Überstunden im Premierenjahr
Eine augenzwinkernde Juristenweisheit besagt: Wird der Prozess gewonnen, ist der Mandant im Recht - geht er verloren, war der Anwalt schuld. Was spaßig klingt, kann in der Praxis durchaus dramatische Züge annehmen. In der Regel erbringen Rechtsanwälte ihre Dienstleistungen auf qualitativ hohem Niveau und damit zur Zufriedenheit ihrer Mandanten. Probleme gibt es jedoch, wenn der Anwalt einmal einen Fehler begeht – oder der Klient der Meinung ist, es lägen welche vor. Deshalb war es dem Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer Axel C. Filges wichtig, eine neutrale Einrichtung zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Mandant und Rechtsanwalt zu schaffen. "Die Schlichtungsstelle ist sein 'Kind'", betont Christina Müller-York, ihres Zeichens Geschäftsführerin der Einrichtung in Berlin-Mitte. "Wie die meisten guten Ideen gibt es aber wahrscheinlich mehr als nur einen Vater – und je mehr Erfolg wir haben, desto mehr werden sich wohl melden. In Wahrheit gab es aber auch Widerstände in der Anwaltschaft." Zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte. Die Stelle konnte in ihrem ersten Jahr bereits über 1.000 Fälle abschließen. Über mangelnde Arbeit kann sich Schlichterin Dr. h.c. Renate Jaeger nicht beschweren.
Kostenloses Schlichtungsverfahren
Unbürokratische Lösungen will die Schlichtungsstelle finden, Missverständnisse klären und allen Beteiligten Hilfe anbieten. Für die ehemaligen Mandanten ist dies kostenlos. "Die Schlichtungsstelle wird durch eine Sonderumlage von jedem deutschen Anwalt mitfinanziert", sagt Christina Müller-York. 2012 werden es drei Euro pro Anwalt sein. "Doch damit werden wir in Zukunft nicht auskommen können, weil wir zur Bewältigung der Fälle mehr Personal benötigen. Bereits zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme betrug der Rückstand 350 Akten, zwischenzeitlich sind wir mit 500 Akten in Verzug", klagt die Geschäftsführerin. "Daraus resultiert eine viel zu lange Verfahrensdauer – gütliche Einigungsversuche sind jedoch zumeist dann erfolgreich, wenn sie dem Konflikt zeitnah folgen. Und Schlichtungsstellen, bei denen die Bearbeitungszeit die der Zivilgerichte übersteigt, verlieren auf Dauer mit Sicherheit an Glaubwürdigkeit." Dementsprechend unterscheidet sich das Büro auch nicht von denen der meisten Anwaltskanzleien. Neben Renate Jaeger und Christina Müller-York arbeiten hier drei in Teilzeit angestellte Rechtsanwältinnen und zwei Assistentinnen. "Dauerhaft klingelnde Telefone, ein ratterndes Fax, Regale mit Büchern und Zeitschriften im Flur und alle Mitarbeiter brauchen gleichzeitig denselben Kommentar", beschreibt Christina Müller-York ihren Arbeitsplatz. "Nur der Mandantenverkehr entfällt, denn unser Verfahren findet derzeit nur schriftlich statt."Parteien müssen zum Dialog bereit sein
"Den 'typischen' Schlichtungsfall gibt es nicht", sagt Christina Müller-York. "Jeder Fall ist anders und häufig sind die Sachverhalte sehr komplex und nur schwer zu ermitteln." Deshalb müssten im Schlichtungsverfahren, die chronologischen Ereignisse exakt geschildert, alle erforderlichen Anlagen eingereicht und die den Sachverhalt klärenden Fragen genau formuliert werden. "Das ist etwas, was vielen Antragstellern schwerfällt. Dafür haben wir volles Verständnis, jedoch führt es bei einem rein schriftlichen Verfahren zu einem extremen Arbeitsaufwand." Auffällig sei laut Christina Müller-York die Häufung bestimmter Rechtsgebiete, aus denen die Schlichtungsverfahren resultieren: Familienrecht, Erbrecht, WEG-Recht, Mietrecht, Arbeitsrecht und zunehmend auch das Kapitalanlagerecht. Wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Schlichtungsstelle tätig wird, ist die Dialogbereitschaft der Parteien. Außerdem darf der strittige Betrag 15.000 Euro nicht übersteigen. Die Vorschläge von Dr. Renate Jaeger sind natürlich nicht bindend. Bleibt ein Schlichtungsverfahren erfolglos, können die Beteiligten immer noch vor die ordentlichen Gerichte ziehen. Erfahrung für diese anspruchsvolle Aufgabe, bringt Jaeger als ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgerichts und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte genug mit. Nach dieser beeindruckenden Karriere wären die meisten sicherlich in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. "Ich wollte eine gute Sache in der Aufbauphase prägen", entgegnet sie und betont, dass es auch die Herausforderung des Neuen war, die sie gesucht hat. So ganz zurücklehnen möchte sich Renate Jaeger nämlich nicht. "Schlichterin bin ich - zumindest auf dem Papier – nur an 1,5 Tagen pro Woche. Dass meine Arbeitszeit im ersten Jahr das Doppelte betrug, war nicht geplant und wird auch nicht so bleiben. Dennoch blieb mir noch ausreichend Zeit für die Freuden des Ruhestandes." Was Renate Jaeger bereits seit Studienzeiten antreibt, ist die Wahrung des Rechtsfriedens. Dem juristischen Nachwuchs kann sie deshalb nur raten, nicht nur Interesse für die Gesetze aufzubringen, sondern auch für Menschen und Ihre Befindlichkeit. "Das Recht ist nicht mehr als ein Weg unter vielen zum friedlichen Miteinander in einer Gesellschaft", sagt sie."Unsere Arbeit steht immer noch am Anfang"
Christina Müller-York schätzt an ihrer Tätigkeit die Selbständigkeit. Und natürlich ihre engagierten Kolleginnen, von denen sie findet, dass sie ihre Arbeit zuvorkommend meistern. "Denn nicht alle Antragsteller sind freundlich gestimmt und zögern nicht, ihren Unmut an uns auszulassen." Dabei sorgt die Geschäftsführerin für einen reibungslosen Ablauf und bereitet Entscheidungen organisatorischer und juristischer Art unterschriftsreif vor. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die ihr einiges abverlangt. "Eine neue Institution aufzubauen und gleichzeitig juristisch anspruchsvoll zu arbeiten, beschäftigt über die Zeit am Schreibtisch hinaus." Auch wenn Christina Müller-York viele der vorliegenden Fälle eher nachdenklich stimmen, zieht sie nach dem ersten Jahr ein positives Fazit. "Unser Erfahrungshorizont ist noch gering und unsere Arbeit steht immer noch am Anfang. Sehr beeindruckt hat mich allerdings die große Bereitschaft der Anwaltschaft, sich in unsere Verfahren einzubringen.“ Bereut haben Renate Jaeger und Christina Müller-York keinen der letzten 365 Tage. Denn ihr Beitrag zu mehr Rechtsfrieden bleibt ihnen eine Herzensangelegenheit – auch wenn am Ende immer der Anwalt schuld bleibt.Mehr auf LTO.de:
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2011 M12 18
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