Die juristische Presseschau vom 24. Juli 2024: Eini­gung zur Res­i­lienz des BVerfG / Urteil zum Luf­t­r­ein­hal­te­plan / StA Mün­chen zu Wire­card-Insol­venz

24.07.2024

Ampel und Union stellten Pläne für die grundgesetzliche Absicherung des BVerfG vor. Das OVG Berlin-BB beanstandete den Luftreinhalteplan. Die Staatsanwaltschaft München I stellte Verfahren gegen 11 Beteiligte der Wirecard-Insolvenz ein.

Thema des Tages

Resilienz des BVerfG: Die Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sowie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) haben sich auf Grundgesetzänderungen zur Stärkung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts geeinigt. So sollen zum einen zentrale Strukturmerkmale des BVerfG wie die Anzahl und Größe der Senate in der Verfassung festgeschrieben werden, sodass sie nicht mehr mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Allerdings soll auf Wunsch der CDU/CSU die Wahl der Verfassungsrichter:innen mit Zwei-Drittel-Mehrheit nicht im Grundgesetz verankert werden. Zum anderen soll für den Fall, dass die Verfassungsrichter-Wahl durch eine "destruktive Minderheit" blockiert wird, ein Ersatzwahl-Mechanismus eingeführt werden. Wenn ein halbes Jahr lang im Bundestag die Wahl nicht gelingt, soll der Bundesrat die Richter:in wählen (und umgekehrt). Entsprechende Gesetzentwürfe sollen von den Fraktionen vorgelegt werden. Angestrebt ist, dass die Grundgesetzänderungen bis Ende des Jahres beschlossen sind. Es berichten FAZ (Mona Jaeger), SZ (Constanze von Bullion), taz (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), Welt (Ricarda Breyton), LTO (Markus Sehl), beck-aktuell (Pia Lorenz) und zeit.de (Heinrich Wefing). 

In einem weiteren Beitrag prognostiziert die SZ (Wolfgang Janisch), wie das Gericht wohl Stellung nehmen werde. Nach bisherigen Verlautbarungen, etwa durch Publikationen der früheren Mitglieder Gabriele Britz und Michael Eichberger, sei anzunehmen, dass Karlsruhe eine Aufnahme des Zwei-Drittel-Quorums in das Grundgesetz bevorzuge.

Im Leitartikel drückt Wolfgang Janisch (SZ) seine Hoffnung aus, das eben dieser Aspekt bei einer "Nachjustierung" noch verwirklicht wird. Grundsätzlich sei der "institutionelle Hochwasserschutz für das Gericht", als Vorsorge gegenüber "selbstzerstörerischen Tendenzen, die weltweit in Demokratien zu beobachten sind", zu begrüßen. Ähnlich argumentiert Christian Rath (BadZ), der aber gleichzeitig fordert, die "Ausgrenzung der AfD nicht zur Regel" zu machen. Erforderlich sei eine faire Lösung, die nicht nur Blockaden einer "destruktiven Minderheit", sondern auch einer "destruktiven Mehrheit" vorbeugt. Auch Jasper von Altenbockum (FAZ) schreibt: "Blockaden drohen indessen nicht nur aus Richtung der AfD, um die es hier ausschließlich geht, sondern auch von allen anderen Fraktionen. Sie wollen schließlich verhindern, dass eines Tages ein AfD-Richter in Karlsruhe sitzt." Ansonsten könne sich der Bauplan für die "Festung Karlsruhe" sehen lassen.

Rechtspolitik

Digitalzwang: Jurastudent Philipp Schüpferling setzt sich auf dem JuWissBlog kritisch mit der Idee eines grundrechtlich geschützten Rechts auf Leben ohne "Digitalzwang" auseinander. Zwar müsse anerkannt werden, dass die ausnahmslose Pflicht zur Nutzung digitaler Angebote im Einzelfall Diskriminierungswirkung entfalten kann. Hiergegen lasse sich aber der allgemeine Gleichheitssatz in Stellung bringen. Darüber hinaus Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz durch ein Recht auf analoges Leben zu erweitern, bedeutete gleichzeitig eine Entwertung der dort bereits aufgelisteten Merkmale.

Antisemitismus: Tobias Rapp (spiegel.de) begrüßt im Leitartikel die Ankündigung einer Bundestags-Resolution zum Schutz jüdischen Lebens. Die BDS-Resolution von 2019 sei erfolgreich gewesen, indem sie "einen Bewusstseinswandel ausgelöst" und "Ehrlichkeit in dem Umgang mit Antisemitismus gebracht" habe. Dies sei auch nun erforderlich, wobei nicht vergessen werden dürfe, dass Resolutionen eben "kein Gesetz, keine Vorschrift" darstellten, sondern nur "eine Meinungsäußerung fast aller Abgeordneten der demokratischen Parteien."

Scheinselbständigkeit: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ fordert Volker Haupt, Berliner Senatsrat a.D., den Gesetzgeber auf, den Nachforderungseifer der Sozialversicherung wegen angeblicher Scheinselbständigkeit von Honorarkräften einzudämmen. Eine aktuelle Berliner Auseinandersetzung betreffe Nachforderungen gegen Hilfskräfte, die bei Corona-Impfungen halfen, andere beträfen Lehrbeauftragte an Hochschulen oder Honorarkräfte an Volkshochschulen. Diese oft pauschal und ohne Einzelfallprüfung erhobenen Nachforderungen könnten das deutsche Bildungssystem lahm legen.

Greenwashing: Rechtsanwalt Yorick Ruland verteidigt im Recht und Steuern-Teil der FAZ die geplante EU-Green-Claims-Richtlinie gegen den Vorwurf, irreführende Werbeaussagen über den ökologischen Nutzen von Produkten seien bereits durch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb hinreichend sanktioniert. Tatsächlich ermögliche das geplante Zertifizierungsverfahren der Richtlinie und seine Beweislastumkehr einen effektiveren Verbraucherschutz gegenüber unbelegten Behauptungen.

Justiz

OVG Berlin-Brandenburg zu Luftreinhaltung: Das Nationale Luftreinhalteprogramm (NLRP), die nationale Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Reduktion von Schadstoffemissionen, muss nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg nachgebessert werden. Zahlreiche Maßnahmen des Plans seien nicht ausreichend zur Zweckerreichung. Zudem müssten Prognosen des Programms erneuert werden, weil sie nicht auf aktuellen Daten beruhten. Geklagt hatte die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Nicht durchsetzen konnte sich die DUH mit ihrer Forderung eines "linearen Reduktionspfades", bei dem Reduktionspflichten stetig steigen. Es berichten FAZ (Corinna Budras), LTO (Joschka Buchholz) und tagesschau.de (Alexander Holzer). 

zeit.de (Julian Sadeghi) geht auf demokratietheoretische Probleme von Umweltklagen wie der nun entschiedenen ein. Während die Kritik Gerichten kompetenzüberschreitenden Aktivismus vorwirft und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust politischer Prozesse beklagt, betont die Unterstützerseite, dass ein wirksamer Grundrechtsschutz dem langfristigen Schutz der Demokratie diene.

Thomas Hummel (SZ) meint, dass die Politik in Deutschland und Europa trotz des aktuellen Gegenwindes umweltpolitisch in der Tendenz Kurs halte. Dass Naturschutzverbände mit Hilfe der Gerichte auf Einhaltung der Umweltgesetze pochen, gehöre dazu. 

StA München I – Wirecard-Insolvenz: Ihre Ermittlungen gegen elf Beteiligte der Wirecard-Insolvenz hat die Staatsanwaltschaft München I eingestellt. Nach Informationen des Hbl (Volker Votsmeier u.a.) gehört auch der frühere Finanzchef von Wirecard, Thorsten Holten, zu den nunmehr Ex-Beschuldigten. Dagegen ist über die Zulassung der Anklage gegen Finanzvorstand Burkhard Ley immer noch keine Entscheidung des zuständigen Gerichts gefallen.

EuGH zu Abschuss von Wölfen/BGH zu Mietkaution: Aus Anlass des vor zwei Wochen verkündeten Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU geht der SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel) auf den rechtlichen Umgang mit Wölfen ein. Zweites Thema ist das gleichfalls vor zwei Wochen verkündete Urteil des Bundesgerichtshofs zum Einbehalt einer Mietkaution durch die Vermieterseite.

OVG NRW zu subsidiärem Schutz für Syrer: Über die nun veröffentlichte, in der vergangenen Woche verkündete Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalens, Anträgen von Syrer:innen auf subsidiären Schutz wegen dortiger Bürgerkriegsgefahren nicht mehr pauschal zu entsprechen, berichten FAZ (Reiner Burger), beck-aktuell und LTO. Neben der konkreten Situation in der Heimatprovinz des syrischen Klägers habe beim Urteil auch dessen Verurteilung als Schleuser in Österreich eine Rolle gespielt. zeit.de (Alena Kammer u.a.) berichtet zudem über Reaktionen. So erklärte das Auswärtige Amt, dass seine Einschätzung der Sicherheitslage in Syrien anders ist. Das Innenministerium teilte mit, dass die Situation in Herkunftsländern einer fortlaufenden Prüfung unterfalle.

Alexander Haneke (FAZ) macht geltend, dass pauschale Einschätzungen über die Lage in Syrien – als Voraussetzungen von Abschiebeentscheidungen – unmöglich seien. Die jeweils erforderliche Einzelfallprüfung entspreche "guter Flüchtlingspolitik", die Schutz für jene vorhalte, "die ihn am dringendsten benötigen."

OVG Sachsen zu Abschiebung nach Marokko: LTO (Tanja Podolski) entwirrt in einer ausführlichen Darstellung einen fehlerbehafteten Abschiebefall in Chemnitz. Ein Gerichtsbeschluss ging an die falsche Behörde, die Bundespolizeit wurde nicht informiert und der abgeschobene Marokkaner war gar nicht Vater des Kindes seiner deutschen Ehefrau. Am vorläufigen Ende entschied das Sächsische Oberverwaltungsgericht, dass die Stadt Chemnitz den Marokkaner nicht nach Deutschland zurückholen muss. 

OLG Frankfurt/M. zu Cookie-Verwaltung: Ein nun veröffentlichtes, vor einem Monat verkündetes Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. hat dem Unterlassungsanspruch einer Klägerin stattgegeben, die moniert hatte, dass die Firma Microsoft Advertising beim Besuch von Drittwebseiten Cookies ohne die Einwilligung der Klägerin gespeichert hatte. Das beklagte Unternehmen konnte sich nicht durch seine AGBs entlasten, nach denen die Betreiber der Drittwebseiten die erforderlichen Einwilligungen einzuholen hätten. Tatsächlich sei die Microsoft-Tochter haftbar, weil sie sich nicht darauf verlassen könne, dass die Vorgabe erfüllt werde. beck-aktuell berichtet.

LG Berlin I zu Vergewaltigung in Fahrdienst-Auto: Das Landgericht Berlin I hat den Fahrer eines Bolt-Autos zu drei Jahren Haft wegen Vergewaltigung verurteilt. Im Frühjahr diesen Jahres hatte er eine in seinem Fahrdienst-Auto eingeschlafene Frau vergewaltigt und die Tat vor Gericht auch eingeräumt. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

VG Dresden zu AfD-Einstufung: endstation-rechts (Thomas Witzgall) schreibt vertieft über den in der vergangenen Woche ergangenen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Dresden, das die Einstufung des AfD-Landesverbandes als gesichert rechtsextrem durch den Verfassungsschutz unbeanstandet ließ.

Recht in der Welt

IGH/Israel – Besatzung palästinensischer Gebiete: Rechtsprofessor Matthias Goldmann beschreibt im Verfassungsblog "erhebliche völkerrechtliche, völkerrechtspolitische, geopolitische und erinnerungspolitische Konsequenzen" des in der vergangenen Woche veröffentlichten Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs, in dem die fortdauernde israelische Besatzung palästinensischer Gebiete als rechtswidrig eingestuft wurde. Der Bundesrepublik als jahrzehntelanger Verfechterin der "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" obliege es im besonderen Maße, den nun formulierten Feststellungen Taten folgen zu lassen.

Polen – Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit: Nach Darstellung des Hbl (Ivo Mijnssen) steht die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen in Polen weiterhin vor enormen Herausforderungen. So übe Präsident Andrzej Duda "Fundamentalopposition" aus. Die Verhaftung des früheren Vizejustizministers, dem durchaus glaubhaft Verstöße gegen Bestimmungen zur Wahlkampffinanzierung vorgeworfen werden, sei daran gescheitert, dass übersehen wurde, dass er als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Immunität genießt. 

Italien – unterlassene Hilfe für Flüchtlingsschiff: Nach anderthalbjährigen Ermittlungen hat die zuständige Staatsanwaltschaft Anklage gegen vier Mitglieder der italienischen Finanzpolizei und zwei Mitglieder der Küstenwache u.a. wegen fahrlässiger Tötung erhoben. Die Angeklagten sollen es im Februar 2023 pflichtwidrig unterlassen haben, dem verfolgten und in Seenot geratenen Flüchtlingsschiff "Summer Love" zu Hilfe zu kommen, als es an einem Felsen zerschellte. Hierbei starben mindestens 94 Menschen. FAZ (Matthias Rüb) und SZ (Andrea Bachstein) berichten.

Russland – Alsa Kurmasheva: Wegen "Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee" ist in Kasan die russisch-amerikanische Journalistin Alsa Kurmasheva zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Sowohl taz (Inna Hartwich) als auch FAZ (Friedrich Schmidt) gehen davon aus, dass die Inhaftierung der zuvor in Prag lebenden Journalistin als Faustpfand für einen künftigen Gefangenenaustausch dient. 

Russland - Mikhail Zygar: Wegen des gleichen Vorwurfs ist derweil in Moskau der Spiegel-Kolumnist Mikhail Zygar in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt worden. spiegel.de berichtet.

Sonstiges

Anwaltliche Sammelanderkonten: Martin W. Huff beleuchtet auf beck-aktuell die aktuelle Situation bei Sammelanderkonten von Anwaltskanzleien. Nachdem Anfang 2022 zahlreiche Banken diese Konten wegen Geldwäschegefahren kurzfristig kündigten, wurden die in § 4 der Berufsordnung für Anwälte beschriebenen Voraussetzungen derartiger Konten angepasst. Gleichwohl sei die Praxis der Banken nach wie vor uneinheitlich.

 

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LTO/mpi/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 24. Juli 2024: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55062 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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