Von der Großkanzleianwältin zur Künstlerin

"Wahr­schein­lich arbeite ich sogar mehr als früher"

Interview von Dr. Franziska KringLesedauer: 8 Minuten

Annika Juds war viele Jahre Anwältin in verschiedenen Kanzleien – und hat sich dann entschieden, ihre Leidenschaft für Kunst zum Beruf zu machen. Im Interview erzählt sie, wie es dazu kam und wie ihre Bilder um die Welt gingen.

LTO: Frau Juds, Sie waren über acht Jahre lang Anwältin, zuletzt bei Latham & Watkins. Wie kam es, dass Sie den sicheren Kanzleijob aufgegeben haben und Künstlerin geworden sind?

Annika Juds: Ich habe schon einmal etwas komplett Neues gemacht: Zunächst war ich lange Beamtin bei der Stadt Hamburg und habe dann nebenbei Jura studiert. Als die Stadt mir keinen Sonderurlaub für mein Referendariat geben wollte, habe ich mich aus dem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit entlassen lassen und bin Anwältin geworden. Danach war ich in zwei Großkanzleien, erst bei Linklaters und dann bei Latham & Watkins. Und beide Male habe ich aus dem gleichen Grund aufgehört: Es gab keine greifbare Perspektive mehr. Ich hätte wechseln müssen, um Partnerin zu werden. Eigentlich habe ich bei Latham gekündigt, um juristisch etwas Neues zu machen. Ich wollte mir drei Monate Zeit geben, um in Ruhe darüber nachzudenken, was ich machen möchte, ob ich in eine andere Kanzlei gehe, in eine NGO oder in ein Unternehmen. Ich wollte nicht im nächsten Hamsterrad landen.

Aber dann kam alles anders.

Ja. Wenn man kündigt, bekommt man ja keine neuen Mandate mehr, deshalb hatte ich plötzlich auch mehr Zeit. Zwei Wochen nach meiner Kündigung kam Corona und alle sind ins Homeoffice gewechselt. Ich habe angefangen, wieder mehr zu malen. Eigentlich male ich schon, seit ich denken kann. Nur wäre ich mit 18 nie auf die Idee gekommen, Kunst zu meinem Beruf zu machen. Aber nebenbei war ich immer kreativ.

Als ich damals im Jahr 2016 von Linklaters gegangen bin, haben mir die Kollegen einen Gutschein für ein Mietatelier in München geschenkt. Daraufhin war ich oft sonntags zwei Stunden im Atelier. Ich mochte die Leute da. Man wird nicht nach seinen Noten und danach beurteilt, auf welcher Stufe der juristischen Rangordnung man sich gerade befindet. Dann hat mich eine Freundin auf die Idee gebracht, einige meiner Bilder auszustellen.

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"Meine Bilder waren mit der Aida in der Karibik unterwegs"

Wie ging es dann weiter?

Tatsächlich kam jede Woche ein neues Projekt, das ich unbedingt noch machen wollte. Aus den drei Monaten Auszeit wurden schnell sechs. Während der Corona-Pandemie passierte ohnehin nicht viel.

Ich hatte plötzlich dann eine Mail von AIDA Cruises im Posteingang. An Bord der Kreuzfahrtschiffe gibt es Galerien und AIDA wollte dort meine Bilder ausstellen. Eine Bekannte hatte den Tipp gegeben, ohne dass ich es mitbekommen habe. Dann waren meine Bilder weltweit auf AIDA-Schiffen unterwegs.

Wann haben Sie entschieden, Ihre Kunst zum Beruf zu machen?

Wann das genau war, kann ich gar nicht mehr sagen. Es hat sich alles so entwickelt. Fast jede Woche trudelten neue Projekte ein, ich habe Bilder über Instagram, u.a. nach Hawaii, verkauft und es kamen viele Presseanfragen. Und so zog das immer mehr Kreise, mehr Sichtbarkeit führt zu mehr Interesse. Ich habe Online-Fortbildungen in vielen Bereichen gemacht, zum Beispiel im Marketing oder in Buchführung. So war relativ schnell klar, dass Jura erstmal warten kann.

"Die Frage, wieso ich mit zwei Prädikatsexamina Künstlerin geworden bin, kommt nur noch selten"

Wie haben die Menschen in Ihrem Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert?

In der Kanzlei war keiner überrascht, da wird erwartet, dass Leute aussteigen. Die Fluktuation ist sehr hoch. Aber in der Regel kündigt man, weil man woanders mehr Geld verdient oder eine bessere Position bekommt. Ungewöhnlich ist es dann, wenn man – so wie ich – aussteigt und noch keinen neuen Job hat.

Mein direktes Umfeld war schon überrascht. Ich war sonst immer dafür bekannt, dass ich einen Plan habe und den auch verfolge. Und jetzt hatte ich gekündigt, ohne einen Plan zu haben, was ich eigentlich machen will. In meinem Umfeld gibt es Menschen, die meine Kunst auch nach vier Jahren noch als Hobby betrachten. Aber ansonsten ist die Unterstützung toll, vor allem aus der Familie. Die Frage, wieso ich mit zwei Prädikatsexamina Künstlerin geworden bin, kommt nur noch selten. Die meisten sehen einfach, wie gut meine Kunst ankommt und wie glücklich ich jetzt bin.

Sie haben nicht nur Ihren Anwaltsjob aufgegeben, sondern Sie verzichten auch auf ein festes fünfstelliges Monatsgehalt. Können Sie von der Kunst leben?

Das werde ich tatsächlich sehr oft gefragt. Als Anwältin bin ich das nie gefragt worden und ich bin mir sicher, es gibt Anwälte, die weniger verdienen als ich. Ja, ich kann von meiner Kunst leben, und zwar in München. Natürlich weiß ich nicht, was nächsten Monat ist, aber nach oben gibt es keine Grenzen – anders als im Angestelltenverhältnis. Ich mag auch den Gedanken, dass man selbst dafür verantwortlich ist, wie viel man verdient.

"Ich male starke Frauen für starke Frauen"

Wie würden Sie Ihre Kunst beschreiben?

Ich male Porträts von Frauen. Schon als ich zwölf Jahre alt war, habe ich aus Zeitschriften Stars abgemalt. Aber immer nur Porträts, nicht den ganzen Körper. Ich mag es, die Mimik festzuhalten.

Ich habe auch einen eigenen Stil, der sich mit den Jahren entwickelt hat. Ich arbeite auf Holzboards, die ein Schreiner hier lokal für mich herstellt. Auf diese Holzboards trage ich Acrylfarbe auf, gern in Neon. Dann male ich die Porträts mit Tinte per Hand darauf. Wenn das Bild nach ein paar Wochen fertig ist, überziehe ich das mit Epoxidharz, wodurch es einen glasähnlichen Glanz erhält. Die ganze Prozedur ist sehr aufwendig, aber auch besonders.

Was drücken Sie mit Ihren Bildern aus?

Ich male starke Frauen für starke Frauen. Meine Bilder haben Titel wie "Sei mutig" und "Der nächste Schritt" und jedes Kunstwerk hat eine bestimmte Intention. Menschen sollen sich meine Bilder aufhängen und täglich an etwas Bestimmtes erinnert werden: an einen Wert, ein Ziel oder eine Stärke. Denn dann ist Kunst mehr als nur Deko oder eine Technik, das nutzt sich ab. Dann kann Kunst einen echten Mehrwert haben und dich positiv beeinflussen. Ich mag das sehr und das treibt mich an.

Bei Anwälten in der Großkanzlei sind 60- oder 70-Stunden-Wochen ja keine Seltenheit. Arbeiten Sie jetzt mehr oder weniger als vorher?

Auf jeden Fall arbeite ich nicht weniger, wahrscheinlich sogar mehr. Beibehalten habe ich, dass ich morgens nach dem Aufwachen als erstes meine Mails checke. Aber natürlich hat sich vieles geändert, der starre Kasten ist nicht mehr da. Früher war ich von morgens bis 21 oder 22 Uhr im Büro, um dann nach Hause zu fahren und auf dem Sofa den nächsten Tag zu planen. Auch nachts und am Wochenende ist keine Seltenheit gewesen.

Jetzt versuche ich, keine Termine mehr vor 10 Uhr zu machen. Ich frühstücke morgens – das habe ich früher nicht gemacht. Dann gehe ich als erstes für drei oder vier Stunden ins Atelier und male und entwickle neue Konzepte. Nach einer späten Mittagspause kümmere ich mich um Dinge wie Buchhaltung, Social Media, neue Marketingstrategien, meinen Newsletter und den Online Shop. Am Abend bin ich dann manchmal noch im Atelier. Mein Wochenende läuft genauso ab. Häufig sage ich auch, dass nicht die Kanzlei das Problem war, sondern ich. Ich arbeite einfach gerne und treibe gerne Dinge voran.     

Wenn Sie zurückdenken, würden Sie hinsichtlich Ihrer Karriere etwas anders machen?

Ja, aber auf den Gedanken bin ich auch erst gekommen, als ich in die Selbstständigkeit gegangen bin. Jetzt muss ich viel über meine Strategie reflektieren, was funktioniert und was vielleicht nicht. In der Kanzlei ging es vor allem darum, fachlich und haftungsrechtlich ein für den Mandanten perfektes Produkt zu liefern. Ich habe nie drüber nachgedacht, was eigentlich mein Branding dort ist und wofür ich stehe. Das ist allerdings auch nicht so leicht, wenn Dir das niemand sagt, sondern die Partner immer nur von Business Cases reden. Die ersten ein oder zwei Jahre in der Großkanzlei bist du damit beschäftigt, körperlich und fachlich mitzuhalten. Du musst herauszufinden, ob du das schaffst, mit dem Druck umzugehen, viel zu arbeiten, wenig zu schlafen und kaum Zeit für anderes zu haben. Da machst Du dir keine Gedanken über die Ausrichtung.

Ich hätte mich viel schneller auf ein arbeitsrechtliches Teilgebiet spezialisieren sollen. Die Leute müssen wissen, wofür man als Anwältin steht. In der Kunstwelt habe ich mir mein eigenes Branding geschaffen. Die Leute sehen ein Bild und wissen sofort, dass es von mir ist. In der Kanzlei hatte ich keinen klaren Wiedererkennungswert. Aber das ist wichtig, und Netzwerken ist wichtig. Ansonsten hätte ich aber nichts anders gemacht. Alles, was ich gemacht habe, führte mich dahin, wo ich jetzt bin.

"Wenn ich keinen Spaß mehr an der Kunst haben sollte, bleibt immer noch Jura"

Welche Tipps haben Sie für Juristinnen und Juristen, die auch mit dem Gedanken spielen, etwas komplett anderes zu machen?

Oft höre ich den Satz "Ich kann ja sonst nichts außer Jura". Das glaube ich nicht, im juristischen Bereich muss man ja ein Allrounder sein. Jeder hat seine Stärken und Erfahrungen. Der erste Schritt ist es, das Talent zu finden, was einen außerhalb von Jura noch fesselt. Welche Bücher liest man, womit beschäftigt man sich ansonsten? Das sind die Themenbereiche, in die man gehen könnte. Und dann kommt alles Schritt für Schritt. Man kann sich einen Plan machen und Dinge ausprobieren – und dann muss man es irgendwann einfach machen. Viele fangen parallel zum Job an, und irgendwann nimmt es immer mehr Raum ein. Dann muss man sich die Frage stellen, ob man den Job verlässt oder nicht. Viele aus meinem Umfeld haben tatsächlich gekündigt – und merken dann, wieviel mehr Kreativität sie haben, wenn sie nicht mehr fünf Dinge gleichzeitig machen müssen.

Können Sie sich vorstellen, irgendwann wieder in eine Kanzlei zurückzukehren?

Manchmal frage ich mich, was passieren müsste, damit ich darüber nachdenke, aber gerade kann ich mir das nicht vorstellen. Doch wenn ich irgendwann keinen Spaß mehr an meiner Kunst haben sollte und das zum Zwang würde, würde ich wieder Jura machen. Ich würde aber vieles anders machen, meinen Job wohl auch anders wählen und keine zwölf Stunden am Tag nur juristisch arbeiten. Ich würde mich auch um Marketing, Mandantenakquise und Vorträge kümmern und kreativer arbeiten. Ich würde gerne Menschen inspirieren, dass man mit Jura viele Dinge machen kann, wenn man seine Nische findet. Also ja, ich würde vermutlich wieder Jura machen – aber anders.

Vielen Dank für das Gespräch!

Annika Juds war über acht Jahre lang Anwältin bei Linklaters und Latham & Watkins. Im Jahr 2020 hat sie sich mit ihrer Kunst selbstständig gemacht.

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