Zwischen Sozialrecht, lateinischen Vokabeln und Ethik

Wenn Juristen Medizin können müssen

Gastbeitrag von Annabell HornLesedauer: 6 Minuten

Wie lebensnah das Medizinrecht ist, zeigte nicht zuletzt die Corona-Pandemie mit Fragen rund um Testpflicht und Impfschäden. Häufig geht es auch um persönliche Schicksale. Annabell Horn hat mit drei Medizinrechtlern gesprochen.

Das Medizinrecht ist komplex und streift nahezu alle juristischen Teilbereiche. Im Studium kommt es allerdings nur vereinzelt vor – etwa, wenn man im Rahmen unerlaubter Handlungen einen Arzthaftungsanspruch oder eine Pflichtverletzung aus einem Behandlungsvertrag prüfen muss. So richtig substantiiert wird es dann erst in der Fachanwaltsausbildung oder der Arbeit in einer medizinrechtlichen Boutique-Kanzlei.

Neben einer umfassenden Fachexpertise müssen Medizinrechtler:innen besondere Kommunikationsfähigkeiten haben und empathisch sein. Denn die Personen, die etwa nach einem schweren Arbeitsunfall oder einer missglückten Operation juristischen Rat suchen, sind oft besonders emotional betroffen, häufig haben sie auch existenzielle Sorgen. Diese Fälle sind – sowohl für die Mandant:innen selbst als auch für die anwaltliche und richterliche Seite – kräftezehrender als andere. Drei Medizinrechtler:innen aus Lehre, Anwaltschaft und Justiz berichten aus ihrem Berufsalltag.

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Beruf eins: Dozent an einer medizinischen Fakultät 

Rechtsanwalt Dr. jur. Felix Michl ist Dozent an der medizinischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen. Im aktuellen Semester unterrichtet er das klinische Wahlfach "Vom Grundgesetz zum Patient:innenrecht", welches den Medizinstudierenden "Berührungsängste" mit juristischen Themen nehmen soll. Außerdem studiert Michl selbst noch Medizin.

In dem Seminar blättert der 40-jährige Volljurist gemeinsam mit seinen Kommiliton:innen "in lockerer Runde" durch das Grundgesetz (GG) und gibt ihnen einen Überblick über das Rechtssystem unserer Bundesrepublik. Anhand praxisrelevanter Sachverhalte wie der Patientenverfügung vermittelt er den Studierenden juristische Grundkenntnisse, die sie für ihre ärztliche Tätigkeit wissen sollten. Es geht unter anderem um die rechtlichen Grundlagen des Behandlungsvertrages, aber auch um Strafvorschriften wie Körperverletzung.

An dem Dozentenjob gefällt dem Juristen der intensive Austausch mit den Studierenden am besten. Er sei von Natur aus sehr neugierig, und durch die Fragen der Studierenden lerne er auch immer wieder etwas Neues. Das sei auch ein Gewinn für sich selbst, verriet Michl – und deshalb gewissermaßen etwas "egoistisch".

Gleichzeitig Student und "Prof."?

Bevor sich der Jurist dazu entschied, nochmal zu studieren, war er schon einmal als Professor tätig, und zwar an der Fakultät für Sozial- und Rechtswissenschaften der SRH Hochschule Heidelberg. Die Stelle war sein erstes Angestelltenverhältnis nach dem zweiten Examen. An Fachhochschulen benötigt man keine Habilitation, um eine Professur anzutreten. Voraussetzung ist aber ein abgeschlossenes Studium samt Promotion sowie u.a. Lehrerfahrungen. Nach Beendigung der Lehrtätigkeit an der Hochschule musste er den Titel wieder abgeben. Das stört ihn aber nicht, denn "etwas schräg wäre das schon, wenn ich Kommilitone und gleichzeitig 'der Prof.' wäre", schmunzelt er.

Dass er nun in Gießen nicht wieder an einer juristischen Fakultät, sondern seine Medizin-Kolleg:innen unterrichtet, hat sich durch seine Wissenschaftliche Mitarbeit beim Gießener Strafrechtprofessor Bernhard Kretschmer ergeben. Kretschmer unterrichtet u.a. auch ein Wahlfach für Medizinstudierende. Im LTO-Interview berichtet er davon

Ob und wie Michl Juristerei und Medizin einmal unter einen Hut bringen wird, behält er sich derzeit noch offen. Einen Facharzt will er nach dem Studium auf jeden Fall machen. Der Jurist ist überzeugt, dass er auch bei einer ärztlichen Tätigkeit von seinen juristischen Kenntnissen und Erfahrungen profitieren wird.

Beruf zwei: Rechtsanwältin im Medizinrecht

Daniela Etterer aus der Sozietät Tsambikakis & Partner in Köln ist Fachanwältin für Medizinrecht und berät und vertritt insbesondere Krankenhäuser, Medizinische Versorgungszentren und niedergelassene Ärzt:innen, etwa wenn gegen diese strafrechtlich ermittelt wird oder ihre Approbation auf dem Spiel steht. Zusätzlich zu ihrer juristischen Ausbildung hat sie noch einen Master in Health and Medical Management (MHMM) an der Universität Erlangen absolviert.

Dass man auch an Medizin interessiert sei, daran führe in ihrem Job kein Weg vorbei. Die medizinrechtliche Beratung sei sehr weitschichtig, so Etterer, "man wird weit über den Tellerrand schauen müssen". Das Medizinrecht umfasse viele Gebiete, wie Apothekenrecht, Vertragsarztrecht, Medizinstrafrecht und Arzthaftungsrecht, führt sie auf. Dabei ginge es um Inhalte etwa aus dem Strafrecht, Zivilrecht und Sozialrecht.

Jedoch seien in einem Arzthaftungsprozess nicht die rechtlichen Gesichtspunkte das Schwierige, sondern vielmehr das "Tatsächliche, also der medizinische Sachverhalt", so die Anwältin. In einem Arzthaftungsprozess gehe es vor Gericht schwerpunktmäßig um die nicht oder unzureichend erfolgte Aufklärung oder um Behandlungsfehler. Entsprechend werde zum einen immer noch der Arzt als Zeuge vernommen, zum anderen werde noch ein Sachverständiger angehört, der zuvor ein schriftliches Gutachten erstellt hat.

"Die Sprache der Behandler sprechen"

Die Herausforderung dabei sei es, "dass man in dem Moment das, was der Arzt und der Sachverständige sagen, versteht und darauf reagieren kann, etwa durch strategische Fragen, die sich positiv für den Mandanten auswirken", so die Anwältin.

Dabei profitiert Etterer von ihrem MHMM. Diesen hat sie absolviert, "um die Sprache der Behandler zu sprechen." Der Master helfe ihr beim Verwenden der korrekten Terminologie rund um Krankheiten und Therapien und bei der Interpretation medizinischer Dokumente, etwa eines OP-Berichts.

Die Mehrheit der Fälle betreffe Geldforderungen, also Schmerzensgeld oder Schadensersatz. Um welche Summe es dabei geht, kommt immer auf den einzelnen Fall an und hängt insbesondere von der Fachdisziplin des behandelnden Arztes und dem konkreten Behandlungsfehler ab. Bei einem Geburtsschaden, also Behandlungsfehlern bei der Geburt, könne die Forderung im Millionenbereich liegen, so Etterer, bei einer in Rede stehenden ambulanten Zahnarztbehandlung vielleicht bei 1.500 Euro. Die Spannbreite ist sehr weit.

Medizinrechtliche Fragestellungen verändern sich ständig. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben sich viele neue Fragen ergeben, zum Beispiel ob Krankenhäuser Zahlungen für fiktive Behandlungen, die gar nicht stattfinden, bekommen sollen, wenn Stationen geschlossen waren (sog. Freihaltepauschalen), erzählt die Anwältin. Die Dynamik der Fälle verlangt eine regelmäßige, intensive Fortbildung der Anwälte, sie macht die anwaltliche Beratung aber auch so abwechslungsreich und spannend, berichtet sie.

Beruf drei: Richterin am Sozialgericht

Dr. Anne Barbara Lungstras ist Richterin am Landessozialgericht Berlin-Brandenburg und dort unter anderem für Rechtsstreitigkeiten mit der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig. Einerseits gehe es beispielsweise darum, zu entscheiden, wer einen Anspruch auf Krankengeld oder einen Rollstuhl hat, berichtet Lungstras. Andere Fälle beträfen die Berechtigung etwa von Ärzten und Apotheken, Leistungen erbringen und abrechnen zu dürfen. Die Vergütung von Krankenhäusern mache hier einen Großteil der Arbeit aus, erklärt sie.

Lungstras, die zuvor Anwältin in einer medizinrechtlichen Kanzlei war, war auch am Sozialgericht schnell mit medizinrechtlichen Fällen betraut. Sie erzählt von einem Abiturienten, der im Rollstuhl saß und nicht sprechen konnte, er kommunizierte über ein Spracherkennungsprogramm. Von seiner Krankenkasse begehrte er die Bezahlung eines Laptops mit integriertem Spracherkennungsprogramm. Das Modell, das er bis dato nutzte, sei strombetrieben gewesen. Er habe sich mehr Mobilität gewünscht. Die Krankenkasse habe den Laptop jedoch für "Luxusausstattung" gehalten und die Zahlung verweigert. 

Die Richterin entschied zugunsten des Klägers. Dass die geforderten Hilfsmittel immer moderner und damit in der Regel auch teurer würden, sei Konsequenz des technischen Fortschritts, so Lungstras. So betreffen andere Klagen beispielsweise Hörgeräte, die sich mit dem Smartphone verbinden und mit denen man auch telefonieren kann.

Mit der Zeit lerne man, die Forderungen der Kläger richtig einzuordnen, so die Sozialrechtlerin. "Wie stark ist das Bedürfnis wirklich? Oder liegt das Problem vielleicht woanders?" Das sind Fragen, welche sich die Richterin stellt, wenn ein Betroffener etwa immer wieder den "hochmodernsten Rollstuhl" haben will. In der mündlichen Verhandlung zu diesem Fall habe sie dann gemerkt, dass die Tochter des Betroffenen überfordert ist und es eine Pflegekraft braucht. In solchen Fällen müsse man sich die notwendige Zeit nehmen, um an den Kern des Problems heranzukommen.

"Eine Spritze für eine Million Euro nicken die Krankenkassen nicht einfach ab"

Die Juristin schätzt diese Vielseitigkeit der Fälle. Teilweise gehe es in finanzieller Hinsicht um "gar nicht viel", manchmal stehen aber hohe Summen auf dem Spiel: Eine bestimmte Spritze zur Behandlung von Muskelatrophie bei Kleinkindern kostet zwischen einer und zwei Millionen Euro. "Das nicken die Krankenkassen nicht einfach so ab", weiß Lungstras.

In solchen Fällen, in denen es um schwerstbehinderte Kinder gehe, ergäben sich neben rechtlichen noch weitere Probleme, berichtet Lungstras. "Man möchte den Kindern so viel Hilfe wie möglich zusprechen, aber die Ansprüche sind natürlich auch hier begrenzt." Den Eltern dann zu erklären, dass das Gesetz nicht mehr hergebe, obwohl das Hilfsmittel sinnvoll wäre, sei nicht immer leicht. Man müsse sich hier persönlich gut distanzieren und gleichzeitig empathisch bleiben können. In anderen Fällen könne es aber auch ganz sachlich zugehen, beispielsweise, "wenn man eine Betriebsprüfung überprüfen muss". Diese Mischung macht es für die Richterin aus.

Annabell Horn studiert Jura an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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