Kein Zugang zur Kantine
Die "Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2" legt fest, wer in welcher Reihenfolge einen Anspruch auf eine Impfung hat. Die Anordnung einer Impfpflicht enthält sie nicht. Eine solche wäre aufgrund des wesentlichen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit auch nur durch ein Gesetz regelbar. Dem Grunde nach ist eine gesetzliche Impfpflicht aber möglich und verfassungskonform, wie das Bundesverwaltungsgericht bereits 1959 (Urt. v. 14.7.1959, Az.: I C 170.56) anlässlich der Pflicht zu Pockenschutzimpfungen bejahte.
Auch im heutigen Infektionsschutzgesetz (IfSG) findet sich mit § 20 Abs. 6 S. 1 eine derartige gesetzliche Grundlage, wonach "bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist". Durch das Masernschutzgesetz vom 10. Februar 2020 wurde das IfSG in diesem Jahr – freilich unabhängig von der Corona-Pandemie – um eine Impfpflicht für schulpflichtige Kinder und in Schulen bzw. Betreuungseinrichtungen tätige Personen erweitert. Die Einführung einer derartigen gesetzlichen Impfpflicht fordert die Politik für das Corona-Virus derzeit (noch) nicht.
Pflicht zu Untersuchungen?
Unabhängig von einer fehlenden öffentlich-rechtlichen Impfpflicht als "Bürgerpflicht" werden im Privatrecht entsprechende Gedanken aber ventiliert. So wird seitens Fluggesellschaften bereits überlegt, nur noch geimpfte Passagiere mitzunehmen. Gleiches gilt für das Betreten von Restaurants oder Kinos.
Im Arbeitsrecht wurden bislang Fiebermessungen und Befragungen von Urlaubsrückkehrern nach Aufenthalten in Risikogebieten für zulässig erachtet. Die Schutzpflicht des Arbeitgebers für seine Beschäftigten, u.a. verankert in § 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) oder § 3 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), überwiege das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Arbeitnehmers und dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG).
Auch einige Tarifverträge verpflichten Arbeitnehmer zur Durchführung von gesundheitlichen Untersuchungen, wenn Zweifel an der Arbeitsfähigkeit bestehen und Verlangen eine Offenbarung des Untersuchungsergebnisses gegenüber dem Arbeitgeber. Derartige Regelungen werden vom Bundesarbeitsgericht (BAG, Urt. v. 25.1.2018, Az. 2 AZR 382/17) als wirksam angesehen.
Der 25-Jährige und sein 60-jähriger Kollege
Kann danach also der Arbeitgeber in Ausübung seines Direktionsrechts gem. § 106 Gewerbeordnung (GewO) den Arbeitnehmer schlicht anweisen, sich impfen zu lassen bzw. eine Impfung durch den Betriebsarzt zu dulden? Dagegen ließe sich zunächst die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) des betroffenen Arbeitnehmers anführen. Solange eine gesetzliche Impfpflicht nicht besteht, darf sie auch nicht durch die Hintertür eingeführt werden, so könnte man argumentieren. Schließlich droht einem ungeimpften 25-jährigen Arbeitnehmer statistisch gesehen keine große Gefahr bei einer Erkrankung, so dass dieser eine Impfung womöglich ablehnen könnte und für sich persönlich die Gefahren einer Impfung höher bewertet als eine Ansteckung mit Sars-CoV2. Ist das dann nicht eine hinzunehmende persönliche Entscheidung?
Anderseits: Was gilt für den 60-jährigen Kollegen oder die 40-jährige Kollegin mit einer gesundheitlichen Vorerkrankung, die sich als Beschäftigte nicht immer aussuchen können, mit wem sie bei der Arbeit zusammenarbeiten bzw. welchen beruflichen Kontakt sie haben, und für die eine Erkrankung lebensbedrohlich sein kann.
Auch möchte der Arbeitgeber seinen Betrieb am Laufen halten und kann sich seinerseits auf sein grundgesetzlich geschütztes Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs berufen, Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Der Ausbruch eines Infektionsgeschehens im Betrieb mit sich daran anschließenden behördlichen Quarantäneanordnungen stellt einen Eingriff hierin dar.
Direktionsrecht keine ausreichende Grundlage
In einem "Normal-Arbeitsverhältnis" eines Produktions- oder Dienstleistungsbetriebs wird das Direktionsrecht gleichwohl keine ausreichende Grundlage sein, einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Arbeitnehmers zu rechtfertigen. Impfen oder nicht ist kein dienstliches Verhalten und der Arbeitnehmer in seinem außerdienstlichen Verhalten grundsätzlich frei. Solange es keine gesetzliche Impfpflicht gibt, kann ein Arbeitgeber dies also auch nicht von seinen Mitarbeitern verlangen und zwangsweise durchsetzen.
Käme es zu einer gesetzlichen Impfpflicht, dürfte der Arbeitgeber einem impfunwilligen Arbeitnehmer nach Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung fristlos kündigen. Weitere Folge wäre, dass der Arbeitnehmer im Wege einer Leistungsklage zur Impfung verpflichtet werden könnte, die dann im Vollstreckungswege mit Zwangsgeld durchgesetzt werden könnte.
Keine Impfpflicht durch Arbeitsvertrag
Auch eine vertragliche Vereinbarung dürfte unwirksam sein. Sie wäre aufgrund der Verwendung durch den Arbeitgeber gegenüber dem als Verbraucher zu qualifizierenden Arbeitnehmer gem. § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB der AGB-Kontrolle zu unterwerfen. Nach dieser liegt eine unangemessene Benachteiligung gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB u.a. dann vor, wenn von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abgewichen wird, was vorliegend mit Blick auf die geschützten Grundrechtspositionen des impfunwilligen Arbeitnehmers der Fall wäre.
Indes spricht viel dafür, dass Arbeitgeber geimpfte Arbeitnehmer anders als Ungeimpfte behandeln dürfen. Im Einklang mit den Arbeitsschutzvorgaben ist es denkbar, dass Ungeimpfte keinen Zugang zu bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen wie der Kantine erhalten dürfen oder jedenfalls dies nur dann, wenn sie weiterhin eine Maske tragen und die Abstandsregelungen einhalten.
Auch gegen eine Incentivierung einer Impfung durch den Arbeitgeber dürften keine stichhaltigen Gründe sprechen, da der Arbeitgeber mit Blick auf seine Schutzpflicht und seine wirtschaftlichen Interessen ein berechtigtes Interesse an einer hohen Impfquote im Betrieb hat.
Besonderheiten bei Kontakt mit vulnerablen Gruppen
Ausnahmen mag man in besonderen Fällen diskutieren. Wer als Arbeitgeber eine Lungenfachklinik oder ein Altenpflegeheim betreibt, wird ein hohes Interesse daran haben, dass das bei ihm eingesetzte pflegerische Personal geimpft ist. Gegebenenfalls verlangen auch die Patienten oder deren Angehörige den Einsatz von "geimpften Personal". Selbst dann dürfte aber eine arbeitgeberseitige Anweisung zum Impfen schwerlich möglich sein.
Allerdings kann bei Impfverweigerern an eine ordentliche personenbedingte Kündigung wegen Wegfalls der Eignung gedacht werden. Die Rechtsprechung lässt es für eine solche Kündigung genügen, wenn aufgrund fehlender oder weggefallener persönlicher Eigenschaften eine vertragsgerechte Beschäftigung nicht mehr möglich ist. So hat das BAG etwa in Fällen diskutiert, in denen ein HIV-infizierter Arbeitnehmer in einem Reinraumbereich bzw. Laborbetrieb mit erhöhten Infektionsgefahren beschäftigt wurde (BAG, Urt. v. 19.12.2013, Az. 6 AZR 190/12).
Keine rechtliche Pflicht, aber moralisches Gebot
Gibt es keine anderweitige Einsatzmöglichkeit ohne Kontakt zu vulnerablen Patienten, so kann der Arbeitgeber womöglich nicht mehr in der Lage sein, seinen Arbeitnehmer adäquat zu beschäftigen. Es droht dann die personenbedingte Kündigung. Neu eingestellte Arbeitnehmer wird man gleichermaßen fragen dürfen, ob diese geimpft sind bzw. eine Impfung zur Einstellungsbedingung machen können.
Die Fragestellung lässt sich einfach erweitern: Was gilt, wenn ein Vertriebsmitarbeiter sich nicht impfen lassen will und dadurch keinen Zugang mehr in den Geschäftsräumen eines Kunden erhält oder er notwendige Dienstreisen mit dem Flugzeug nicht mehr antreten kann. Führt dies auch zum Wegfall der persönlichen Eignung und damit im äußersten Fall zu einer Kündigung?
Klar dürfte sein: Derartige Fälle werden im kommenden Jahr die Arbeitsgerichte beschäftigen, selbst wenn sich die Frage einer Impfung für die große Mehrzahl der Arbeitnehmer angesichts Priorisierung der Impfgruppen und mangelnder ausreichender Vakzine erst in einigen Monaten stellen wird. Ungeachtet der skizzierten rechtlichen Fragen zur Impfpflicht im Arbeitsverhältnis kommt solchen Konstellationen auch eine große moralische Bedeutung zu. Sind Solidarität mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch mit dem Arbeitgeber nicht bereits ausreichend Grund, sich impfen zu lassen?
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM sowie Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in Hamburg.
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