"Mehr Geld ist keine langfristige Lösung"
LTO: Frau Philipp, als Mentaltrainerin wollen Sie mehr Authentizität in die Anwaltswelt bringen - aber wollen die Anwältinnen und Anwälte das überhaupt?
Claudia Philipp: Viele Anwältinnen und Anwälte befinden sich in einem Konflikt: Einerseits ist gesellschaftlich anerkannt, dass sie immer stark und souverän sein müssen und keine Schwäche zeigen dürfen. Aber andererseits macht jeder Fehler – das ist ganz normal.
Viele kommen irgendwann an den Punkt, dass sie sich nicht mehr verstellen wollen – und dann wollen sie auch authentischer sein. Einige erkennen das früher, andere später.
Weshalb wollten Sie selbst authentischer sein?
Zu Beginn meiner Karriere habe ich mir das Leben unnötig schwer gemacht. Ich habe mich zum Beispiel nicht getraut zu sagen, dass ich etwas nicht verstehe oder Unterstützung benötige. Ich hatte Angst, sonst meinen Job zu gefährden oder nicht so souverän rüberzukommen. Als ich mich in den vergangenen Jahren mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt habe, ist mir klar geworden, was mir an meinem Beruf gefehlt hat: die Authentizität.
Wie kam es denn dazu, dass Sie sich mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen wollten?
Ich war zunächst Anwältin in einer Hamburger Urheberrechtskanzlei und habe anschließend den Marken- und IP-Bereich bei der Bauer Media Group geleitet. Dann ist mein Vater plötzlich krank geworden und gestorben. Er war es, der wollte, dass ich Jura studiere – ich war anfangs skeptisch, habe es aber durchgezogen. Nach seinem Tod habe ich mich gefragt, was mir am meisten Freude bereitet in meinem Leben und festgestellt, dass das der authentische Austausch mit anderen Menschen ist. Dadurch kann man neue Erkenntnisse gewinnen und daran wachsen. Um mein Leben in diese Richtung auszurichten, kündigte ich meinen Job und habe mich seither intensiv mit Persönlichkeitsentwicklungsansätzen und Kommunikationstraining beschäftigt und hierzu verschiedene Fortbildungen gemacht. Auf dieser Grundlage habe ich ganzheitliche Workshops für die Anwaltswelt entwickelt und biete daneben zusammen mit anderen Experten auch Einzelcoachings an. Zudem bin ich weiterhin als selbstständige Anwältin tätig, was mir hilft, mich in meine Kunden hineinzusetzen, weil ich eine von Ihnen bin.
"Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse kennen"
Was verstehen Sie eigentlich unter Authentizität?
Zunächst, dass man so ist wie man ist und sich nicht verstellt. Das heißt aber nicht, dass man bei jeder Gelegenheit und jedem Gesprächspartner erzählen sollte, wie es einem gerade geht. Basis für den authentischen Umgang mit sich und anderen ist es, eine gute Selbstwahrnehmung zu haben und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse kennen. Dann kann man entscheiden, inwiefern man diese nach außen kommunizieren möchte oder diese selbst reguliert.
Wieso sollten Juristinnen und Juristen authentischer sein?
Weil sie so einen besseren Zugang zu sich selbst haben und – nicht nur im beruflichen Kontext – erkennen, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Die Stärken kann man im Beruf einbringen, aber auch an den Schwächen arbeiten. Und man schüttet weniger Stresshormone aus. Man wird leistungsfähiger, weil man seine Energie nicht damit verschwenden muss, Dinge zu unterdrücken.
Und innerhalb der Kanzlei kann sich ein Wir-Gefühl aufbauen, wenn man offener und ehrlicher kommuniziert. Insgesamt schafft man also ein Arbeitsklima, in dem Menschen sich wohlfühlen.
Zunächst sollte man sich selbst gegenüber authentisch sein. Wie beginne ich damit?
Man sollte achtsam mit sich selbst umgehen – und auch mal "aus dem Autopiloten aussteigen". Am Tag ist man manchmal so sehr in diesem Modus, dass man seine Gefühle unterdrückt und nicht wahrnimmt, wo man gerade eigentlich steht. Deshalb sollte man zwischendurch innehalten und seine Gefühle und Gedanken zu beobachten. Dann kann man sich auch bewusst entscheiden, ob man den Fokus von Gedanken, die nicht förderlich sind, auf solche legt, die hilfreich sind.
"Führungskräfte sollten mit gutem Beispiel vorangehen"
Jeder Mensch ist anders – und in Anwaltskanzleien treffen viele verschiedene Charaktere aufeinander. Wie erkenne ich, wann ich was mitteilen kann?
Dafür braucht es ein gewisses Maß an Empathie, aber auch das kann man erlernen. Im Umgang miteinander ist es sehr hilfreich, zu wissen, dass es einem Kollegen oder einer Kollegin gerade nicht gut geht. Man muss ja gar nicht in die Tiefe gehen, sondern nur so weit, dass das Gegenüber weiß, dass etwas nicht stimmt, um es nicht auf sich selbst zu beziehen. Wenn der Chef aufgrund privater Umstände schlechte Laune hat und sich zurückzieht, dies aber offen kommuniziert, gibt er seinem Umfeld so eine Erklärung dafür. Und er zeigt sich menschlich, was einen offenen Umgang untereinander fördert.
Wie können Führungskräfte ihre Mitarbeitenden dabei unterstützen, authentischer zu sein?
Mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn man sein eigenes Verhalten verändert, verändert sich ja automatisch das Verhalten der anderen. Eine richtige Fehlerkultur habe ich bislang selten in Kanzleien erlebt. Auch als Chef kann und sollte man aber kommunizieren, wenn man etwas nicht gut gemacht hat – dann müssen die Mitarbeitenden auch keine Angst mehr haben, eigene Fehler zuzugeben.
Eine Führungskraft sollte einen Raum schaffen, in dem alle das Gefühl bekommen, sich öffnen zu dürfen. Regelmäßige Meetings und Mitarbeitergespräche sind dafür sehr wichtig. Kommunikationsschulungen für das ganze Team habe ich bislang auch eher selten in Kanzleien erlebt. Als Mitarbeiterin würde ich es als wertschätzend empfinden, wenn es nicht nur fachliche Fortbildungen gibt, sondern es auch mal um Themen wie Kommunikation geht.
Und: Interesse an den Mitarbeitenden zeigen, auch mal nachfragen, wie es ihnen wirklich geht.
"Bei guter Stimmung arbeiten Anwälte einfach besser"
Das Arbeitspensum in Kanzleien ist sehr hoch – da wird es häufig heißen, dass man keine Zeit für solche Themen hat. Was würden Sie dem entgegnen?
Ich würde auf die derzeitige Situation in einigen Kanzleien hinweisen: Es gibt immer weniger Rechtsanwaltsfachangestellte (ReFas) – und viele junge Anwältinnen und Anwälte entscheiden sich bewusst gegen den Job in der Großkanzlei. Mehr Geld für die Associates kann keine langfristige Lösung sein – man muss einfach mehr für seine Mitarbeitenden tun.
Natürlich muss man auch etwas Zeit in Mitarbeitergespräche und Geld in Kommunikationstrainings investieren. Aber man kann sich ja mal ausrechnen, was es kostet, wenn die Mitarbeitenden häufig fehlen oder sogar die Kanzlei verlassen – dann muss man neue Mitarbeitende suchen und einarbeiten. Das kostet am Ende des Tages mehr Zeit und auch Geld, weil häufig höhere Gehälter gezahlt werden müssen. Wenn aber eine gute Stimmung da ist, arbeiten Anwältinnen und Anwälte einfach besser, sind engagierter, loyaler und bleiben ihrem Arbeitgeber treu.
Wie kann Authentizität dabei helfen, etwas gegen die Fluktuation zu tun?
Gerade ReFas wünschen sich einen anderen Umgang. Oft werden sie zum Kaffeekochen und Kopieren eingesetzt – und damit sind sie verständlicherweise einfach unglücklich. Dieses Berufsbild muss sich verändern. Deshalb sollte man authentisch und wertschätzend miteinander umgehen, sodass ein Klima geschaffen wird, in dem alle Seiten sich wahr- und ernstgenommen fühlen.
Viele Anwältinnen und Anwälte neigen dazu, sich zu übernehmen und alle Aufgaben selbst erledigen zu wollen. Wenn ich allerdings offen in meinem Team kommuniziere, dass ich Unterstützung benötige, kann man gemeinsame Lösungen finden. Wenn ich ständig so tue, als ob ich alles kann, bekomme ich Aufgaben, die mir nicht liegen und mit denen ich auch mal überfordert bin. Wenn dagegen jeder seine Stärken und Schwächen zeigen kann, können Aufgaben nach den individuellen Stärken verteilt werden.
"Fehlende Authentizität trägt zu psychischen Erkrankungen bei"
Was sind die Folgen, wenn man nicht authentisch ist?
Es kann dauern, bis sich das bemerkbar macht, aber durch das Verstellen man macht sich selbst viel Stress und wird deshalb langfristig unglücklich im Job. Man macht vieles mit sich selbst aus und unterdrückt so Ängste. Das kann dann auch dazu führen, dass man kündigt und die Kanzlei wechselt – und unter Umständen machen andere das dann genauso. Meistens verlässt man ja nicht die Kanzlei, sondern die Personen, mit denen man nicht klargekommen ist. Ich glaube, dass sich das häufig vermeiden lassen könnte, indem man offener kommuniziert.
Das Ganze kann auch gesundheitliche Folgen haben. Auch darüber sprechen Anwälte und Anwältinnen selten, aber natürlich bringt der Beruf enorme Belastungen mit sich. Und wenn man alles nur mit sich selbst ausmacht, trägt das zu psychischen Erkrankungen bei.
Gerade psychische Erkrankungen gelten ja noch als Tabu-Thema unter Juristinnen und Juristen. Sollte man auch darüber sprechen?
Das kommt drauf an. Ich würde es nicht jedem empfehlen, das zu tun – sondern nur dort, wo es sich für einen selbst richtig anfühlt. Wenn zum Beispiel der Zugang für dieses Thema von der anderen Seite nicht da ist, ergibt es keinen Sinn.
Natürlich wünsche ich mir, dass das in unserer Gesellschaft anders wäre – das gilt nicht nur für die Anwaltswelt. Es sollte normaler werden, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Heutzutage würde ich jedoch nur wenigen dazu raten, weil man leider noch befürchten muss, dass das negative Folgen hätte.
Auch Mandantinnen und Mandanten erwarten einen "starken" Anwalt bzw. eine starke Anwältin. Wie reagieren sie, wenn Sie ihnen ehrlich sagen, dass es Ihnen gerade nicht gut geht?
Ich ziehe die Mandantinnen und Mandanten an, die zu mir passen. Deshalb habe ich das Gefühl, dass ich einen sehr guten und persönlichen Zugang zu ihnen habe. Es kann auch mal vorkommen, dass ich wütend bin. Dann fühlen sie sich sogar eher verstanden, als wenn ich nur sachlich bliebe. Aber dann kehre ich auch schnell wieder auf die sachliche Ebene zurück. Ich versuche immer, mich in ihre Situation hineinzuversetzen. So habe ich auch eher das Gefühl, dass ich etwas Langfristiges aufbaue.
Negative Erfahrungen habe ich tatsächlich noch keine gemacht. Aber da spielt auch Empathie eine große Rolle: Ich erkenne, wem gegenüber ich mich wie weit öffnen kann. Das ist der Schlüssel, warum ich gute Mandantenbeziehungen habe und weiterempfohlen werden. Wenn ich mich verstelle, spüren Menschen das auch und es fällt ihnen schwer, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Deshalb bin ich da anders und habe das Gefühl, dass genau das gut ankommt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Claudia Philipp ist seit dem Jahr 2009 als Rechtsanwältin im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes tätig. Vor ihrer Selbstständigkeit war sie über sieben Jahre Leiterin des Marken- und IT-Bereichs bei der Bauer Media Group. Zudem hat sie das Unternehmen "Inner Journeys" gegründet und bietet Workshops und Coachings für Kanzleien an.
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2022 M11 29
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