Ein Obdachloser verschafft sich durch falsche Selbstbezichtigung ein Dach über dem Kopf, indem er seine Inhaftierung provoziert. Das zieht einen Betrugsprozess wegen der ergaunerten Untersuchungshaft und Verpflegung nach sich. Dieser Vorgang aus dem Jahr 1960 wurde zum Lehrbuchfall, lädt aber auch zur Reflexion über andere verdrehte (Rechts-) Verhältnisse ein.
In der Folge "The Two Mrs. Nahasapeemapetilons" des TV-Dauerbrenners "The Simpsons" bezieht Homer für eine Nacht das Altersdomizil seines Vaters ("Hochzeit auf indisch", deutsche Erstausstrahlung 1998). Der anonym eingeschlichene Übernachtungsgast erlebt alles, was das Klischee vom höllischen Seniorenheim hergibt: Das Personal vergibt blindlings an jeden Beruhigungsmittel, wer zu faul zum kauen ist, erhält Flüssignahrung und als sich Homer über die beschwerlichen zwei Schritte zur Toilette beklagt, greift die Pflegekraft flugs zur Bettpfanne.
Diese Episode der pädagogisch wertvollen Serie zieht ihren Witz aus dem überraschenden Umstand, dass Homer Simpson, ein jedenfalls körperlich halbwegs gesunder Mann, die regressiven Methoden des pflegerischen Regimes regelrecht genießt – statt sie zu fürchten und zu verabscheuen, wie es zu erwarten wäre.
U-Haft als Fluchtort?
Ihre Mandanten gegebenenfalls vor Untersuchungshaft zu bewahren, dürfte für Strafverteidiger heute ein zentraler Gesichtspunkt ihrer Arbeit sein, sei es aus taktischen Gründen – oder weil Menschen im Allgemeinen eine Inhaftierung fürchten und verabscheuen. Geradezu pervers mutet daher das Verhalten jenes vermutlich zunächst anwaltlich nicht betreuten Angeklagten an, über den der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 11. März 1960 richtete, Az. 4 StR 588/59. Nach Ansicht der Gerichte hatte der spätere Angeklagte gegenüber der Polizei und dem Ermittlungsrichter sich selbst bezichtigt, fremde Autos geknackt zu haben, um in ihnen zu übernachten. Zweck seiner falschen Behauptung sei es gewesen, durch die Inhaftierung unentgeltlich an eine Unterkunft und eventuell an Verpflegung zu kommen.
Ein Irrtum, erregt bei Polizei und Richtern, ein unrechtmäßiger Vermögensvorteil in Gestalt von U-Haft und Gefängniskost, die Verfügung über das Vermögen der Landeskasse: es waren die Merkmale des Betrugstatbestands, die diesen – hoffentlich nicht nur für Nicht-Juristen – etwas verdreht wirkenden BGH-Tatbestand seit 1960 zu einem Lehrbuchfall machten.
Recht verdreht
Warum in diesem Fall die Strafverfolgungsbehörden den Weg in Richtung § 263 Strafgesetzbuch (StGB) einschlugen, darüber lässt sich füglich spekulieren. Mag sein, dass man den engeren Strafrahmen der 1943 eingeführten Strafnorm über das Vortäuschen einer Straftat, § 145d StGB, als unzureichend ansah: Sollten die richterlichen Feststellungen zum Motiv des Angeklagten zugetroffen haben, war es ihm also daran gelegen, mit der U-Haft an ein Bett und eine warme Mahlzeit zu kommen, könnte sich der Justizapparat schwer provoziert gefühlt haben.
Sich selbst zu bezichtigen, um in die Vorzüge eines Gefängnisbetriebs zu kommen – darin liegt ja tatsächlich eine Karikatur der herrschenden Ordnung, auf die selbst die Zeichner der "Simpsons" erst noch kommen müssen. Dabei scheint der Lehrbuchfall aus dem Jahr 1960 noch ein harmloses Beispiel dafür zu sein, dass Menschen die Strafgewalt des Staates auf sich selbst lenken, um auf eine sehr verquere Weise subjektive Vorteile aus jenem Prozess zu ziehen, der sich dann an ihnen vollzieht.
Freitod von der Hand des Henkers
Das äußerste Extrem einer Verkehrung herkömmlicher justizieller Rationalität sind aus dem 18. Jahrhundert überliefert, und es fällt schwer, noch die subjektiven Vorteile für jene Menschen zu erkennen, die sich seinerzeit selbst in die Mühlräder der Justiz warfen.
Melancholiker, die ältere Bezeichnung für mehr oder weniger stark depressive Menschen, hatten damals wohl kaum weniger mit Suizidgedanken zu kämpfen als ihre Leidensgenossen in der Gegenwart. Der Suizid war in der frühmodernen Gesellschaft nicht nur moralisch stark verpönt, auch die Staatsgewalt ging gegen den Selbstmörder vor: Die Hinterbliebenen konnten zugunsten des Fiskus enteignet werden, der Leichnam wurde vom Henker unter dem Galgen verscharrt – sofern regional nicht andere schimpfliche Rituale praktiziert wurden.
In einer nicht kleinen Zahl von Fällen entgingen "Melancholiker" diesen Umständen, indem sie ein Kapitalverbrechen begingen und sich zu ihrer Tat bekannten. Was folgte, war ein stark ritualisierter Strafprozess, in dessen Verlauf der Angeklagte – vielleicht zum ersten Mal im Leben – höchste Aufmerksamkeit genoss, beispielsweise vom Urteil bis zur Hinrichtung rund um die Uhr geistlichen Beistand erhielt. Zum Beispiel zählte es in Hamburg zum strafprozessualen Ritual, dass der Verurteilte noch einmal öffentlich der Predigt beiwohnte und die Sakramente empfing.
Ein solcher "Freitod von der Hand des Henkers" ermöglichte es dem Melancholiker, dem Leben ein Ende zu setzen, ohne weitere Sanktionen zu provozieren. Ein ehrenhaftes Begräbnis kam in Betracht. Indem sie die Strafjustiz gegen sich selbst richteten, bekamen die armen Geschöpfe ihren Willen.
Entfernt nur, glücklicherweise, klingt die verdrehte Situation an, über die der BGH 1960 urteilte.
Fidele Leprakolonie von Köln
Was könnte man sich, als Zeitreisender vielleicht, schlimmeres vorstellen, als von der Obrigkeit einer mittelalterlichen Stadt verdächtigt zu werden, eine ansteckende Krankheit zu verbreiten? Wer käme auf den Gedanken, sich selbst etwa als leprakrank zu bezichtigen?
Auf "Melaten", einem ehemaligen Siechenhof der Stadt Köln, kam das vor. Dort, wo heute der schönste Friedhof der Domstadt zu finden ist, entstand im 13. Jahrhundert – wie vielerorts in Europa – ein Asyl für Leprakranke, außerhalb der Stadtmauern und in direkter Nachbarschaft einer Hinrichtungsstätte.
Mit zeitweise über 100 Bewohnern sollte es das größte Siechenhaus Deutschlands werden. Doch waren, wie nicht erst neuere archäologisch-medizinische Ausgrabungen an den so genannten Leprosorien Westeuropas zeigen sollten, längst nicht alle Bewohner tatsächlich leprakrank.
Mit dem Wohnrecht und dem Wohnzwang in dem Asyl waren nämlich wertvolle Pfründe verbunden, etwa das Recht, exklusiv an lohnenden Plätzen zu betteln – was in dieser christlich geprägten Gesellschaft ein ganz anderes Ansehen hatte als heute. Ein guter Grund, sich selbst als seuchenkrank titulieren zu lassen.
Korrupte Beamte verdienten mit, indem sie falsche „Siechenbriefe“ ausstellten. Das Ende des Kölner Leprosoriums sollte sich erst Mitte des 18. Jahrhunderts – also nach rund 400 Jahren – abzeichnen, als herauskam, dass Melaten auch als Rückzugsort einer im Rheinland agierenden Räuberbande diente – man darf sicher davon ausgehen: Einer Bande von gewiss nicht leprakranken Räubern.
Ende der verdrehten Selbstbestimmung?
Was den vermutlich obdachlosen Angeklagten des Jahres 1960, die todessüchtigen Melancholiker des 18. Jahrhunderts und die vermeintlich leprakranken Bettler des späten Mittelalters vereint, ist ihr Versuch, der repressiven Gewalt des Staates einen Nutzen abzugewinnen. Auch wenn der sich oft nur noch als ein sehr subjektiver erklären lässt.
Fraglich bleibt, ob der strafende Staat der Gegenwart diesen verdrehten Weg der Selbstbestimmung noch kennt: Der Sozialstaat mit seinen angeblich omnipräsenten Hilfsangeboten könnte ihn ersetzt haben.
Der Autor Martin Rath arbeitet als Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, 50 Jahre Lehrbuchfall: . In: Legal Tribune Online, 28.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1305 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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