Die Haftstrafe saß Hitler schließlich von Ende Juni bis Ende Juli 1922 im Gefängnis Stadelheim ab, wobei er nur einen Monat in Haft verblieb. Die restlichen 70 Tage wurden zur Bewährung bis 1926 ausgesetzt. Noch am 22. Juni 1922 hatte Hitler vor Antritt seiner Gefängnisstrafe über "Wahrhaftigkeit als Grundlage politischen Handelns" gesprochen. Der "Völkische Beobachter" bat um reges Erscheinen ("Volksgenossen, erscheint in Massen").
Bayerische Volksgerichte: Ausnahme- oder Sondergerichte?
Im ersten Gerichtsverfahren, das für Hitler mit einer - wenn auch kurzen - Haftstrafe endete, musste er sich vor einem besonderen Gericht, nämlich dem Bayerischen Volksgericht, verantworten. Im November 1918 hatte die Regierung Kurt Eisners in Anknüpfung an ältere standrechtliche Traditionen eine besondere Gerichtsbarkeit für Schnellverfahren und harte Bestrafung von Kapitaldelikten wie Mord und Totschlag, Raub und Brandstiftung sowie Landfriedensbruch durch eine "Verordnung über die Errichtung von Volksgerichten" institutionalisiert.
Das Gericht hatte eine stark laienrichterliche Ausrichtung, weil es sich bei dem Spruchkörper aus fünf Richtern mehrheitlich um Laien handelte. Da die Verfahrensordnung auf Schnelligkeit ausgelegt war, wurden die Urteile aufgrund eines summarischen und mündlichen Verfahrens gefällt. Sie waren sofort vollstreckbar und kein Rechtsmittel war zulässig. Verurteilte konnten nur um Gnade bitten. Die Quote der Fehlurteile war immens hoch. Genannt seien nur das Urteil für den Mörder Kurt Eisners, Anton Graf Arco-Valley (zwar Todesurteil, aber keine Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, dann Begnadigung), gegen den Eisner-Sekretär Felix Fechenbach (elf Jahre Zuchthaus und zehn Jahre Aberkennung der Ehrenrechte u. a. wegen eines Artikels über die Kriegsschuld) und schließlich das milde Urteil für die Putschisten Adolf Hitler und Erich Ludendorff.
Erst 1924 führte der Gesetzgeber in Berlin gegen erbitterten Widerstand in München die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens in Leipzig (Reichsgericht) ein.
Die Zulässigkeit dieser Gerichtsbarkeit mit der Weimarer Reichsverfassung (WRV) war umstritten. Während die bayerischen Befürworter sich auf Art. 105 S. 3 (Zulässigkeit von Standgerichten im Ausnahmezustand) und Art. 178 Abs. 3 WRV (Wirksamkeit von vorkonstitutionellen Anordnungen) stützten, wurde von den Gegnern Art. 48 Abs. 2 WRV als ausschließliche Kompetenz zur Regelung des Ausnahmezustandes für das Reich gesehen: Die bayerischen Sondergerichte seien verfassungswidrig.
Nach Niederschlagung der Münchner Räterepublik nutzten die rechtskonservativen Kräfte der nun regierenden bayerischen Volkspartei die Sondergerichtsbarkeit und gaben ihr im Juli 1919 mit dem "Gesetz über die Einsetzung von Volksgerichten bei inneren Unruhen" eine rechtliche Grundlage.
Die bayerischen Volksgerichte wurden zur rechtlichen "Vergangenheitsbewältigung" und zur Beseitigung der Folgen der Novemberrevolution von 1918 genutzt. In über 31.000 Urteilen der in allen Landgerichtsbezirken Bayerns (außer der französisch besetzten Pfalz) eingesetzten Volksgerichte zeigten diese sich vielfach auf dem rechten Auge blind, während für Anhänger der Räterepublik harte Strafen ausgesprochen wurden. Diese Gerichte bestanden bis zum April 1924. Nur das Volksgericht München I blieb bis Mitte Mai 1924 bestehen, da hier noch der Hochverratsprozess gegen Hitler und Ludendorff zu Ende geführt werden sollte.
"Ein Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler"
Hitler stand nun zum zweiten Mal vor dem bayerischen Ausnahmegericht. Nach 24 Verhandlungstagen verkündete – der schon aus dem Ballerstedt-Verfahren bekannte – Landgerichtsdirektor Georg Neidhardt Anfang April 1924 das Urteil über Hitler und seine Mitputschisten.
Eigentlich hätte dieser Prozess vor dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik in Leipzig stattfinden müssen. Das bayerische Justizministerium wehrte sich jedoch erfolgreich gegen eine Verhandlung vor dem Reichsgericht. Hitler wurde zu einer Geldstrafe und fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet, außerdem wurde den Angeklagten nach Verbüßung von sechs Monaten Festungshaft eine Bewährung für den Strafrest in Aussicht gestellt, was einen recht ungewöhnlichen Rechtsfolgenausspruch darstellte. Dass Hitler noch innerhalb der Bewährungsfrist aufgrund der Ballerstedt-Verurteilung war, wurde unerklärlicherweise übersehen, obwohl Neidhardt doch auch im Januar 1922 den Vorsitz im Verfahren geführt hatte.
Diese Bewährung hätte schon im Frühjahr 1923 widerrufen werden müssen, da Hitler am 1. Mai 1923 auf dem Oberwiesenfeld Mannschaften zusammengezogen hatte, um eine Gewerkschaftskundgebung auf der Theresienwiese zu stören. Das Verfahren wegen Landfriedensbruchs und Bildung bewaffneter Haufen (§ 127 StGB) wurde "auf ruhigere Zeiten" verschoben. Hitler selbst wandte sich mit entsprechenden Rechtsausführungen an die bayerische Justiz.
Schließlich kam für das Gericht 1924 die Ausweisung des österreichischen Staatsbürgers Adolf Hitler gemäß § 9 Abs. 2 des Republikschutzgesetzes für "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler" nicht in Betracht. Anhänger einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung spekulieren darüber, ob durch eine Ausweisung die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Der Weltgeist, der sich an Verwaltungsakte bayerischer Behörden hält? Das ist hier eine sehr deutsche, aber auch eine sehr schöne Vorstellung.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn), Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte und dankt John Philipp Thurn für seine Hinweise.
Adolf Hitler vor dem Volksgericht: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47207 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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