Das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht heute seine Triage-Entscheidung. Justizminister Marco Buschmann spricht über seine Pläne. Weltärztepräsident provoziert mit "Richterlein"-Äußerungen heftigen Widerspruch.
Thema des Tages
BVerfG – Triage-Gesetz: An diesem Dienstag veröffentlicht das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden von neun Beschwerdeführer:innen mit schweren Behinderungen. Sie wollen erreichen, dass der Gesetzgeber die sogenannte Triage gesetzlich regelt und die Etablierung von Regeln nicht privaten Verbänden wie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) überlässt. Zugleich griffen die Beschwerdeführer:innen die bestehenden Regeln für die Triage an, die an die "klinische Erfolgsaussicht" als zentrales Kriterium anknüpfen. Das Prinzip, die Patient:innen mit den besten Überlebenschancen zuerst zu behandeln, orientiere sich bisher an abstrakten Erfolgsaussichts-Werten und nicht an der individuell zu bestimmenden medizinischen Indikation. So bestehe die Gefahr, dass Menschen mit Behinderung strukturell schlechter beurteilt würden. Es berichtet die SZ (Wolfgang Janisch).
Bei LTO (Felix Zimmermann) findet sich ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Oliver Tolmein, der die Beschwerdeführer:innen in dem Verfahren vertritt. Er leitet aus Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz die Verpflichtung des Gesetzgebers ab, für den Fall einer Priorisierung angemessene Vorkehrungen zu treffen, um behinderungsbedingte Beeinträchtigungen auszugleichen. Eine Triageentscheidung müsse diskriminierungsfrei sein.
Rechtspolitik
Justizminister Buschmann im Interview: Im Gespräch mit der FAZ (Corinna Budras) verteidigt Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) die eingeschränkten Länderbefugnisse zur Corona-Eindämmung. Außerdem spricht er über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht, seine Skepsis gegen den Aufbau eines nationalen Impfregisters, den von ihm geplanten weiten Schutz von Whistleblowern, seine rechtspolitischen Ziele und von ihm komponierte elektronische Musik.
Justiz
OVG Nds zu 2G: Der Bund Deutscher Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter in Deutschland kritisiert die Äußerungen von Weltärztebund-Chef Frank Ulrich Montgomery. Diese seien "in der Sache unqualifiziert und im Ton unangemessen", so der Vorsitzende Robert Seegmüller. Montgomery verkenne die Funktion der Gerichte bei der Kontrolle staatlicher Hoheitsakte grundsätzlich. Montgomery hatte erklärt, er stoße sich daran, "dass kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismäßig halten". LTO berichtet.
Wolfgang Janisch (SZ) meint, Montgomery habe das Prinzip des Rechtsstaates nicht begriffen. Es sei wirklich problematisch, wenn ein führender Ärztevertreter die Pandemiebekämpfung auch nach zwei Jahren als permanenten Ausnahmezustand ansehe, in der das Grundrechtsgefüge außer Kraft gesetzt werden muss. Martin Greive (Hbl) meint, Montgomery spalte mit seinen polemischen Aussagen die Gesellschaft. Seine Äußerung zeuge von einem fragwürdigen Verständnis von Gewaltenteilung. Zugleich bestärke er Coronaleugner in ihrem falschen Glauben, der Rechtsstaat sei während der Pandemie ausgehöhlt oder gar aufgelöst worden. Für Helene Bubrowski (FAZ) sind Montgomerys Äußerungen "eine Respektlosigkeit sondergleichen". Er habe sich auf das "Gelände der verwerflichen Angriffe auf die Justiz" begeben, wo diese verächtlich gemacht und das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert werde.
BVerfG – Vorratsdatenspeicherung: Laut netzpolitik.org (Tomas Rudl) hat das Bündnis aus Verbänden und Aktivist:innen, das 2016 Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben hat, seinen Antrag angepasst, um auf die im Dezember in Kraft getretene Novelle des Telekommunikationsgesetzes zu reagieren. Die aktualisierte Beschwerde weist etwa darauf hin, dass unter Umständen Messenger-Dienste von der Vorratsdatenspeicherung betroffen sein könnten, die Zweckbindung der gesammelten Daten unzureichend ausfalle und Vertrauensberufe nicht genügend geschützt seien.
BAG in 2021: LTO (Tanja Podolski) stellt neun wichtige Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aus diesem Jahr vor. Es geht unter anderem um Urlaub in der Kurzarbeit, den Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte, Überstunden in der Teilzeit und Betriebsmittel für Lieferfahrer:innen.
LAG Berlin-BB zu Videotechnik: beck-community (Christian Rolfs) stellt eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg aus dem April 2021 vor. Danach kann ein elfköpfiger Betriebsrat verlangen, dass ihm zwei Lizenzen zur Durchführung von Videokonferenzen sowie Headsets, Webcams und Smartphones zur Verfügung gestellt werden. Der Anspruch folge aus § 129 Absatz 1, § 40 Absatz 2 Betriebsverfassungsgesetz.
LG Kassel zu Betrug bei Sparkasse: Das Landgericht Kassel hat einen ehemaligen Kundenbetreuer der Sparkasse Werra-Meißner wegen Betrugs zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Er hatte seine Kunden ab 2014 über einen Zeitraum von fünf Jahren um mehrere hunderttausend Euro betrogen. Vor Gericht hatte er sich auf seine Spielsucht berufen. Es berichtet das Hbl (René Bender).
AG Schweinfurt zu Corona-Protest: Das Amtsgericht Schweinfurt hat einen Tag nach gewalttätigen Coronaprotesten vier Teilnehmer:innen in einem beschleunigten Verfahren unter anderem wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung zu Geld- und Bewährungsstrafen von bis zu einem Jahr verurteilt. Es berichten SZ (Olaf Przybilla) und spiegel.de.
AG Güstrow zu Caffier-Vorteilsannahme: Das Amtsgericht Güstrow hat Strafbefehl in Höhe von 13.500 Euro wegen Vorteilsannahme gegen den früheren Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern Lorenz Caffier (CDU) erlassen. Dieser soll unentgeltlich eine halbautomatische Kurzwaffe im Wert von rund 800 Euro von einem Waffenhändler bekommen haben. Außerdem soll er an einem kostenlosen Schießtraining teilgenommen haben. Es berichtet LTO.
Encrochat-Verfahren: Die FAZ (Reinhard Bingener) schreibt anlässlich eines Drogenprozesses in Halle über Ermittlungserfolge der sachsen-anhaltinischen Polizei, die auf der Entschlüsselung von sogenannten Enchrochat-Kryptohandys beruhen. Diese waren in Sachsen-Anhalt fast ausschließlich von Kriminellen benutzt worden. Durch die Daten stießen Ermittler:innen nun auch auf Hintermänner des Drogengeschäfts und auf einen neuen Tätertypus – vermeintlich unbescholtene junge Männer ohne Migrationshintergrund und ohne Bezug zur Organisierten Kriminalität. Eine höchstrichterliche Entscheidung der Frage nach der strafprozessualen Verwertbarkeit der Encrochat-Daten stehe noch aus.
Recht in der Welt
Polen – Mediengesetz: Der polnische Präsident Andrzej Duda hat überraschend sein Veto gegen ein umstrittenes neues Rundfunkgesetz eingelegt. Dieses hätte für den kritischen TV-Sender TVN das Aus bedeutet, weil er zum US-Discovery-Konzern gehört und die Eigentümer damit außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums sitzen. Duda erklärte, das Gesetz verletze Verfassungsgüter wie das Recht auf Eigentum und die unternehmerische Freiheit und gefährde die polnisch-amerikanischen Beziehungen. Eine Obergrenze für ausländisches Kapital im Medienbereich dürfe nur für künftige Investitionen gelten. Es berichten die FAZ (Reinhard Veser), die taz (Gabriele Lesser) und LTO.
In einem gesonderten Kommentar meint Reinhard Veser (FAZ), für den Rest Europas bestehe nun nur insofern ein Grund zum Aufatmen, als zu bestehenden Mängeln an der Rechtsstaatlichkeit in Polen fürs Erste kein Problem mit der Medienfreiheit hinzukomme. Es sei jedoch zu befürchten, dass sich die Radikalisierung der Regierungspartei PiS, die etwa in schrillen antieuropäischen Tönen zum Ausdruck komme, angesichts eines drohenden Machtverlusts fortsetze.
Russland – Memorial: Im Prozess um das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial könnte am heutigen Dienstag vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau ein Urteil ergehen. Es ist der voraussichtlich letzte Prozesstag. Unterdessen hat ein russisches Gericht die Haftstrafe für den Historiker und Menschenrechtler Jurij Dmitrijew um zwei Jahre von 13 auf 15 Jahre erhöht. Dem Leiter des Memorial-Verbandes in der Region Karelien wurden angebliche sexuelle Überriffe auf seine Adoptivtochter sowie illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Es berichten faz.net (Sofia Dreisbach), taz (Barbara Oertel) und zeit.de.
In einem gesonderten Kommentar konstatiert Barbara Oertel (taz) eine Paranoia des russischen Regimes. Das Regime Putin wähne sich nicht nur von äußeren Feinden umzingelt, diese lauerten vermeintlich auch im Inneren. Juri Dmitriew habe sich als Historiker um die Aufarbeitung der Stalinschen Verbrechen verdient gemacht. Die russische Justiz wolle an jedem, der sich weigert, die dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte ad acta zu legen, ein Exempel statuieren.
Ungarn – Rechtsstaatlichkeit: In der Welt (Philipp Fritz) äußert die ungarische Justizministerin, Judit Varga, die neue deutsche und die ungarische Regierung seien ideologisch grundverschieden. Die Rechtsstaatsdebatte sei zu einem Instrument der ideologischen Erpressung gegenüber Ungarn verkommen. Jedoch setze Ungarn stets die Urteile etwa des Europäischen Gerichtshofs um. Darin zeige sich, dass Ungarn durchaus proeuropäisch sei.
Ukraine – Justiz und Oligarchen: Die SZ (Florian Hassel) schildert den Fall eines kanadischen Solarunternehmers, der in der Ukraine investierte, dann aber von einem mächtigen Oligarchen bedrängt wird, ohne dass ihm die als korrupt geltende ukrainische Justiz hilft.
USA – "Roe v Wade"-Anwältin: Die texanische Anwältin Sarah Weddington ist gestorben. 1973 hatte sie vor dem Supreme Court als Prozessvertreterin von Norma McCorvey, die unter dem Pseudonym "Jane Roe" geklagt hatte, das bestehende Abtreibungsverbot zu Fall gebracht. Seitdem sind Schwangerschaftsabbrüche in den USA legal. Dies berichtet spiegel.de.
Italien – Ex-Bürgermeister Lucano: Im Fall Mimmo Lucano, der im September unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Amtsmissbrauch, Betrug und Veruntreuung zu 13 Jahren Haft verurteilt worden ist, legte das Gericht jetzt die 900-seitige schriftliche Begründung vor. Lucana war als Bürgermeister des süditalienischen Dorfes Riace bekannt geworden, wo er 450 Migrant:innen ansiedelte und so die Gemeinde revitalisierte. Das Urteil stellt laut taz (Michael Braun) jedoch ein "Skandalurteil" dar. Lucano sei nur etwas unorthodox gewesen, habe sich aber nicht persönlich bereichert.
Sonstiges
Stasi-Akten: Die SZ (Robert Probst) erinnert an das Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vor 30 Jahren. Damit wurde ein Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht für ins Visier der Stasi geratene Personen geschaffen. Bis heute wurden 7,4 Millionen Anträge gestellt, davon 3,37 Millionen zur persönlichen Akteneinsicht.
Patentschutz: Der Rechtsanwalt Christian Harmsen spricht sich im Hbl gegen eine Freigabe des Patentschutzes von Covid-Impfstoffen aus. Patentschutz sei der notwendige Anreiz für forschende Unternehmen, um umfangreiche Investitionen zu tätigen und Impfstoffe zu entwickeln. Es bleibe zu hoffen, dass dies auch die neue Bundesregierung so sehe.
Legal Tech/Flightright: Die FAZ (Timo Kotowski) stellt den Rechtsdienstleister Flightright vor. Dieser lässt sich Entschädigungs- und Erstattungsansprüche von Flugreisenden abtreten und klagt sie gegenüber den Airlines ein. Dabei ist häufig die Bereitschaft zur Zahlung auf Seiten der Fluggesellschaften gering. Geschäftsführer Philipp Kadelbach sieht insbesondere bei Flügen von Geschäftsreisenden noch unausgeschöpftes Wachstumspotenzial.
In einem gesonderten Kommentar schreibt Timo Kotowski (FAZ), die Luftfahrtbranche betätige sich als Wirtschaftsförderer für Anbieter, die aus missachteten Kundenrechten ein Geschäft machten. Die unternehmerische Kreativität von Flightright und anderen belege die Blüten, die der Flugärger treibe.
Betriebsratswahl: Das Hbl (Frank Specht) erläutert eingehend die Befugnisse von Unternehmen im Zusammenhang mit Betriebsratswahlen. Demnach gilt für Arbeitgeber das Neutralitätsgebot, sie dürfen also die Wahl nicht beeinflussen oder behindern. Zugleich unterliegen sie jedoch keinem Sprechverbot. Grobe Fehler bei der Betriebsratswahl können zu deren Nichtigkeit führen.
Rasse im Recht: Die FAZ (Alexander Haneke) bringt eine Rezension des Buches "Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus" von Doris Liebscher. Das Buch stelle einen Versuch dar, das Verhältnis von Recht, Rasse und Rassismus erstmals in all seinen Facetten abzubilden. Zugleich könne es als Plädoyer für einen Prozess der kritischen Reflexion verstanden werden, in dem jeder sich selbst und sein Tun kritisch prüfen sollte, ob bei einem selbst die alten Muster in Denken und Sprache fortwirkten.
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lto/jng
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Die juristische Presseschau vom 28. Dezember 2021: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47052 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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