Übergriffe auf Anwälte in der Türkei

Es war einmal… der Rechts­staat

von Tanja PodolskiLesedauer: 6 Minuten
Anwälte in der Türkei werden derzeit systematisch in ihrer Berufsausübung behindert. Was die deutsche Strafverteidigerin Gül Pinar noch schockiert, gehört am Bosporus zum Alltag.

"Polizisten gehen rabiat gegen Anwälte vor", "Polizei setzt Opfer-Anwälte fest", demonstrierende Anwälte verhaftet  – die Nachrichten klingen eher nach Nordkorea oder vielleicht noch nach Russland als nach der Türkei. Einem Land, mit dem die Europäische Union seit 2005 Beitrittsverhandlungen führt. Doch die Türkei geht seit einigen Jahren massiv gegen Anwälte vor. Die Absurdität steckt bei einem Land, das für sich Demokratie in Anspruch nimmt, schon im Vorwurf: Sympathie und schon dadurch gemeinsame Sache mit Regierungsgegnern und der PKK. Das Demokratieverständnis war einmal ein anderes. "Seit der Gründung 1923 war das Land laizistisch geprägt und hat diese eigene Vorgabe sehr ausgeprägt gelebt", erklärt Gül Pinar. Gül Pinar ist 47 Jahre alt. Sie ist in der Türkei geboren, ging in Istanbul auf eine Französisch-Türkische Schule – "ganz normal für das Bürgertum damals". Zeitlich mehr zufällig als geplant fiel mit dem Militärputsch der 80-er Jahre zusammen, dass sie für ein Jahr auf eine Schule in Frankreich gehen sollte – eine übliches Vorgehen in dieser Gesellschaftsschicht, die Wert auf Bildung legt. Wegen des Konflikts blieb sie - länger als geplant - bis 1982, also 1,5 Jahre in Frankreich. So war sie schon früh auch persönlich von dem innenpolitischen Geschehen in der Türkei betroffen. Und es hat sie nie ganz losgelassen. Nicht, als sie nach der Scheidung ihrer Eltern und der Heirat ihrer Mutter mit einem Deutschen nach Mollhagen in Schleswig-Holstein zog, nicht, als sie in Hamburg Jura studierte. Gül Pinar ist heute Strafverteidigerin, war Verteidigerin eines der Angeklagten wegen der Attentate in den USA am 11. September und ist Vertreterin der Nebenklage im NSU-Prozess. Und sie ist sehr aktiv im Deutschen Anwaltverein (DAV), für den sie die Vorkommnisse in der Türkei beobachtet.

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Türkische Anwaltskammer bricht geltendes Recht

Die jüngsten Vorfälle geschahen um die Eröffnung des Rechtsjahres in der Türkei. Ein Ereignis, zu dem in den vergangenen Jahren das Justizministerium offiziell eingeladen hatte. In diesem Jahr nicht: Die Feier war per Gesetz verboten worden. Noch einmal: Die Veranstaltung des Justizministeriums zur Feier der Eröffnung des Rechtsjahres war per Gesetz verboten worden. Begründet wurde dieser Schritt mit politischen Differenzen unterschiedlicher Beteiligter und der Nähe des Datums zu den Neuwahlen der Regierung. Der DAV teilte mit, Grund für das Verbot sei die Angst vor berechtigter Kritik der türkischen Anwaltschaft gewesen. Daraufhin geschah etwas, was nicht selten passiert in der Türkei dieser Tage: Die türkische Anwaltschaft leistete Widerstand. Der Dachverband der türkischen Rechtsanwaltskammern, die "Union of Turkish Bar Associations", lud kurzerhand selbst zur Feier nach Ankara ein – und brach damit geltendes Recht. Gül Pinar fuhr als Vertreterin des Präsidenten des Deutschen Anwaltsvereins hin. Um es gleich zu sagen. Es gab keine Verhaftungen während der Feier. Aber Ermittlungsverfahren gegen Rechtsanwälte im Anschluss. "Es sind unglaubliche Bedingungen, unter denen die Anwälte heute in der Türkei arbeiten", sagt Pinar. Das begann vor etwa zwölf Jahren. Damals übernahm die islamische Partei Erdogans die Regierung. Vom ehemals gelebten Laizismus sei inzwischen nicht mehr viel zu erkennen, sagt Pinar. "Viele Geschichten werden kaum bekannt. Aber Ärztinnen, die etwa in der Gerichtsmedizin arbeiten, lassen sich ihre genehmigten Urlaube inzwischen notariell bestätigen – damit ihnen nicht ungenehmigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz vorgeworfen werden kann, was zur Kündigung führen würde." Die Anwälte, die derzeit noch das Rechtssystem in der Türkei prägen, sind noch beeinflusst vom laizistischen System. "Doch jetzt wachsen Menschen heran, die ein anderes Gedankengut in sich tragen", sagt Pinar. Noch seien in dem in der Fläche riesengroßen, wunderschönen Justizpalast in Istanbul kaum Menschen mit Kopftüchern zu sehen. Doch das werde sich zwangsläufig bald ändern. "Früher gab es eine einheitliche juristische Ausbildung", erklärt Pinar. Inzwischen dürften auch Imamschulen Juristen ausbilden. "Diese Leute bekommen ein Diplom, obwohl sie gar nicht Rechtswissenschaft im herkömmlichen Sinne studiert haben." Noch wissen die Anwaltskammern sich zu helfen: Sie lassen diese sogenannten Juristen nicht als Anwälte zu – doch für Gül Pinar ist es eine Frage der Zeit, wie lange das noch funktioniere.

Das Militär ist lahmgelegt

Früher einmal, sagt sie, obwohl sicherlich einiges gegen Militär-Putsche spreche, da habe das Militär in einer Situation, in der die Verfassung des Landes gefährdet zu sein schien, wie etwa in den 70er Jahren, als die Linken für eine instabile politische Sorge verantwortlich zeichneten, die Regierung gestürzt. Heute allerdings sei das Militär bereits lahm gelegt. Agitator sei die islamisch-konservative Partei AKP von Erdogan, die Polizisten deren Handlanger. Die Polizisten seien diejenigen, die in laufenden Strafverfahren Laptops von Anwälten zerstörten, die Verhaftungen auch von Anwälten vornehmen. In dem sogenannten Balyoz -Verfahren hatten sich Strafverteidiger u.a. nach der Zerstörung der Computer bei der Anwaltskammer beschwert – sie könnten die Verteidigung ihrer Mandanten nicht richtig wahrnehmen. Ihre Mandanten, das waren hochkarätige Militärangehörige, die angeblich 2002/2003 die Regierung hatten stürzen wollen. Die Anwaltskammer schickte Beobachter zu dem Verfahren, die nach weiteren Vorfällen im Gerichtssaal gegenüber dem Gericht sagten: "Wir erwarten und beantragen, dass die Würde der Anwälte gewahrt wird." Gegen die Wortführer, die Beobachter der Anwaltskammer, wurden daraufhin Ermittlungsverfahren eingeleitet – wegen Beeinflussung eines öffentlichen Organs, sagt Pinar. Es drohten immerhin bis zu zwei Jahren Haft. Im Kontext des Balyoz-Verfahrens wurden auch Journalisten von Erdogan-kritischen Medien verhaftet und später auch verurteilt. Spiegel Online berichtete, in keinem anderen Land der Welt säßen mehr Journalisten in Haft als in der Türkei. Der Vorwurf ist derselbe wie gegenüber den Angeklagten im Balyoz-Verfahren selbst: Die Medien machten sich zu Werkzeugen von Regierungsgegnern und der Kurdenrebellen der PKK. Beobachter sind davon überzeugt, dass Angriffe etwa auf die regierungskritische Zeitung Hürriyet in Istanbul von führenden Politikern der Türkei mindestens stillschweigend geduldet würden.

Die Gesetze sind gut – aber Erfolg bringt ihre Einhaltung nicht

An den gesetzlichen Grundlagen in der Türkei liegen diese Entwicklungen laut Pinar nicht. Das System der Strafprozessordnung entspricht der deutschen, im Grundsatz existiert ein umfassender Rechtsstaat. Doch die fehlende Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei steht bereits international in der Kritik. Neben der Anwaltschaft sei aber auch die Justiz selbst vor unrechtmäßiger Einflussnahme nicht gefeit, teilte kürzlich der DAV mit. Wiederholt seien Verhaftungen von politisch unliebsamen Richtern und Staatsanwälten zu verzeichnen. Bereits seit Mitte 2012 beobachtet der Anwaltverein ein Strafverfahren gegen 46 Anwältinnen und Anwälte in der Türkei, denen vorgeworfen wird, Mitglieder einer verbotenen kurdischen Vereinigung zu sein. Im März 2014 waren die letzten inhaftierten Anwälte nach 28 Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Doch ein Ende des Prozesses ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar. Der Prozess werde verschleppt und von einer neuen Kammer leidlich geführt, die sich ohne neue Beweisaufnahme auf die Ergebnisse der mittlerweile abgeschafften Sonderkammer für politische Verfahren stütze, so der DAV. "Wo eine unabhängige Justiz politisch nicht geduldet wird, da werden Waffengleichheit und mithin wirkungsvolle Strafverteidigung zur Illusion", sagt Gül Pinar. "Parteiisch zu sein, ist die natürliche Aufgabe der Strafverteidigung und nicht als Komplizenschaft zu möglichen Straftaten zu verstehen."
Der türkische Staat sei schon aufgrund seiner in Art. 6 EMRK eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gehalten, die Unabhängigkeit von Justiz und Anwaltschaft zu respektieren. Auch die Justiz selbst dürfe die Wahrnehmung anwaltlicher Mandate nicht kriminalisieren. Und sich selbst auch nicht. Gül Pinar hat einmal gesagt, ihr persönliches Engagement für Mandanten habe nichts mit deren Schuld oder Unschuld zu tun. Ihre Aufgabe sei die Verteidigung von Rechten. In der Türkei hätte sie dabei viel zu tun.

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