Gescheitertes Hitler-Attentat am 20. Juli 1944: Ein Tag, der viele Schatten wirft

von Martin Rath

20.07.2024

Der Anschlag vom 20. Juli 1944 hatte nicht nur Folgen in Form der grausamen Justiz-Travestie Roland Freislers vor dem Volksgerichtshof. Bis in die Gegenwart sind Ereignis und Erzählung Gegenstand von teils recht seltsamen Verfahren.

Wenn es um den Anschlag vom 20. Juli 1944 geht, also den gescheiterten Versuch von Angehörigen hoher militärischer Kreise, Hitler zu töten, werden sehr oft Bilder aus den Verfahren vor dem Volksgerichtshof aufgerufen – diese grausame Parodie von Strafprozessen, in denen Roland Freisler (1893–1945), die von Folter gezeichneten Angeklagten niederbrüllte und verhöhnte, bevor sie teils auf besonders brutale Weise hingerichtet wurden. 

Gut unterrichtete Beobachter wissen natürlich auch von der surrealen Fußnote, dass Marion Freisler (1910–1997), die Witwe des bei einem Luftangriff auf Berlin zu Tode gekommenen promovierten Juristen, – dank einer Fiktion seiner beruflichen Aussichten in der privaten Wirtschaft nach dem Krieg – erhöhte Versorgungszahlungen erhielt.  

Die Liste von tragischen wie manchmal grausam komischen juristischen Vorgängen im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 lässt sich zwanglos verlängern. 

Nur rechtmäßig handelnde Richter sind kein Instrument böser Gattinnen 

In seinem Urteil vom 8. Juli 1952 befasste sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit einem auf seine Weise grausam komischen Vorgang. 

Angeklagt war eine Frau, deren Mann Ende 1944 geschimpft hatte: "Wenn die Russen kommen, kriegen die Saukerle die Hälse heruntergeschnitten. Goebbels ist ein Lump. Wenn der 20. Juli geglückt wäre, wäre der Krieg aus." 

Zwischen den Eheleuten bestand Unfrieden, unter anderem, weil sie mit anderen Männern sexuell aktiv blieb, während er sich auswärts als Soldat verdingte. Als es Anfang 1945 deshalb zum Streit kam, zeigte sie ihn wegen seiner regimekritischen Äußerungen an und blieb in der Kriegsgerichtsverhandlung auskunftsfreudig – und das, obwohl das Gericht sie nicht nur ausdrücklich darauf aufmerksam machte, dass ihr das Recht zustehe, Aussage und Eid zu verweigern, sondern auch darauf, dass dem Gatten aufgrund ihres Zeugnisses zwangsläufig die Todesstrafe drohe – wegen Wehrkraftzersetzung nach § 5 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO)

Gerade das war aber mutmaßlich ihr Plan. Immerhin, der Vollstreckung des Todesurteils entging der Mann durch glückliche Umstände. 

Wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft angeklagt, hatte das Landgericht (LG) Würzburg einerseits davon ausgehen wollen, dass das Kriegsgericht rechtmäßig gehandelt hatte, der anzeigefreudigen Gattin aber dennoch der Vorwurf zu machen sei, die Richter als Instrument ihres Tötungsvorsatzes gemacht zu haben. 

Dem mochte der BGH nicht folgen. Anders als in der Situation eines Prozessbetruges sei das Kriegsgericht nicht getäuscht worden – es fehle an einer Instrumentalisierung der Richter. Allerdings führte der BGH ausführlich auf, dass bei der Anwendung von § 5 KSSVO viel zu hart und auf der Basis einer grenzenlosen Auslegung der Norm vorgegangen worden, die Verhängung der Todesstrafe darum materiell rechtswidrig gewesen sei. Die Sache konnte daher nach Würzburg zurückverwiesen werden – um den Tötungsvorsatz der Frau weiter zu prüfen (BGH, Urt. v. 08.07.1952, Az. 1 StR 123/51).  

Mordlust am Tag nach dem Anschlag auf Hitler – ein Fall aus Berlin 

Zusammen mit seiner Frau Elli führte der tüchtige Berliner Schneidermeister Martin Fleischmann (1892–1944) einen recht erfolgreichen Betrieb. Bis in die 1930er Jahre beschäftigte sein Unternehmen regelmäßig 20 Näherinnen und belieferte die Modegeschäfte der Hauptstadt vor allem mit Mänteln und Jacken für die Dame. 

Die Umstände seines Todes stellte der BGH in seinem Urteil vom 12. März 1953 (Az. 5 StR 83/52) folgendermaßen dar: 

"Die Angeklagten, die Zellenleiter der NSDAP waren, haben am 21.7.1944, also am Tage nach dem mißglückten Attentat auf Adolf Hitler, sich bei einer Zellenleiterbesprechung bereiterklärt, den jüdischen Schneider Fleischmann aus seiner Wohnung zu holen, damit dieser einen an die Pankebrücke mit Farbe aufgemalten Sowjetstern mit Hammer und Sichel entferne. Sie haben Fleischmann nachts gewaltsam aus seinem Schlafzimmer geholt und ihn bereits in der Wohnung mißhandelt." 

An der Brücke über das Flüsschen Panke wurde Fleischmann weiter gequält. Der später angeklagte Klempner Erwin Benkendorf versuchte zunächst, ihn in der Panke zu ertränken, am Ufer schlug er dann gemeinsam mit dem Elektromechaniker Willy Böhme auf Fleischmann ein, bis ein Fliegeralarm sie das Weite suchen ließ. Martin Fleischmann starb wenige Tage darauf an den Folgen der Misshandlungen. 

Von der Deportation in die Mordstätten des Ostens war Fleischmann, ein jüdischer Deutscher, durch die Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau verschont geblieben – nicht aber von der völligen Entrechtung und Vernichtung ihrer wirtschaftlichen, ihrer bürgerlichen Existenz. Neun Jahre zuvor, 1935, war zudem Sonja Fleischmann, die achtjährige Tochter, nach schweren Misshandlungen durch einen Scharführer der Hitlerjugend gestorben. 

Das LG Berlin verurteilte Benkendorf und Böhme mit Urteil vom 10. Mai 1951 auf der Grundlage von Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einer Zuchthausstrafe von 15 bzw. zwölf Jahren und erkannte ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit ab

Zur Strafverfolgung nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 war die deutsche Justiz jedoch von den Besatzungsmächten zu beauftragen bzw. zu ermächtigen, wovon sie in ihren Zonen unterschiedlichen Gebrauch machten. Die französische Militärregierung nahm zwischenzeitlich gegenüber dem Berliner Justizsenator diese Ermächtigung zurück. 

Der BGH hatte daher das erste Urteil aufzuheben und verwies die Sache wieder an das LG Berlin – verbunden mit dem Hinweis, dass im Fall einer Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags, §§ 211, 212 Strafgesetzbuch (StGB), keine höheren Strafen verhängt werden dürften als im ursprünglichen Verfahren wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. 

Im zweiten Verfahren wurden Benkendorf und Böhme zu jeweils zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, wie man in der überhaupt sehr traurigen Geschichte zum Stolperstein in der Stockholmer Straße 28 in Berlin lesen kann

Viele Prozesse um Otto Ernst Remer 

Der Erfolg des Anschlags auf Hitler hätte in der Übernahme der höchsten Befehlsgewalt durch oppositionelle Offiziere und weitere Verschwörer bestanden. Die Zahl der Menschen, die erst nach dem 20. Juli 1944 ihr Leben im Zweiten Weltkrieg und der Shoah verloren, ist bedrückend hoch. 

Als Wehrmachtsoffizier, der diesen Erfolg seiner uniformierten Standesgenossen vereitelt hatte, ließ sich Otto Ernst Remer (1912–1997) feiern – zunächst in der NS-Propaganda, dann in den rechtsextremen Kreisen der jungen wie auch noch der gereiften Bundesrepublik Deutschland. 

Am Tag des Anschlags war Remer in Berlin, nach Klärung, dass Hitler überlebt hatte, führend an der Inhaftierung der Verschwörer beteiligt. 

Dank der erfreulichen, in den vergangenen Jahren in Juristenkreisen gepflegten, aber auch seltsam selektiven Verehrung für den zuletzt in Hessen tätigen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) ist insbesondere der Braunschweiger Remer-Prozess von 1951/52 bekannt.  

Bei einer Versammlung der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP), einer NS-Nachfolgepartei, die in manchen Landstrichen recht erfolgreich war, hatte Remer über die Attentäter des 20. Juli 1944 geäußert: "Diese Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Auslande bezahlt wurden." 

In der Erinnerungskultur der jungen Bundesrepublik bildete sich erst langsam das Verständnis aus, wie man sich zu dem Attentat zu verhalten habe. Nachdem Remer auf Betreiben Fritz Bauers in Braunschweig wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt worden war, setzte sich das Bild einer überragenden sittlichen Motivation der militärischen Opposition durch. Als spezifisch ehrverletzend gewürdigt wurde daher Remers Vorwurf, die Attentäter hätten fremdnützig gehandelt, seien "vom Auslande bezahlt" worden (vgl. BGH, Urt. 11.12.1952, Az. 5 StR 707/52). 

Remer ist für die neue Republik nicht mehr zu gebrauchen – einerseits, andererseits 

Unter den zahlreichen Prozessen, die bis in die 1980er Jahre gegen Remer geführt wurden, findet ein Verfahren relativ wenig Aufmerksamkeit. Mit Urteil vom 17. März 1959 entschied der Bundesdisziplinarhof (BDH) zur Frage, ob und wie Remer als ehemaliger Berufssoldat Ansprüche nach dem sogenannten 131er-Gesetz geltend machen könne, also dem "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen", das den Umgang mit Beamten und Berufssoldaten regelte, die mit dem 8. Mai 1945 ihre Beschäftigung und Alimentation durch die öffentliche Hand verloren hatten. 

Auch gegen jene, die noch nicht in den Genuss einer Versorgung nach dem 131er-Gesetz kamen, konnte disziplinarrechtlich vorgegangen werden. Im Fall Remer gaben dazu mehrere Tatkomplexe Anlass. Zum einen hatte Remer der Bundesregierung unter Konrad Adenauer unterstellt, im Fall eines sowjetischen Angriffs nach London fliehen zu wollen. Das galt als beleidigend. Zum anderen hatte er sich – obwohl ihn der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz zu den Feinheiten zulässiger Äußerungen im Kontext der noch nicht verbotenen SRP beraten hatte – wiederum allzu grob über die Attentäter des 20. Juli 1944 ausgelassen. 

In seinem wunderbar rabulistischen Urteil – voller Einerseits-andererseits-Operatoren – kam der Bundesdisziplinarhof einerseits zwar zu dem Ergebnis, dass Remer seine Treuepflichten gegen die Bundesrepublik nach dem 131er-Gesetz quasi schon verletzt habe, bevor es überhaupt in Kraft trat, und dass die Vorwürfe gegen ihn auch reichten, um auf eine Versorgung und Wiederbeschäftigung nicht hoffen zu dürfen, er andererseits aber ein berufstypisch in seinem Urteilsvermögen etwas beschränkter Soldat sei, was allerdings auch für ihn spreche, sei seine Gradlinigkeit doch an sich lobenswert, sodass er für einen Unterhaltsbeitrag nicht unwürdig wäre, bräuchte er ihn denn im Bedürftigkeitsfall (BDH, Urt. 17.03.1959, Az. II D 81/57). 

20. Juli 1944 – eine Art juristische Populärkultur im militärischen Biotop 

Bis die Masse der Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik dafür sorgte, dass die Verfahren überwiegend nach Aktenlage entschieden wurden, machten sich Prüfungsausschüsse ein persönliches Bild von dem jungen Mann, der sein Grundrecht aus Artikel 4 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) wahrnahm. 

Mit der von Prüfungsausschüssen gern gestellten Frage, ob er bereit sei, den Attentätern vom 20. Juli 1944 nachzueifern, also durch einen Tyrannenmord einen Krieg zu beenden, bekam der Gewissensprüfling mit einer ausgefeilten juristisch-ethischen Scholastik zu tun – kein Wunder, dass es eher Abiturienten denn Volks- oder Realschüler waren, die sich diesem Verfahren aussetzten. Denn wer das unbedarft bejahte, ließ Zweifel an seiner Abscheu vor Waffengewalt zu.  

Eckpunkt der höchstrichterlichen Interpretation historischer Fiktionen war: Der Kriegsdienstverweigerer habe zu bedenken, der Prüfungsausschuss habe zu seinen Lasten zu würdigen, dass aus einem solchen Attentat zwangsläufig eine Bürgerkriegssituation entstünde, der Gewissensprüfling also bereitwillig an einem kollektiven Gewaltakt teilnehme.  

War die Frage hingegen so eng konstruiert, dass die Bürgerkriegssituation in der fiktionalen Erzählung ausgeklammert blieb, bestand die Chance, sich differenziert positiv dazu zu äußern, auch als Kriegsdienstverweigerer einen Hitler nicht am Leben gelassen haben bzw. ein virtuelles Hitler-Analogon umbringen zu wollen (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 02.07.1976, Az. VI C 104.75 oder Urt. v. 19.03.1985, Az. 6 B 135.84 u.v.m.).  

Angesichts der heute so grobmotorischen Beleidigungskultur, in der sich jeder beim ersten bösen Wort sofort verletzt zu fühlen hat, soll – pars pro toto – noch eine Entscheidung des 2. Wehrdienstsenats in der Disziplinarsache eines Soldaten erwähnt werden. Die Anschuldigungsschrift enthielt neben dem Vorwurf, sich im Dienst fremdenfeindlich und – geschichtsmoralisch – gegen deutsche Zahlungen an Israel geäußert zu haben, auch den Vorwurf, er habe einen Kameraden, in dessen Dienstzimmer ein Bild der Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944) und Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim (1905–1944) hing, gefragt: "Warum hängst Du Dir diese Verräter an die Wand?" 

In diesem Punkt kam das Gericht zu der feinsinnigen Unterscheidung, dass dies einerseits nicht ernst und damit beleidigend gemeint gewesen sein müsse, andererseits aber auch als bloße Provokation eine disziplinarrechtliche Sanktion mitbegründe (BVerwG, Urt. v. 24.10.1996, Az. 2 WD 22.96). 

Ob es wohl noch einen zweiten historischen Vorgang gibt, der so viel juristische Unterscheidungskunst erfordert?

Zitiervorschlag

Gescheitertes Hitler-Attentat am 20. Juli 1944: . In: Legal Tribune Online, 20.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55036 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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