Das Verkehrsministerium wird keine Ansprüche gegen Ex-Minister Scheuer wegen der gescheiterten Maut geltend machen. Der BGH bestätigt, dass Reichsbürger-Motive ein Mordmerkmal begründen können. Neu-Präsident Milei will die Gesetzgebungskompetenz.
Thema des Tages
Politikerhaftung/Andreas Scheuer: Das von Volker Wissing (FDP) geführte Bundesverkehrsministerium (BMDV) sieht davon ab, rechtliche Schritte gegen den ehemaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wegen der gescheiterten PKW-Maut einzuleiten. Der Bund musste 243 Millionen Euro Schadensersatz an die Betreiber der geplanten Maut-Anlagen zahlen, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Maut-Vorhaben 2019 als europarechtswidrig stoppte. Scheuer hatte trotz weit verbreiteter Zweifel an der Europarechtmäßigkeit des Maut-Vorhabens und des nahenden EuGH-Urteils einen Vertrag ohne Ausstiegsklausel abgeschlossen. Mit der nun ergangenen Entscheidung folgt das BMDV einem in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten, das im August veröffentlicht worden war. Danach besteht im Ministergesetz keine Haftungsnorm für Minister:innen und dies sei keine Regelungslücke. Nicht ausgeschlossen sei zwar eine Haftung nach § 280 Abs. 1 BGB aus öffentlich-rechtlichem Amtsverhältnis, jedoch bestehe ein "ganz erhebliches Prozessrisiko". Es berichten beck-aktuell (Pia Lorenz) und LTO.
Rechtspolitik
Bürgergeld-Sanktionen: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schlägt vor, Bürgergeld-Empfänger:innen die Leistungen über zwei Monate zu streichen, wenn sie sich durchgängig weigern, "zumutbare" Arbeitsangebote des Jobcenters anzunehmen. Einen entsprechenden Referentenentwurf hat er in die Ressortabstimmung der Bundesregierung gegeben. Die Regelungen sollen Teil des zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes werden. Nach Ansicht des Bundesarbeitsministeriums bewegt sich der Vorschlag im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht 2019 in seinem Urteil zu Hartz IV-Sanktionen gesetzten Grenzen. Es berichten FAZ (Manfred Schäfers), Hbl (Frank Specht) und spiegel.de.
V-Leute: Nun stellt auch die taz (Christian Rath) den Referentenentwurf des von Marco Buschmann (FDP) geführten Bundesjustizministeriums zum Einsatz sogenannter Vertrauenspersonen (V-Leute) bei der Strafverfolgung vor, der bislang nicht gesetzlich geregelt war. V-Leute können nun, nach Wunsch von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), auch Personen mit schwereren Vorstrafen sein, dürfen allerdings im Einsatz keine Straftaten begehen. Tatprovokation durch V-Leute und verdeckte Ermittler:innen soll nur bei sowieso schon tatgeneigten Personen zulässig sein, andernfalls liege ein Verfahrenshindernis vor.
Asyl: Im FAZ-Einspruch widmet sich Angelika Nussberger, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem individuellen Recht auf Asyl, das in Reaktion auf den NS-Staat zunächst denkbar weit gefasst war, weil "der Verfolgerstaat Sühne tun und eine Heimstätte für Verfolgte werden wollte". Nussberger kritisiert die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die das Asylrecht und die Menschenwürde in Bezug zueinander setzt, als "widersprüchlich". Zwar sei die Menschenwürdegarantie richtige Konsequenz des NS-Unrechts, allerdings verhindere "die Verankerung des Asylrechts in der Menschenwürde" jeglichen Dialog und erschwere daher Reformbestrebungen.
Gendern in Gesetzen: Rechtsprofessor Roland Schimmel hat auf beck-aktuell geschätzt, dass Gesetze im Schnitt fünf Prozent länger würden, wenn sie konsequent geschlechtsneutral formuliert sind. Manche Paragrafen würden bis zu einem Drittel länger.
Arbeitsrecht 2023: Die Anwältinnen Ulrike Conradi und Jacqueline Piran fassen auf LTO die wichtigsten bereits beschlossenen arbeitsrechtlichen Neuregelungen zusammen: Unter anderem können sich Arbeitnehmer:innen seit Dezember wieder unter bestimmten Voraussetzungen telefonisch krankschreiben lassen. Zum Jahreswechsel kommt es zwar zu einer Erhöhung des Mindestlohns, allerdings auch zu einer Verkürzung der Tage, für die Eltern Kinderkrankengeld beantragen können.
Ministerpräsidentenwahl Thü: Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) spricht sich für eine Präzisierung des betreffenden Artikels der Thüringer Landesverfassung aus, der die Ministerpräsidentenwahl regelt. Nach aktueller Rechtslage könnte, je nach Auslegung, unter Umständen auch ein Kandidat Ministerpräsident werden, der zwar "die meisten Stimmen erhält", allerdings mehr Gegenstimmen als Befürworter:innen hat. Es berichten LTO, spiegel.de und zeit.de.
Justiz
BGH zu Mordversuch durch Reichsbürger: Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, das einen Reichsbürger, der einen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle umgefahren hatte, wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilte. Nach Ansicht des BGH stehen Reichsbürger-Motive auf tiefster sittlicher Stufe, weil Reichsbürger:innen sich bewusst über grundlegende gesellschaftliche Regeln hinwegsetzen. Daher können diese Motive einen niedrigen Beweggrund im Sinne des § 211 Strafgesetzbuch darstellen. tagesschau.de (Gigi Deppe) berichtet.
OLG Düsseldorf – IS-Spendensammler:innen: Die Bundesanwaltschaft hat vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage gegen fünf IS-Unterstützer:innen erhoben. Die drei Frauen und zwei Männer sollen Spenden in Höhe von einer Viertelmillion Euro gesammelt und nach Syrien überwiesen haben, um dort inhaftierte IS-Mitglieder freizukaufen. Das OLG Düsseldorf wird nun über die Eröffnung des Gerichtsverfahrens entscheiden, wie zeit.de schreibt.
LG Braunschweig – Ex-VW-Chef Winterkorn: Das Landgericht Braunschweig hat auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen den Ex-VW-Chef Winterkorn wegen Verdachts der Marktmanipulation wieder aufgenommen. Das Verfahren wurde ursprünglich eingestellt, weil Winterkorn in einem anderen Strafverfahren wegen des Vorwurfs des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs eine wesentlich höhere Strafe drohte. In dem Verfahren wurde allerdings aus Rücksicht auf die Gesundheit Winterkorns noch nicht verhandelt. Es berichten faz.net, LTO und spiegel.de.
BVerfG 2023: LTO (Annelie Kaufmann) erinnert an die relevantesten bundesverfassungsgerichtlichen Entwicklungen diesen Jahres. 2023 gab es viel personellen Wechsel am BVerfG; zu den sechs ausgeschiedenen Richter:innen gehörten Gabriele Britz und Peter M. Huber. Die wichtigsten Entscheidungen der Karlsruher Richter:innen betrafen den für nichtig erklärten zweiten Nachtragshaushalt 2021, die Notwendigkeit eines Gesetzes über parteinahe Stiftungen, das Bundestagswahlgesetz 2020, das strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren, den Mindestlohn für Strafgefangene und das Berliner Wahlchaos.
Rechtsprechung 2023: Im dritten Teil des Jahresrückblicks erinnert beck-aktuell (Miriam Montag) erneut an wichtige 2023 ergangene Entscheidungen, unter anderem zur Entgeltgleichheit der Geschlechter, zur beA-Übermittlung und zu Verfassungsfeinden in der Justiz.
BAG-Präsidentin im Interview: Im Gespräch mit spiegel.de (Florian Gontek) erläutert die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, unter anderem das Verhältnis des BAG zum Europäischen Gerichtshof, die gläserne Decke für Frauen an den Bundesgerichten und die Entscheidung zur verpflichtenden Arbeitszeiterfassung. Gallner begründet die Relevanz des Arbeitsschutzes auch damit, dass ein Arbeitsverhältnis "kein Vertragsverhältnis auf Augenhöhe ist."
Recht in der Welt
Argentinien – Ermächtigungsgesetz: Argentiniens neuer rechtspopulistischer Präsident Javier Milei legte dem Kongress einen 664 Artikel umfassenden Gesetzentwurf vor, der die Ausrufung eines nationalen Notstandes bis Ende 2025 und die Aussetzung des verfassungsrechtlichen Verbots der Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen an die Exekutive beinhaltet. Zudem soll die Versammlungsfreiheit beschränkt und das Wahlrecht reformiert werden. Des Weiteren soll der argentinische Kongress einem Dekret des Präsidenten zustimmen, das umfassende wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Deregulierungen vorsieht. Zwar ist Mileis Partei sowohl im Senat als auch im Abgeordnetenhaus in der Minderheit, allerdings müssten beide Kongresskammern das Dekret zurückweisen, um das Inkrafttreten am heutigen Freitag zu verhindern. FAZ, taz (Jürgen Vogt), Hbl, spiegel.de und zeit.de berichten.
Polen - Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit: Die neue polnische Regierungskoalition kann die "Gesundung von Justiz und Medien" nicht mit normaler Gesetzgebung erreichen, weil Präsident Duda und das polnische Verfassungsgericht dies blockieren werden. Um rasch handeln zu können, stellt die Tusk-Regierung nun die Verfassungs- und Rechtmäßigkeit wesentlicher Entscheidungen der PiS-Regierung sowie des Verfassungsgerichts in Frage, analysiert die FAZ (Reinhard Veser).
Thailand – Verleumdungsklage: spiegel.de (Maria Stöhr) portraitiert Angkhana Neelaphaijit, die als Reaktion auf ihre öffentliche Kritik an den Arbeitsbedingungen eines Unternehmens durch selbiges Unternehmen wegen Verleumdung verklagt wurde. In derartigen "SLAPP-Cases", "Strategic Lawsuits Against Public Participation", nutzen mächtige Konzerne die Mittel des Rechtsstaats, um Kritiker:innen durch teure Gerichtsprozesse einzuschüchtern.
USA – Trump/Wahlausschluss: Ex-US-Präsident Donald Trump darf an den republikanischen Vorwahlen im US-Bundesstaat Maine nicht teilnehmen, weil er sich nach der letzten Präsidentenwahl an einem Aufstand beteiligt hatte. Dies entschied die demokratische Politikerin Shenna Bellows, die als Secretary of State von Maine auch für die Durchführung von Wahlen zuständig ist. Sie hat ihren Beschluss bis zur Entscheidung des Supreme Court von Maine selbst ausgesetzt. spiegel.de berichtet.
USA – New York Times vs. OpenAI: Nun schreiben auch SZ und LTO über die Klage der New York Times (NYT) gegen den ChatGPT-Entwickler OpenAI und gegen Microsoft vor dem Bezirksgericht Manhattan. Mit der Klage möchte die NYT, die als erstes amerikanisches Medienhaus diesen Weg beschreitet, grundsätzliche schadensersatz- und urheberrechtliche Probleme sowie Fragen zu entgangenen Gewinnen gerichtlich klären lassen. Die KI-Produkte von OpenAI und Microsoft sollen mit den Inhalten der NYT trainiert worden sein.
Sonstiges
BfJ - X/Twitter: Das Bundesamt für Justiz hat drei Bußgeldverfahren gegen X/Twitter mangels Zuständigkeit eingestellt. Der Europäische Gerichtshof hatte in einem Fall aus Österreich im November festgestellt, dass für die Aufsicht von Plattformen nur die Aufsichtsbehörde am Sitzstaat zuständig ist. Bei X/Twitter ist dies Irland. Das BfJ hatte im April Bußgeldverfahren eingeleitet, u.a. weil Twitter nicht gesetzeskonform auf Beschwerden reagiere. Die EU-Kommission hat inzwischen ein Verfahren gegen X/Twitter auf der Grundlage des Digital Services Act (DSA) eröffnet. t-online (Lars Wiegand) berichtet.
Rechter Terror: Ronen Steinke (SZ) kritisiert, dass das, was "als Terrorismus gilt, interessanterweise Ansichtssache ist". Während richtigerweise islamistische Anschläge entsprechend verfolgt werden, wird rechter Terror – wie im Fall des am 25. Dezember verübten Brandanschlags in Wächtersbach – nicht von der Bundesanwaltschaft aufgegriffen, sondern der lokalen Staatsanwaltschaft überlassen. Resümierend mahnt Steinke: "Es darf nicht geschehen, dass sich die Gesellschaft bei manchen Opfergruppen daran gewöhnt. Das wäre der größte Erfolg dieser Terroristen."
Voßkuhle im Interview: Rechtsprofessor Andreas Voßkuhle, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, spricht im Interview mit dem Tagesspiegel (Daniel Friedrich Sturm) über Erinnerungsarbeit, Antisemitismus, die demokratiekritische "stillle Mitte" der Gesellschaft, Deutschland als "Ausgleichsgesellschaft", die AfD, die Vorzüge der Demokratie und die Chinafreundschaft deutscher Unternehmen.
Grundrechtsverwirkung: Anlässlich des bevorstehenden 75-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes und der hohen Zustimmungswerte der AfD erinnert Heribert Prantl (SZ) an die "klare Botschaft des Grundgesetzes: 'Nie wieder'." Er fordert, dass von der in Art. 18 GG vorgesehenen Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung – der "Aufforderung zur Intoleranz der Demokratie gegenüber Verfassungsfeinden" – Gebrauch gemacht wird.
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Am Dienstag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/lh/chr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 29. Dezember 2023: . In: Legal Tribune Online, 29.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53514 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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