16 Staatsrechtslehrer aus Deutschland und Österreich trafen sich im Dezember, um sich über die sog. Flüchtlingskrise auszutauschen. Ihre Beiträge gibt es nun als Buch. Professorale Analyse, zum Teil überraschend naiv, meint Martin Rath.
Unter dem etwas pathetischen Titel "Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht" haben Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter einen in seinen Positionen gelegentlich fast weinerlichen, in mancher Tonlage etwas komischen, insgesamt aber durchaus bedenkenswerten Sammelband vorgelegt.
Bemerkenswert ist schon das Bemühen um Aktualität. Dass eine Runde von Staatsrechtslehrern binnen drei Monaten zu einer politischen Streitfrage einige doktrinäre und weltanschauliche Positionen ihrer Zunft zusammenträgt, hat in diesem Bemühen um Aktualität Seltenheitswert. Leider geht mit diesem Bemühen einige professorale Aufgeregtheit einher.
Flüchtlingsfluten lassen den Professor wallen
In seinem Beitrag "Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus" stellt beispielsweise Otto Depenheuer die aktuelle Zuwanderung nach Deutschland als Ergebnis eines deutschen Idealismus dar. Der finde seinen Ursprung bereits in Friedrich Schillers "Alle Menschen werden Brüder" sei das wohlfundierte Staats- für ein nebulöses Weltbürgertum aufzugeben bereit – oder auch wieder nicht, wenn denn ein sogenannter Ernstfall eingetreten sei, den zu erkennen in Deutschland traditionell einzig rational denkenden Rechtsgelehrten vorbehalten ist.
Die Migrantinnen und Migranten geraten Depenheuer dabei zur gesichtslosen "Flut". Eine feste Burg war unser Staat, mit Betonung auf dem Präteritum: "Wenn Flüchtlingswellen mit ungehinderter Wucht andere Staaten überfluten, dann werden nicht nur deren überkommene normative Regelwerke zur Disposition gestellt, sondern dann können diese buchstäblich lawinenartig mitgerissen werden."
Zutreffende Prognosen und Analysen finden sich zwar. Wenn, wonach es jetzt aussieht, die hässliche Arbeit des Grenzregimes von der türkischen Staatsgewalt besorgt werden soll, vermutlich nach Kassenlage, kündigte sich dies für Depenheuer schon im Dezember an. Auch die Widersprüche in der Rhetorik der Bundeskanzlerin legt er wohl zutreffend dar.
Ärgerliche Furcht vor der eigenen Courage
Ärgerlich ist es aber, wenn Depenheuer behauptet, dass die behauptete idealistische "Hypermoral" in Deutschland einer "sachbezogenen und offenen politischen Diskussion staatsrechtlicher Grundfragen nur noch enge, moralisch überwachte Korridore zulässiger Argumentation" bereitstelle.
Statt selbst Position zu beziehen, sich darüber beschweren, dass man nicht sagen könne, was man für richtig hält? Im (digitalen) Marktplatzgeschrei der Gegenwart greift die Furcht davor, die eigenen Positionen in all ihren Konsequenzen verantwortlich zu vertreten, doch schon mehr als genug um sich. Argumentativ unbedarften 'besorgten Bürgern' lässt sich die Weinerlichkeit dieser rhetorischen Figur mit einiger Mühe verzeihen, aber ist sie im akademischen Diskurs mit seinen besonderen Freiheitrechten nicht ein wenig unwürdig?
Kein Begriff vom Leben zwischen den Stühlen
Nun gibt die im vorliegenden Band versammelte Staatsrechslehrerschaft nicht insgesamt das Bild eines königlich-preußischen Feldgeistlichen ab, der überrascht bemerkt, dass es keine Waffen mehr gibt, die gesegnet werden wollen, um die Grenzwacht zu betreiben.
Kyrill-A. Schwarz, Professor für öffentliches Recht in Würzburg, prüft beispielsweise die Notstandsvorschriften des Grundgesetzes auf ihre Tauglichkeit in der aktuellen Migrationsproblematik. Starke Instrumente entdeckt er dabei nicht. Immerhin attestiert er, dass es sich dabei um keinen überraschenden Befund handelt.
Ein bemerkenswertes Defizit in der staatsrechtlichen Zunft entdeckt Martin Nettesheim, Lehrstuhlinhaber für öffentliches Recht in Tübingen. Er setzt sich nicht nur durchaus skeptisch mit der Leistungsfähigkeit eines "ontologischen Staatsdenkens" auseinander, mit der sich letztlich jeder Status quo zur gottgewollten Norm erheben lässt. Auch ein wenig zeitgeistiges Händeringen darüber, dass "millionenfache Zuwanderung nicht ohne Rückwirkungen auf die Zusammensetzung und eingespielten Praktiken politischer und sozialer Gemeinschaftlichkeit" bleibe, fehlt nicht. Vor allem aber macht Nettesheim darauf aufmerksam, dass die Staatsrechtslehre und die Verfassungsdogmatik mit Blick auf Menschen, die zwar hier, aber (noch) nicht Staatsbürger sind, keine rechte Weisheit entwickelt habe.
Für Menschen im Dazwischen, für Metöken und Pfahlbürger, fehlt die Aufmerksamkeit. Beispielsweise sei das Kommunalwahlrecht für EU-Bürger verfassungsdogmatisch nicht ernsthaft begriffen worden.
Staatsgrenze soll Ort des vergotteten Staats bleiben?
Wenn Staatsgrenzen physisch Menschen kaum davon abhalten, von einem Staatsgebiet in das andere zu wechseln, beziehungsweise die staatlichen Hinderungsmittel darauf hinauslaufen, "Unsagbares" (Depenheuer) zu tun, dann ist die Staatsgrenze vielleicht einfach kein guter Topos, um Fragen von Ein- und Ausgrenzung, Integration, von "eingespielten Praktiken politischer und sozialer Gemeinschaftlichkeit" (Nettesheim) zu diskutieren.
Hier verwundert es doch, wie sehr sich die konservative Fraktion der Staatsrechtslehrerschaft von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, etwa zum kommunalen Ausländerwahlrecht, hat gefangen nehmen lassen. Ein konservativer Professor Pyrrhus hat hier 1990 wohl gesiegt, Aktenzeichen 2 BvF 2, 6/89. Dass es selbst unter den Bedingungen einer heimlich fortgesetzten Staatsvergottung und der entsprechenden Behandlung des Nicht-Staatsangehörigen als potenziellem polizeiwidrigen Störer die Kommunen sind, die Unterbringungs- und Integrationsleistungen schultern, könnte einer Rechtswissenschaft, in der die "Zeiten eines … wirklichkeitsblinden staatsrechtlichen Positivismus" längst vorbei sein sollten, aufgefallen sein.
Über kommunale Bürgerrechte zu sprechen statt über mangelnde Deportationsbereitschaft gegenüber geduldeten Ausländern, Orientierung in der Geschichte des Schweizervolks zu suchen statt in einer eher legendären Geschichte deutscher Rechtsstaatlichkeit, das Angebot von bald 30 Jahren kommunitaristischer Diskussionen über den Ort der freiheitsverbürgenden Grenzen annehmen, das gute, alte katholische Subsidiaritätsprinzip oder germanistische Genossenschaftslehren rezipieren – sollte das für eine konservative Staatsrechtslehre, die antik bleiben, aber mit dem Fortschritt gehen möchte, nicht fruchtbar zu machen sein?
Daran muss man glauben oder es komisch finden
"Als ein Volk einheitlicher Kultur und Geschichte, einheitlicher Sprache und einheitlicher Grundgesinnung wollen wir diese Gemeinschaft auch in der staatspolitischen Ebene wieder werden", zitiert Dietrich Murswiek einen unserer liebsten Verfassungsväter, den Abgeordneten des Parlamentarischen Rats, Dr. Hans-Christoph Seebohm (1903-1967), um jenes historisch, kulturell und ethnisch konstruierte Volk zu begründen, das heute als durch Zuwanderung apokalyptisch bedroht gilt.
Über die kühne These, in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hätte jemals ein Volk gelebt, das von "einheitlicher Kultur und Geschichte" sei und sogar eine "einheitliche Grundgesinnung" aufweise, lässt sich – je nach Tagesform – an sich schon laut auflachen oder -stöhnen.
Murswiek will den Staat unter anderem in die Pflicht nehmen, das deutsche Staatsvolk – sagen wir: in den Grenzen des Abgeordneten Seebohm – zu pflegen. Wohlan, so kann man Ernst-Wolfgang Böckenfördes endlos zitiertes Wort von den Voraussetzungen des Staates, die er selbst nicht hervorbringen könne, natürlich auch verstehen. Freilich, wenn man Rudolf Augstein glauben darf, mutet neben besagtem Dr. Seebohm sogar der selige Franz Josef Strauß wie ein windiger Linksliberaler an: Noch den wackren, antikommunistischen Sozialdemokraten sprach Seebohm gelegentlich ihr "Deutschtum" ab.
Identitätskonzepte, die von der Bundespolizei bewacht werden wollen, benötigen vielleicht andere Kronzeugen als den Verfassungsvater Dr. Seebohm.
Der von Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter herausgegebene Sammelband enthält zutreffende Analysen von inneren Widersprüchen in der migrationspolitischen Rhetorik der Bundesregierung und einen festen Glauben daran, dass die volatile Politik der Regierung sich an normativen Maßstäben der Staatsrechtslehre messen lasse. Das Werk vertritt die prinzipiell sympathische, vermutlich aber auch etwas idealistisch-naive Vorstellung, dass Politik nach Gründen für Entscheidungen suche, statt sich im Entscheidungspragmatismus zu erschöpfen – der zynischen Variante, die in "House of Cards" geboten wird oder einer abgeklärten, zu finden etwa im Werk von Niklas Luhmann.
Ein Probierstein auf die staatsphilosophische Gelassenheit ist "Der Staat in der Flüchtlingskrise" damit allemal, zur Positionsbestimmung empfohlen:
Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter (Hg.): "Der Staat in der Flüchtlingskrise". Zwischen gutem Willen und geltendem Recht. 1. Aufl. 2016, 272 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-506-78536-7, 26,90 Euro
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs, einer Ortschaft, in der Sizilien zu Deutschland gehört.
Martin Rath, Buch "Der Staat in der Flüchtlingskrise": . In: Legal Tribune Online, 27.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18890 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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