Der Anwalt und das Arbeitszeitgesetz – Teil 2

"Dann gründet doch einen Betriebsrat"

von Tanja PodolskiLesedauer: 6 Minuten

Kann das ArbZG in (Groß-)Kanzleien eingehalten werden? "Muss gehen" sagen die einen, "weltfremde Idee" meinen andere. Und schlagen vor, gut verdienende Anwälte gleich aus dem ArbZG auszunehmen. Großbritannien zeigt, dass das geht.

In den wirtschaftsberatenden Anwaltskanzleien ist es ein offenes Geheimnis, dass viele das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) nicht einhalten. In der Diskussion über die Folgen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Erfassung der Arbeitszeit hat mit Paul Schreiner ein Arbeitsrechtspartner bei Luther gefordert, Anwälte ab einem bestimmten Gehalt daher aus dem ArbZG auszunehmen. Sein Vorschlag bezieht sich auf Anwälte mit hohen Einstiegsgehältern in Großkanzleien bzw. auf wirtschaftsberatende Sozietäten.

Der Vorstoß lag gerade noch in der Vor-Corona-Ära, zumindest Deutschland war noch nicht von Kita- und Schulschließungen, Homeoffice, Kurzarbeit und massenhaft Gesetzgebungsvorhaben betroffen. Dann brach das Virus über Deutschland herein. Am 7. April erließ das Bundesarbeitsministerium (BMAS) die Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie. Damit gilt – begrenzt bis zum 31. Juli 2020 - für einige Branchen: Die Höchstdauer der täglichen Arbeitszeit ist von acht auf zwölf Stunden ausgedehnt und die notwenigen Ruhezeiten von elf auf neun Stunden gesenkt. So schnell kann es gehen.

Die Branche der Anwälte gehört aber nicht zu den von der Verordnung umfassten Branchen. Doch das, was derzeit auf Arbeits- oder Insolvenzrechtler einprasselt, wird nach der Pandemie auch auf die Anwälte im Transaktionsgeschäft wieder zu kommen: viel, viel Arbeit - und damit einhergehend die faktische Nichteinhaltung des ArbZG.

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Mehr als kritische Stimmen

Der Vorstoß aus der Großkanzlei hat daher Zustimmung ausgelöst – und massive Kritik: "Nicht das Gesetz muss sich ändern, sondern die Kanzleien", sagt Bernfried Rose, Namenspartner von Rose & Partner in Hamburg. Die Wirtschaftskanzlei mit 26 Anwälten an vier Standorten hat zum Mai 2019 die 36-Stunden-Woche für alle Anwälte und die 34-Stunden-Woche für sonstige Beschäftigte eingeführt, und wäre damit gerne Vorbild. 

"Die Arbeit in einer Kanzlei muss so organisiert sein, dass zwei Leute Vollzeit arbeiten und zwei Kinder betreuen können", meint Rose. Das sei möglich: "Ein Top-Kandidat schafft in acht Stunden mehr als ein mittelmäßiger Anwalt in zwölf Stunden", sagt der Anwalt. Im Schnitt hätten die Anwälte seiner Sozietät drei Krankheitstage pro Jahr, Fluktuation gebe es keine.

Die Kanzlei hat mit der Arbeitszeitreduzierung weitere Anwälte und Sekretariatskräfte eingestellt, um mögliche Engpässe zu vermeiden. Zudem gebe es eine Kanzleikultur der gegenseitigen Unterstützung. "Natürlich haben wir auch mal den Call mit Singapur zu ungünstiger Tageszeit oder Transaktionen, bei denen wir sechzig Wochenstunden arbeiten", so Rose, "aber dann kann jeder selbständig durch Freizeitausgleich seine Arbeitszeit wieder regulieren". Leisten könne sich das jeder Anwalt in einer Kanzlei. "Aber man muss sich das auch leisten wollen, denn natürlich verdienen wir in unserer Sozietät weniger als Partner, bei denen alles auf Gewinnmaximierung ausgelegt ist." Doch mit ihrer Organisation sei die Einhaltung von Ruhe- und Höchstarbeitszeiten bei Rose & Partner kein Problem.

Für Associates gilt das ArbZG

Dr. Daniel Röder sieht das differenzierter: "Wir arbeiten in einer Beratungsbranche, das hat eine gewisse eigene Dynamik", meint der heutige Partner bei Greenfort in Frankfurt, der seine Karriere bei einer Großkanzlei begonnen hat. Sicherlich gebe es in manchen Kanzleien die überflüssige Attitüde, Mitarbeiter zu Unzeiten zu kontaktieren oder ihre abendliche Präsenz in der Kanzlei zu erwarten. Doch das sei nicht alles: "Gerade bei internationalem Geschäft mit unterschiedlichen Zeitzonen müssen Anwälte flexibel sein können, da kann die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit dann durchaus mal problematisch sein."

Für Angestellte aber gilt das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das heißt: höchstens acht Stunden Arbeit an Werktagen, eine Ausweitung auf zehn Stunden ist nur für beschränkte Zeit und bei einem Ausgleich innerhalb der nächsten rund sechs Monate erlaubt. Gesetzlich vorgeschrieben ist in § 5 Abs. 1 ArbZG zudem: "Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben." Und das heißt: Keine Telefonkonferenz mit Singapur und auch kein Lesen einer einzigen Email in diesen Zeitraum, sonst ist die Ruhezeit unterbrochen und beginnt von vorne.

Thema nicht allein von Großkanzleien

Bernd Weller, Arbeitsrechtspartner bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, teilt beim Kurznachrichtendienst Twitter die Position von Luther-Partner Schreiner: "Das ArbZG basiert gedanklich auf Industrieproduktion und führt in allen Dienstleistungsberufen, bei denen Arbeitnehmer über Zeitsouveränität verfügen, zu Problemen." Er bemerke schon lange, dass er von Mandanten zwischen 17 und 20 Uhr wenig kontaktiert werde. Danach gebe es wieder Email-Anfragen. "Weil PersonalleiterInnen Kids betreuen, zu Bett bringen und dann wieder arbeiten." Nach der gesetzlichen Regelung im ArbZG ist das nicht erlaubt. "Gerade die Ruhezeitregelung verhindert flexiblen Familien-Karriere-Mix und verfestigt damit faktische Diskriminierung", meint Weller.

"Die Koppelung der Arbeitszeit an das Gehalt ist dem EU-Recht auch gar nicht fremd und in Großbritannien über ein Opt-in/Opt-out gang und gäbe", sagt der Anwalt gegenüber LTO. So könnten die Angestellten selbst entscheiden, ob sie zugunsten des Arbeitsschutzes auf Gehalt verzichten oder eben nicht.

Ähnlich argumentiert auch Paul Schreiner von Luther. Er möchte seinen Vorstoß, Anwälte aus den Regelungen des ArbZG auszunehmen, auf die angestellten Großkanzleianwälte fokussieren. Die Partner der Kanzleien fallen mangels Angestelltenstatus ohnehin nicht unter das ArbZG. Schreiner sieht eine Vergleichbarkeit mit den in Art. 17 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RiLi) genannten Fällen. Danach können die Mitgliedstaaten von den Vorgaben zur Arbeitszeit unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen machen – so wie es Großbritannien gemacht hat.

In Deutschland aber gelten die angestellten Anwälte, im Wirtschaftskanzleijargon "Associates", als Arbeitnehmer, Ausnahmeregelungen nach der EU-RiLi gibt es für sie nicht. Die Einstufung folgt aus § 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Arbeitnehmer arbeiten weisungsgebunden, fremdbestimmt und in persönlicher Abhängigkeit. Doch trifft das vollständig die Lebenswirklichkeit von Associates in Wirtschaftskanzleien, insbesondere im Vergleich zur Situation vieler anderer Arbeitnehmer in Deutschland?

Wie schutzbedürftig sind Associates?

"Die Höhe des Gehalts beim Berufseinstieg ist für mich ein Indikator dafür, dass sich ein Mitarbeiter selbst schützen kann und den Schutz des Arbeitszeitgesetzes nicht braucht", sagt Schreiner. Das gelte für Anwälte in Großkanzleien mit ihrem hohen Gehalt ebenso wie für Investmentbanker oder Fußballspieler. Eine generelle Bereichsausnahme für Anwälte fordert er daher nicht, schließlich bezögen ja nicht alle die Gehälter bezögen, die in Großkanzleien üblich seien.

Auch für die Advokaten, die nicht vollständig von der Anwendung des ArbZG ausgenommen werden könnten, bedürfe es aber in jedem Fall einer Flexibilisierung, um das Arbeitszeitrecht mit dem anwaltlichen Berufsethos, für die Mandanten verfügbar sein zu wollen, besser zu vereinbaren. Wie bisher nämlich gehe es aus seiner Sicht nicht dauerhaft weiter. Dazu Schreiner: "Die Alternative zu einer Änderung des ArbZG ist nur ein generelles Umdenken".

Eine Frage der Werte

Bernfried Rose findet die aktuelle Situation "unsäglich. Dann sollen die Großkanzleien zumindest offen sagen, sie wollen so viel wie möglich aus den Leuten herausquetschen und gar nicht versuchen, die Arbeit schlicht auf mehr Kollegen zu verteilen. Aber in einer Branche, in der es uns im Allgemeinen unfassbar gut geht, könnten die Entscheidungsträger alternativ dazu auch die Welt ein bisschen besser machen." Und weiter: Bevor 1865 die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde, habe auch keiner geglaubt, dass die Baumwollindustrie weiter existieren würde. Ein klares Umdenken sei sicherlich auch in Großkanzleien möglich.

"Das Thema ist eine politische Frage, keine dogmatische", sagt Professor Dr. Georg Annuß, Partner bei der Arbeitsrechtsboutique Staudacher Annuß. "Die Frage ist: Wollen wir Treffpunkte in der Gesellschaft, Räume für soziales Zusammentreffen, Zeit füreinander zu selben Zeiten? Dieser bisherige Grundkonsens wird mit der Diskussion in Frage gestellt. Es geht also nicht allein um Arbeitnehmerschutz, sondern auch um die Frage, ob und wie wir unsere zunehmend segmentierte Gesellschaft in ihren Werten zusammenhalten."

Für Bernfried Rose müssten die Partner in den Kanzleien dafür als Vorbild vorangehen. Bisher aber, so sagt es einer, der viele Jahre einer Großkanzlei gearbeitet hat, gelte ein "Gentlemen's-Agreement, dass die Arbeitnehmerschutzrechte beim Einstieg in die Kanzlei verkauft werden". Wie wenig die Einhaltung von Arbeitszeiten interessiere, zeige der bei Kritik immer wieder geäußerte Satz: "Dann gründet doch einen Betriebsrat."

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