Die juristische Presseschau vom 23. Oktober 2024: Brand­brief für Doku­men­ta­tion der HV / Gesetz­ent­wurf für straf­loses Hacken / AfD-Klage zu partei­nahen Stif­tungen

23.10.2024

 

Ein Offener Brief von 600 Jurist:innen plädiert für die Dokumentation der Hauptverhandlung. Das BMJ will wohlmeinendes Hacking legalisieren. Die AfD klagt beim BVerfG gegen die Neuregelung der Finanzierung parteinaher Stiftungen.

Thema des Tages

Dokumentation der Hauptverhandlung: In einem Offenen Brief, über den LTO (Markus Sehl) berichtet, haben rund 600 Jurist:innen kritisiert, dass das Gesetz zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung seit dem vergangenen Dezember im Vermittlungsausschuss feststeckt. Der Bundesrat hatte damals den Vermittlungsausschuss angerufen, weil die Länder das vom Bundestag beschlossene Gesetz einmütig ablehnen. In dem Offenen Brief, der u.a. von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger:innen initiiert wurde, wird gefordert, dass Strafprozesse nicht mehr wie zur Zeit der Pferdekutschen protokolliert werden. Die gegenwärtige Blockade sei dem Deutschen Richterbund und der niedersächsischen Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) anzulasten. Im Vermittlungsausschuss sind derzeit keine weiteren Beratungen in dieser Angelegenheit terminiert.

Rechtspolitik

Hacking: Das Bundesjustizministerium hat einen Gesetzentwurf zur Reform von § 202a Strafgesetzbuch ("Ausspähen von Daten") in die Ressortabstimmung der Bundesregierung gegeben. Das Hacken von IT-Systemen soll in der Neufassung nicht mehr strafbar sein, wenn es in der Absicht erfolgt, Sicherheitslücken aufzudecken und dies den Verantwortlichen zu melden. Damit wäre auch sogenanntes grey-hacking straffrei, bei dem ohne Auftrag, aber mit wohlmeinender Absicht der Zugang zu IT-Systemen von Unternehmen oder Behörden gesucht wird. So soll eine jahrzehntelange Rechtsunsicherheit in diesem Bereich beseitigt werden. Gleichzeitig soll böswilliges Hacken in besonders schweren Fällen, etwa im Bereich kritischer Infrastrukturen, mit einer von drei auf fünf Jahre angehobenen Höchststrafe bedroht werden. Die taz (Christian Rath) berichtet.

Resilienz des BVerfG: Zwei Beiträge im Verfassungsblog befassen sich mit den derzeit im Rechtsausschuss des Bundestages befindlichen Gesetzentwürfen zur Stärkung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts. Die Rechtsanwälte Matthias Klatt und Max Weber bemängeln hierbei die Unbestimmtheit der geplanten Grundgesetzänderung zur sogenannten Öffnungsklausel. In der jetzigen Fassung lasse sich die für einen Ersatzwahl-Mechanismus gewählte Formulierung auch als Zuständigkeitsregelung verstehen. Der MPI-Referent Luke Dimitrios Spieker setzt sich dagegen mit dem als Kritik vorgebrachten Argument auseinander, wichtige Details regele der Entwurf außerhalb des Grundgesetzes. Hierzu schlägt der Autor vor, entsprechende Änderungen einer Zustimmungspflicht des Bundesrates zu unterwerfen.

Sicherheitspaket/Gesichtserkennung: Die SZ (Jan Bielicki) bringt einen Frage-und-Antwort-Überblick zum weiteren Fortgang beim sogenannten Sicherheitspaket. Die Zukunft der polizeilichen biometrischen Gesichtserkennung bleibe unklar, nachdem der Bundesrat dem Gesetz am vergangenen Freitag nicht zugestimmt hat und die Bundesregierung weiter überlegt, ob sie den Vermittlungsausschuss anrufen soll.

Wohnungsbau: Die Rechtsanwälte Peter Neusüß und Reinhard Sparwasser analysieren auf LTO den aktuellen Entwurf der jüngsten Novelle des Baugesetzbuches. Deren "Herzstück", die "fast grenzenlose" Befreiung von Bebauungsplänen einschließlich der durch entsprechende Satzungen zu erreichende Ermöglichung "von Abweichungen von sämtlichen Regeln des BauGB", könnte dem Ziel, einen "Bau-Turbo" zu zünden, tatsächlich entsprechen. Allerdings haben die Autoren Bedenken, ob derart weitreichende Ausnahmen noch im Einklang mit dem Unionsrecht stehen.

Lieferketten und Menschenrechte: Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte, das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) komme "weg" und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das Gesetz mit der Kettensäge "wegbolzen" will, schildert LTO die Folgen. Bis Mitte 2026 müsse Deutschland die EU-Lieferketten-Richtlinie umsetzen. Diese betreffe im Vergleich zum LkSG zwar weniger Unternehmen, beinhalte dafür aber bei Verstößen deutlich höhere Bußgelder und eine zivilrechtliche Haftung für Zulieferer.

Beschäftigtendatenschutz: In einer ausführlichen Analyse des gemeinsamen Referentenentwurfs der Bundesministerien für Arbeit sowie des Inneren für ein Beschäftigtendatengesetz kommt Rechtsanwalt Tobias Neufeld im Expertenforum Arbeitsrecht zu dem Schluss, dass man regulatorisch wohl zu weit gegangen sei. Auch wenn "die Notwendigkeit eines eigenständigen und praktisch lebbaren" Gesetzes unbestritten bleibe, verliere der Entwurf “die Balance zwischen Innovationsfreiraum, Regulierungsdichte und Beschäftigtenschutz."

Cannabis: Ronen Steinke (SZ) bezeichnet in einem Kommentar die Anfang des Jahres verabschiedete (Teil-)Legalisierung von Cannabis insoweit als misslungen, als es nicht gelungen sei "bewaffneten Banden" bzw. der "kriminellen Unterwelt" ihr Geschäft zu entziehen. Verantwortlich sei hierfür Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der – anders als Grüne und Liberale – nicht bereit gewesen sei, eine Legalisierung des Verkaufs von Cannabis für den Eigenkonsum zu versuchen, die nach EU-Recht zulässig sein könnte.

Abschiebungen: Auf Wunsch der EU-Staaten will die EU-Kommission einen neuen Vorschlag zur Verschärfung der EU-Rückführungsrichtlinie von 2008 machen. Ein erster Vorschlag war 2019 zwar vom Ministerrat beschlossen worden, aber im Europäischen Parlament steckengeblieben. Wegen des europaweiten Rechtsrucks wird ein neuer Vorschlag wohl noch schärfer ausfallen und insbesondere die Haftgründe zur Sicherung von Abschiebungen ausweiten. Auch Abschiebungen in Abschiebezentren in Drittstaaten könnten enthalten sein. Die FAZ (Thomas Gutschker) berichtet.

Justiz

BVerfG – parteinahe Stiftungen: Die FR (Ursula Knapp) berichtet, dass die AfD bereits im Juni eine Organklage gegen die Verfassungsmäßigkeit des im vergangenen Dezember verabschiedeten Finanzierungsgesetzes für parteinahe Stiftungen erhoben hat. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei noch nicht absehbar, dränge aber, da mit dem absehbaren dritten Einzug der AfD in den Bundestag der ihr nahestehenden Desiderius-Erasmus-Stiftung ein grundsätzlicher Anspruch auf staatliche Finanzierung zustünde. Ob von ihr darüber hinaus ein aktives Eintreten für die demokratische Grundordnung und die Völkerverständigung verlangt werden könne, sei nun zu klären. Darüber hinaus sei problematisch, dass für Zuteilung und Ausschluss staatlicher Finanzierung das Bundesinnenministerium zuständig ist.

EuG zu Sanktionen gegen Russland/Rechtsberatung: Über das Anfang Oktober ergangene Urteil des Gerichts der Europäischen Union, nach dem das sanktionsbedingte Verbot anwaltlicher Beratung der russischen Regierung oder dort niedergelassener juristischer Personen rechtens ist, schreibt nun auch die FAZ (Katja Gelinsky) in ihrem Recht und Steuern-Teil. 

BSG zu Rentenversicherungspflicht für Syndizi: Rechtsprofessor Matthias Kilian beschreibt im Recht und Steuern-Teil der FAZ die Rechtslage zur Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für Syndizi und geht hierbei auch auf zwei Urteile des Bundessozialgerichts von Mitte September ein. Während das BSG einerseits entschied, dass für eine einstmals erteilte Befreiung im Falle eines Berufswechsels kein Bestandsschutz bestehe, stellte das zweite, "anwaltsfreundliche" Urteil klar, dass bei einer Zulassung als Syndikusanwält:in nach einer gesetzgeberischen Klarstellung von 2016 die Befreiung auch rückwirkend erlangt werden kann.

StGH Nds – Landtagswahl: Der niedersächsische Staatsgerichtshof verhandelte über zwei Wahleinsprüche, die das ordnungsgemäße Zustandekommen der Ergebnisse der Landtagswahl im Oktober 2022 in Frage stellen. Der niedersächsische Landtag hatte die Einsprüche im vergangenen Jahr zurückgewiesen. In einem Fall wird bestritten, dass der Zuschnitt der Wahlkreise den tatsächlichen Bevölkerungszahlen entspricht. Der andere Fall betrifft – wohl unstrittige – Zahlungen von AfD-Abgeordneten auf ein privates Konto des damaligen Vizevorsitzenden der Landes-AfD. Umstritten ist, ob die Zahlungen rechtswidrig der Sicherung eines aussichtsreichen Listenplatzes dienten. Daneben wird die formale Rechtmäßigkeit der Aufstellung der AfD-Landesliste in Frage gestellt. Geklagt hatten zwei Mitglieder der FDP, die bei der Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Eine Entscheidung ist für den 9. Dezember vorgesehen, schreibt LTO.

OLG Frankfurt/M. - Umsturzpläne/Reuß: Das Strafverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Gruppe Reuß wurde am Oberlandesgericht Frankfurt/M. mit der Sichtung von Videos des angeklagten früheren Soldaten Maximilian Eder fortgesetzt. U.a. auf Demonstrationen bezeichnete Eder die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus als "Menschheitsverbrechen". Die Verteidigung wies dagegen auf wiederholte Forderungen des Redners nach Gewaltfreiheit hin. Am morgigen nächsten Sitzungstag soll erneut die Ex-Richterin Birgit Malsack-Winkemann vernommen werden, so LTO.

OVG NRW zu Entfernung aus dem Polizeidienst: Auch am Oberverwaltungsgericht Münster scheiterte ein vormaliger Beamter auf Probe mit einem Eilantrag gegen seine sofortige Entfernung aus dem Polizeidienst. Die ihm zur Last gelegten Handlungen – Parken des Dienstwagens im Halteverbot, dortige Kaffeepause, zweimaliges Urinieren in der Öffentlichkeit sowie ein unangemessenes Verhalten gegenüber einem älteren Bürger – seien keine Bagatellen. Sie ließen vielmehr einen Hang zur Ausnutzung der ihm eingeräumten Machtposition erkennen, so das OVG laut beck-aktuell.

LG Berlin II zu betagtem Mieter: Das Landgericht Berlin II wies in der Berufung die Räumungs- und Herausgabeklage eines Investors zulasten eines 85-jährigen Mieters ab. Die angedachte Modernisierung einer Reihenhaussiedlung setze nicht notwendig die Kündigung des Mietverhältnisses voraus, zitiert die SZ (Leonard Scharfenberg) die mündliche Urteilsbegründung. Der Fall hatte berlinweit Aufsehen erregt, weil der Mieter bereits in dem Haus geboren worden war.

GBA – militante Antifa/Thomas J.: Auf Grundlage eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs ist in Berlin der 48-jährige Linksextremist Thomas J. festgenommen worden. Als Mitglied der Gruppe um die erstinstanzlich verurteilte Lina E. soll der Festgenommene an Überfällen auf Rechtsextreme beteiligt gewesen sein. LTO berichtet.

StA Bonn – Cum-Ex/Kronzeuge: Die Staatsanwaltschaft Bonn hat mitgeteilt, keinen Anfangsverdacht wegen Falschaussagen gegen den vom Hbl (Volker Votsmeier) als Kai-Uwe Steck identifizierten Cum-Ex-Kronzeugen erkannt zu haben. Der Bankier Christian Olearius hatte gegen Steck wegen vermeintlicher Falschaussagen Anzeige erstattet. Der vormalige Kompagnon Hanno Bergers muss sich demnächst selbst vor dem Landgericht Bonn wegen Steuerhinterziehung verantworten.

Recht in der Welt

EGMR/Russland – Agentengesetz: Nach Beschwerde von mehr als 100 NGOs und Privatpersonen entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das russische Agentengesetz gegen zahlreiche Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Die Kennzeichnung als "ausländischer Agent" habe eine stigmatisierende Wirkung und sei zudem auch irreführend, weil sie zu der Annahme verleite, dass jegliche Unterstützung aus dem nicht-russischen Ausland einer Kontrolle gleichkomme. Der Bericht von beck-aktuell bemerkt, dass die praktischen Auswirkungen der EGMR-Entscheidung nach dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat begrenzt seien.

EuGH – Vergabe an Drittstaatenunternehmen: Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten haben ohne spezielle Abkommen ihres Heimatstaates mit der EU keinen Anspruch darauf, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gegenüber EU-Firmen gleichbehandelt zu werden. Dies entschied laut beck-aktuell der Europäische Gerichtshof auf Klage eines türkischen Bauunternehmens, das sich erfolglos um einen Auftrag in Kroatien bemüht hatte.

Peru – Ex-Präsident Toledo: Wegen Korruption und Geldwäsche hat der oberste Gerichtshof Perus den früheren peruanischen Präsidenten Alejandro Toledo zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nach mehr als 170 Verhandlungstagen hielt es das Gericht für erwiesen, dass Toledo sich die Genehmigung eines Autobahnbaus durch den brasilianischen Baukonzern Odebrecht hatte bezahlen lassen. Die taz (Jürgen Vogt) berichtet.

China – VW-Manager: bild.de (Tobias Fuchs) berichtet, dass ein hochrangiger und mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrter VW-Manager in China eine zehntägige Verwaltungsstrafe in einem Haftzentrum absitzen musste. Grund seien nach einem Thailandurlaub offenbar positive Drogentests gewesen. Drogenkonsum sei in der Volksrepublik auch dann strafbar, wenn er im Ausland stattfand. 

Iran – Journalistinnen: Die iranischen Journalistinnen Elaheh Mohammadi und Niloofar Hamedi müssen ihre fünfjährige Haftstrafe wegen "Propaganda gegen das System" antreten. Reportagen der beiden hatten die "Frau, Leben, Freiheit"-Proteste vor zwei Jahren ausgelöst. Nach ihrer Verurteilung im Januar waren die Frauen zunächst auf Kaution freigelassen worden. taz (Daniela Sepeheri) und spiegel.de berichten.

Sonstiges

Anwaltseinkommen: Der Hauptgeschäftsführer der Bundesrechtsanwaltskammer, Stephan Göcken, unternimmt auf beck-aktuell einen "differenzierten Blick auf Anwaltseinkommen." Deren Ermittlung durch den im Auftrag der BRAK erstellten STAR-Bericht ergebe eine moderate Verbesserung für sowohl "Anwälte in Großkanzleien" als auch die einzelanwaltlich Tätigen. Bemerkenswert seien jedoch ein markantes West-Ost-Gefälle sowie ein erheblicher Gender-Gap, der auch auf häufigere Teilzeitarbeit von Anwältinnen zurückzuführen sei.

Das Letzte zum Schluss

Ordnung muss sein: Selbst nach Maßstäben des sprichwörtlichen rheinischen Frohsinns übertrieb es der Kölner Fußballspieler Lukas Podolski bei seinem Abschiedsspiel vorige Woche. Dort drückte der Weltmeister von 2014 seine Verbundenheit mit anwesenden Fans nach Spielschluss durch das Abbrennen einer Fackel aus. Nachdem sicherlich intensive polizeiliche Ermittlungen ergaben, dass eine Fremdgefährdung nicht vorlag und damit eine Strafbarkeit ausscheide, wurde nun zumindest ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Die FAZ berichtet.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. Oktober 2024: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55688 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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