Wann Juristen sich beruflich verändern sollten

"Das Billable-Hours-Kor­sett macht viele unzu­frieden"

Interview von Franziska KringLesedauer: 7 Minuten

Marie-Theres "Maresi" Boetzkes war Anwältin in einer Großkanzlei – bis sie gemerkt hat, dass der Beruf sie krank macht. Jetzt coacht sie Juristen. Im Interview erzählt sie, wieso viele so unglücklich im Job sind und wie man das ändern kann.

LTO: Frau Boetzkes, Sie haben sich selbst beruflich verändert – von der Anwältin zum Jura-Coach. Woran haben Sie gemerkt, dass Sie etwas verändern müssen? 

Dr. Marie-Theres-Boetzkes: Darf ich vielleicht direkt eine Gegenfrage stellen? 

Natürlich. 

Können wir uns duzen? Ich sieze fast niemanden. Als Anwältin habe ich das Siezen nie infrage gestellt. Nachdem ich dann gekündigt hatte, habe ich festgestellt, dass in fast keiner anderen Branche nur gesiezt wird. Das "Sie" stellt für mich immer einen gewissen Abstand her, das will ich aber gar nicht. 

Gerne. Also dann: Woran hast Du gemerkt, dass Du beruflich etwas verändern musst? 

Vor allem an zwei Dingen. Ich hatte eine innere Unzufriedenheit, die ich nicht greifen konnte. Ich war unglücklich und habe mich leer gefühlt. Ich bin anderen Menschen gegenüber sehr zynisch aufgetreten, was ich von mir überhaupt nicht kannte. Meine Befindlichkeiten waren mir viel wichtiger als die der anderen. Dabei war ich eigentlich schon immer ein sehr empathischer Mensch.

Auch körperlich habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich konnte nicht mehr schlafen und hatte ständig Bauchschmerzen, obwohl ich eigentlich gesund war. Meine Symptome waren immer montagsmorgens am stärksten, donnerstagsabends nahmen sie ab. Das ist natürlich ein eindeutiges Zeichen.

Was hast Du gemacht, als Du eingesehen hast, dass es so nicht weitergehen kann? 

Tatsächlich lange gar nichts. Dafür gab es zwei Gründe: Ich habe mich geschämt und auch nicht das Gefühl gehabt, dass meine Unzufriedenheit und diese körperlichen Symptome ihre Berechtigung haben. Ich habe immer versucht, alles zu relativieren, mir zu sagen, dass ich zufrieden sein muss, weil ich alles erreicht habe, was ich mir vorgestellt hatte: zwei gute Examina, Promotion, Anstellung in der Großkanzlei.

Ich habe immer gedacht, dass ich es allein aus dem Loch schaffe. Dann kam aber der große Knall und ich saß nach einem Mandantentermin weinend auf meinem Hotelbett. Dann habe ich meine Mutter angerufen – und sie hat mir geraten, mir Hilfe zu suchen. Ich habe dann eine Karriereberatung gemacht.

Anzeige

"Wenn einmal in der Woche das Telefon geklingelt hat, war das mein Highlight" 

Was hast Du aus der Karriereberatung mitgenommen? 

Ich habe viel über mich gelernt, was ich wahrscheinlich schon Jahre zuvor hätte lernen können. Die Beraterin hat mich gefragt, wie ich mir mein Leben vorstelle, was meine beruflichen und persönlichen Werte sind und wo ich meine Stärken sehe. 

Die Beraterin hat mir dann eine kurze Frage gestellt: "Lieber schreiben oder lieber reden?". Ich habe, wie aus der Pistole geschossen, geantwortet "lieber reden". Sie hat mich dann darauf hingewiesen, dass ich ja jeden Tag mindestens zehn Stunden nichts anderes gemacht habe, als am Schreibtisch zu sitzen, zu schreiben und zu lesen – und mich gefragt, was das mit mir macht. Das war für mich ein Aha-Moment.

Meine Stärke ist es, zu reden und mich mit Menschen auszutauschen, und der Job, den ich gewählt hatte, war eigentlich nur darauf ausgerichtet, mich in Sachverhalte einzuarbeiten und Schriftsätze zu verfassen. Wenn einmal in der Woche das Telefon geklingelt hat, war das mein Highlight. Meine Stärken sind also einfach verkümmert.

Wie bist Du dann selbst Coach geworden? 

Ich habe an mir selbst gemerkt, wie sich meine Sicht auf die Welt und mein Zufriedenheitsgefühl durch das Coaching verändert hat.

Vor mittlerweile fünf Jahren Jahren habe ich bei der NGO "ROCK YOUR LIFE!", die sich für Bildungsgerechtigkeit und Potenzialentfaltung einsetzt, als Fundraiserin gearbeitet und eine Ausbildung zur Trainerin für Potenzialentfaltung gemacht. Da habe ich gesehen, wie viel Spaß es mir macht, Menschen bei einem beruflichen Veränderungsprozess zu unterstützen. Die Sorgen und Ängste von Juristinnen und Juristen kenne ich ja aus eigener Erfahrung sehr gut, deshalb habe ich mich darauf spezialisiert. 

"Bei unserer Arbeit geht es nicht um Leben oder Tod" 

Wie hat Dein persönliches und berufliches Umfeld auf Deinen Jobwechsel reagiert? 

Wie unzufrieden ich wirklich war, wussten nur meine engsten Freunde und Familie. Sie hatten viel Verständnis und haben auch gesehen, wie ich durch die Karriereberatung wieder zu mir selbst gefunden habe.

Meine Kolleginnen und Kollegen waren überrascht. Beim Abschied aus der Kanzlei kam dann aber eine Anwältin zu mir, mit der ich vorher nicht viel Kontakt hatte. Sie sagte zu mir: "Ist Dir eigentlich klar, dass das, was Du gerade machst, nämlich kündigen und nie wieder Jura machen, eigentlich das ist, was fast alle hier im Raum machen wollen"? Für diese Frage bin ich ihr sehr dankbar. In dem Moment habe ich verstanden, dass es vielen so geht, aber nur wenige darüber reden. 

Woran liegt es aus Deiner Sicht, dass Juristinnen und Juristen unzufrieden mit ihrem Job sind? 

Zum einen haben wir Juristen eine sehr ähnliche Persönlichkeitsstruktur. Viele von uns sind sehr perfektionistisch. Wenn man so hohe Erwartungen an sich selbst hat und sich nie gut genug fühlt, kommt man in eine Unzufriedenheitsspirale.

Außerdem ist die Arbeit oft mit hohem Leistungsdruck und viel Verantwortung verbunden. Das stimmt natürlich, aber man muss auch sagen: Bei unserer Arbeit geht es nicht um Leben oder Tod. In der juristischen Branche wird die Wichtigkeit bestimmter Dinge oft überhöht. Auch das Billable-Hours-Korsett macht viele Menschen unzufrieden. Ich habe schon mit vielen gesprochen, die deshalb den Job gewechselt haben und sich jetzt viel freier fühlen. Das berufliche Umfeld ist auch sehr hierarchisch und zum Teil sehr konservativ. 

Zu mir kommen viele Menschen, die zwischen Burnout und Boreout stecken – einerseits müssen sie unglaublich viel arbeiten, andererseits ist ihr Job aber sehr einseitig. Sie wünschen sich mehr Abwechslung und Kreativität, wollen selbst gestalten. 

"In einem Umfeld arbeiten, das nicht krank macht" 

Viele meckern über ihren Job und sind unzufrieden. Aber woran erkenne ich, dass das nicht nur eine Phase ist, sondern es wirklich Zeit für eine berufliche Veränderung ist? 

Es ist spätestens dann Zeit für eine berufliche Veränderung, wenn ich körperliche Warnsignale habe. Wir wollen in einem Umfeld arbeiten, das uns nicht krank macht. Wenn ich über einen längeren Zeitraum ständig Bauchschmerzen habe oder mein Puls montagmorgens schon auf 180 ist und das erst zum Wochenende besser wird, ist es Zeit, mich mit einem Jobwechsel zu beschäftigen. 

Wie kann ich verhindern, dass es überhaupt so weit kommt? 

Man sollte sich so früh wie möglich die Fragen stellen, die auch ich immer in meinem Kurs bzw. Einzelcoachings stelle: Was will ich im Leben erreichen? Wie will ich arbeiten? Welche Themen interessieren mich wirklich? In meinen Coachings treffe ich auf viele, die sich das erst mit Mitte 40 fragen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns während der juristischen Ausbildung auch persönlich entwickeln. Aber dafür ist einfach keine Zeit. Wenn wir mit 18 oder 19 Jahren anfangen, Jura zu studieren, landen wir in einer Ausbildung, die komplett auf Noten fixiert ist. Jahrelang geht es nur um neun oder mehr Punkte, ohne dass wir uns ein einziges Mal fragen, was wir damit eigentlich wollen. Auch ich wollte immer zwei Prädikatsexamina erreichen und habe mir keine dieser Fragen gestellt. Eigentlich arbeite ich gerne mit Menschen. Ich bin aber in einer Großkanzlei im Planfeststellungsrecht gelandet. Natürlich kam dann irgendwann der große Knall. 

"Man sollte sich immer fragen: Will ich beruflich wirklich hier sein?" 

Woran erkenne ich einen Job, der gut zu mir passt? 

Man sollte auf jeden Fall inhaltlich für das Thema brennen. Das erkennt man zum Beispiel daran, wenn man neugierig ist und Lust hat, sich auch außerhalb der Arbeitszeit, also ohne Bezahlung, damit zu beschäftigen. Bevor ich den Job bei der NGO angenommen habe, habe ich mich auch schon für gesellschaftliche Themen interessiert und war begeistert, wenn Menschen durch ihr Tun die Gesellschaft positiv verändert haben. Ich habe mich dann am Wochenende hingesetzt und recherchiert, welche Projekte die verschiedenen Stiftungen fördern. Und es ist gut, wenn man in einem Job seine Stärken zeigen und seine Werte leben kann und einfach Spaß an der Arbeit hat. 

Hast Du noch einen abschließenden Tipp zum Thema Karriere und berufliche Veränderung? 

Ein einziger Tipp, den man sofort umsetzen kann: Stell Dir heute noch die Frage, ob Du beruflich da, wo Du gerade bist, sein willst. Ist das mein Leben, so wie ich es mir vorstelle? Falls nein, solltest Du noch heute den ersten Schritt machen. 

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

Dr. Marie-Theres Boetzkes ("Maresi") war Anwältin in verschiedenen Kanzleien. Jetzt arbeitet sie als Coach für Juristinnen und Juristen. Mit ihrem Kurs "Mit Jura kannst Du alles machen", der wieder am 16. September 2024 startet, unterstützt sie bei beruflichen Veränderungen. Im Oktober startet erstmals ihr Programm "New Female Lawyers", das Anwältinnen beruflich und persönlich weiterentwickeln soll. 

Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.

Thema:

Jobsuche

Verwandte Themen:
  • Jobsuche
  • Beruf
  • Anwaltsberuf
  • Berufseinstieg
  • Coaching

Teilen

Ähnliche Artikel

Newsletter