Die juristische Presseschau vom 7. August 2024: Neue Wire­card-Anklagen / BGH zu mer­kan­tilem Min­der­wert / US-Gericht sieht Google-Monopol

07.08.2024

Die StA München I erhob Anklage gegen zwei Ex-Wirecard-Vorstandsmitglieder. Laut BGH ist der merkantile Minderwert ohne Mehrwertsteuer zu berechnen. Ein US-Bundesgericht stellte fest, dass Google bei Suchmaschinen faktisch ein Monopol hat.

Thema des Tages

LG München I – Wirecard/von Knoop und Steidl: Die Staatsanwaltschaft München I hat gegen zwei weitere ehemalige Wirecard-Vorstandsmitglieder Anklage wegen Untreue bzw. Beihilfe zur Untreue erhoben. Dem ehemaligen Finanzvorstand Alexander von Knoop und der ehemaligen Vorständin für Produktentwicklung Susanne Steidl wird vorgeworfen, Überweisungen an obskure Geschäftspartner "ins Blaue hinein" teils innerhalb weniger Minuten zugestimmt zu haben, ohne den Konzern abgesichert zu wissen oder Rückführungsmodalitäten vereinbart zu haben. Dadurch entstand ein Schaden in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro. Es berichten SZ (Stephan Radomsky), FAZ (Marcus Jung), Hbl (René Bender u.a.), spiegel.de und bild.de (Oliver Grothmann).

Rechtspolitik

Cannabis: Die Bundesrechtsanwaltskammer hält die im Konsumcannabisgesetz (KCanG) als Regelbeispiel aufgeführte "nicht geringe Menge" für unvereinbar mit dem aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Bestimmtheitsgrundsatz. Es sei "unter Gewaltenteilungsaspekten dauerhaft nicht hinnehmbar", dass die Rechtsprechung die entsprechende Menge festlegen soll - insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Bundesgerichtshof trotz Gesetzesreform bei seiner alten Rechtsprechung blieb. LTO und beck-aktuell berichten.

Schwarzfahren: In einem offenen Brief fordern Kriminolog:innen und andere Wissenschaftler:innen Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf, die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein voranzutreiben. Der aktuelle § 265a StGB ("Erschleichen von Leistungen") treffe arme und in prekären Situationen lebende Menschen unverhältnismäßig, die wiederum nicht aufgrund "krimineller Energie, sondern wegen faktischer Zwänge" handelten. Außerdem koste die Strafverfolgung den Staat jährlich etwa 120 Millionen Euro. Buschmann hatte im November 2023 ein Eckpunktepapier vorgelegt; ein Ministeriumssprecher sagte nun, dass das Vorhaben weiter verfolgt wird. Es berichten taz (Nanja Boenisch) und beck-aktuell.

Nationalität von Tatverdächtigen: Die taz (Mohamed Amjahid) kritisiert die "populistische" FDP-Forderung, die Herkunft Tatverdächtiger immer zu nennen. Wissenschaftliche Fakten zeigten, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Herkunft und der Kriminalität gibt. Außerdem regelt der geltende Pressekodex bereits ausreichend, wann die Nennung der Herkunft von Relevanz ist. Schließlich sei die Nennung konträr zur Unschuldsvermutung und führe zu einer herkunftsbasierten "Kategorisierung von Kriminalität" in "gut" und "schlecht".

Justiz

BGH zu merkantilem Minderwert: Bei der Berechnung des merkantilen Minderwerts, der Differenz zwischen dem Verkaufswert eines Autos vor und nach einem Unfall, ist von Nettoverkaufspreisen ohne hypothetisch gezahlte Umsatzsteuer auszugehen, weil es sonst zu einer Überkompensation der Geschädigten komme, entschied der Bundesgerichtshof. Er verwies in einer nun veröffentlichten Entscheidung vom 16. Juli die Sache zurück an das Landgericht Coburg, das der klagenden Geschädigten zunächst einen merkantilen Minderwert inklusive der hypothetischen Umsatzsteuer zugesprochen hatte. LTO berichtet.

BVerfG zu Bundestags-Wahlrecht: Die FAZ (Timo Frasch) analysiert die Reaktionen von CSU-Politiker:innen auf das Wahlrechts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder das Urteil als "Bestätigung in unserem Kernanliegen, der sogenannten Grundmandatsklausel" und als "klaren Erfolg für die CSU" deklarierte, hadern viele andere CSU-Politiker:innen weiter mit der vom BVerfG gebilligten Zweitstimmendeckung, die dazu führen kann, dass nicht alle Wahlkreisgewinner:innen ein Mandat erhalten.

BGH zu Wiedereinsetzung: Eine Rechtsanwältin kann nur dann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 ZPO beantragen, wenn sie nachweist, alle möglichen Anstrengungen zur Fristwahrung unternommen zu haben. In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hätte die Anwältin, die ihren Schlüssel in der Kanzlei vergaß und deshalb nicht in die Räume kam, ihre Kolleg:innen kontaktieren können. beck-aktuell berichtet.

BGH – KZ-Sekretärin Stutthof: Nun befasst sich auch der SWR-RadioReportRecht (Gigi Deppe) mit der Verhandlung des Bundesgerichtshofs über die Revision der mittlerweile 99-jährigen ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard Furchner gegen ihre Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord. Rechtsanwalt Stefan Lode, der in vielen Gerichtsverfahren KZ-Überlebende vertrat, spricht sich für Strafprozesse gegen die mittlerweile alten KZ-Mitarbeitenden aus, weil man aus der Sicht der Opfer und Täter:innen lernen könne.

BVerwG – Compact-Verbot: Auf LTO analysieren Gerhart Baum und Max Schulze, ehemaliger Bundesinnenminister und Doktorand, die Erfolgsaussichten des Compact-Verbots vor Gericht und prognostizieren, dass es einer "(verfassungs-)gerichtlichen Überprüfung standhalten" wird. Der "Schutz der Kommunikationsgrundrechte endet bekanntlich spätestens mit dem Verlassen der geistigen Auseinandersetzung" und Compact lege reichlich "Nährboden" für Taten, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind.

OVG RhPf zu präventiver Sicherstellung: Das Oberverwaltungsgericht Koblenz stellte klar, dass die polizeiliche präventive Sicherstellung zur Gefahrenabwehr hohen Anforderungen unterliegt, und gab damit einem Motorradfahrer Recht, der gegen die Sicherstellung seines Motorrads zur Vermeidung möglicher zukünftiger Straßenrennen vorging. Die Polizei hätte tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorlegen müssen, dass der Motorradfahrer auch künftig die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährden wird. Außerdem könne grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Verkehrsteilnehmende sich durch polizeiliche Interventionen von künftigen Regelverstößen abhalten lassen. LTO berichtet.

OVG NRW zu Abschiebungen nach Syrien: Nun kritisiert auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Vincent Holzhauer auf dem JuWissBlog das Mitte Juli ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts NRW, wonach für syrische Rückkehrer in Syrien gegenwärtig keine generelle ernsthafte individuelle Bedrohung bestehe. Das OVG führe zur Begründung Quellen selektiv auf und folge dem weithin kritisierten "Body-Count-Ansatz", bei dem die Zahl der zivilen Todesfälle ins Verhältnis zur Einwohnerzahl gesetzt wird. Der Autor argumentiert, dass das OVG NRW "eine Einzelposition" vertrete und das Urteil daher nicht als "Freibrief für Abschiebungen nach Syrien" verstanden werden dürfe.

LG Halle zu Björn Höcke: Der Welt (Frederik Schindler) liegt die Urteilsbegründung des Landgerichts Halle vor, das den AfD-Politiker Björn Höcke wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB im Mai erstmals zu einer Geldstrafe verurteilte. Höcke müsse spätestens nach Ermittlungen gegen AfD-Funktionäre gewusst haben, dass die Parole "Alles für Deutschland" eine SA-Parole ist. Er habe versucht, sie “trotz ihres Verbotes in den alltäglichen Sprachgebrauch zu integrieren”. 

VG Weimar – AfD Thüringen/Verfassungsschutzbericht: Das Verwaltungsgericht Weimar verhandelt über eine Klage des AfD-Landesverbands Thüringen gegen drei Textpassagen des Thüringer Verfassungsschutzberichts, in denen der AfD vorgeworfen wird, dass sich in Äußerungen bekannter Parteivertreter:innen eine "Form extremistischer Islamfeindschaft" zeige. Außerdem wendet sich die AfD gegen Textpassagen, denen zufolge die AfD "Geschichtsrevisionismus" betreibe und das Rechtsstaatsprinzip angreife, wie die Welt meldet.

AG Berlin-Tiergarten zu “From the River…”: Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilte eine 22-Jährige wegen Billigung von Straftaten gemäß § 140 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 15 Euro (600 Euro), weil sie auf einer verbotenen Versammlung in Berlin-Neukölln am 11. Oktober 2023 die Parole "From the River to the Sea – Palestine will be free" rief. Aufgrund der zeitlichen Nähe zum Hamas-Terrorangriff des 7. Oktobers befand das Gericht, dass die Parole nur als Gutheißung des Angriffs und Negierung des Existenzrechts Israels verstanden werden kann. Die Angeklagte sagte hingegen aus, dass sie lediglich Solidarität mit einem Schüler bekunden wollte, der zuvor von einem Lehrer geschlagen worden sein soll, weil er ein Palästinenser-Tuch trug. Die Verteidigung kündigte bereits Berufung an. Es berichten FAZ (Paul Gross), taz-berlin (Luisa Ederle), spiegel.de (Wiebke Ramm), beck-aktuell und zeit.de.

StA Potsdam – Compact-Verbot/Näncy: Laut tagesschau.de (Philipp Raillon) prüft die Staatsanwaltschaft Potsdam derzeit, ob im Zusammenhang mit der ersten Ausgabe des Magazins "Näncy", das der August-Ausgabe des Compact-Magazins inhaltlich gleichkommt, der für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderliche Anfangsverdacht gegen Jürgen Elsässer gegeben ist. Elsässer war Hauptgeschäftsführer der seit Mitte Juli durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verbotenen Compact-Magazin GmbH. 

Recht in der Welt

USA – Google/Wettbewerbsrecht: Das US-Bundesgericht in Washington DC befand in einem wettbewerbsrechtlichen Verfahren, dass Google ein "Monopolist ist und wie ein solcher handelte, um sein Monopol zu erhalten". Google hatte u.a. Apple und Samsung Milliarden Dollar bezahlt, um in den Internetbrowsern als Standard-Suchmaschine voreingestellt zu sein. Die Rechtsfolgen werden in einem zweiten Verfahren bestimmt. Es berichten SZ (Ann-Kathrin Nezik), FAZ (Roland Lindner), Hbl (Philipp Alvares/Olga Scheer), Welt, LTO, netzpolitik.org (Tomas Rudl), spiegel.de, beck-aktuell, zeit.de (Elena Kirillidis/Henrik Oerding) im Frage-Antwort-Format und bild.de (Jasper Bitter).

Jannis Brühl (SZ) findet, dass das "Urteil zu spät kommt" – eine "Zerschlagung des Konzerns ist enorm aufwendig". Er schlägt vor, Google zu zwingen, Konkurrenzunternehmen "Zugang zum digitalen Maschinenraum" zu eröffnen sowie Google Zahlungen zu verbieten, die eine Vorzugsbehandlung sichern sollen. Jan Diesteldorf (SZ) erinnert an die bisherigen wettbewerbsrechtlichen Verfahren der EU gegen den Google-Konzern. In einem separaten Beitrag meint Roland Lindner (FAZ), dass das aktuelle Urteil "ein Signal ist, dass es für die Technologiekonzerne in ihrer Heimat ungemütlich wird" und nicht mehr nur die europäischen Wettbewerbsbehörden gegen Google und Co. vorgehen. Torsten Kleinz (spiegel.de) prognostiziert hingegen, dass das Urteil "nichts an dem grundlegenden Problem der Marktmacht der Digitalkonzerne ändern" wird.

USA – KI und Anwält:innen: Rechtsanwalt Markus Hartung gibt auf beck-aktuell einen Überblick über den von der American Bar Association veröffentlichten Rahmen für Rechtsanwält:innen beim Einsatz generativer Künstlicher Intelligenz.

Israel/Iran: Im Interview mit LTO (Franziska Kring) bewertet Rechtsprofessor Matthias Goldmann aus völkerrechtlicher Sicht den israelischen Anschlag auf den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija in Teheran und die möglichen iranischen Gegenreaktionen. Zwar habe Israel durch den Anschlag das völkerrechtliche Interventionsverbot und Regeln des Humanitären Völkerrechts verletzt, allerdings sei der Iran deshalb nicht zur Selbstverteidigung berechtigt, weil der Angriff Israels nicht mehr gegenwärtig ist. Das Völkerrecht kenne gerade kein "Recht auf Vergeltung".

Sonstiges

Grenzkontrollen: Im Interview auf beck-aktuell (Tobias Freudenberg) erläutert der Assistenzprofessor Jonas Bornemann, unter welchen Voraussetzungen die während der Fußball-EM eingeführten deutschen Kontrollen der EU-Binnengrenzen zulässig sind. Ursprünglich konnten Binnengrenzkontrollen nur als temporäre Maßnahme bei ernsthaften Bedrohungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dienen, allerdings wurde der Schengener Grenzkodex kürzlich geändert. Nun steht den nationalen Behörden ein größerer Spielraum zu.

Bayerische Rechtsverstöße: Die SZ (Andreas Glas/Nina von Hardenberg) analysiert anhand von drei Beispielen – der Wolfsverordnung, des Familiengelds und der Bezahlkarte – inwiefern die CSU und die Freien Wähler "aus strategischem Kalkül geltende Gesetze ignorieren". So entschied der Europäische Gerichtshof bereits 2022, dass eine der derzeitigen bayerischen Regelung ähnelnde österreichische Familiengeld-Norm gegen das EU-Recht verstößt – im Fall Bayerns plant die EU-Kommission derzeit eine Klage.


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LTO/lh/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 7. August 2024: . In: Legal Tribune Online, 07.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55163 (abgerufen am: 25.10.2024 )

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