Die juristische Presseschau vom 30. November 2023: Wahl­re­form 2020 ver­fas­sungs­gemäß / BGH zu Erlös aus ver­jährter Straftat / Sch­mäh­kritik an Chebli

30.11.2023

Das BVerfG hält komplizierte Wahlgesetze mehrheitlich für zulässig. Der BGH ermöglicht die Einziehung von Taterlösen trotz Verjährung des Tatvorwurfs. Beschimpfung der SPD-Politikerin Sawsan Chebli war nicht von Meinungsfreiheit gedeckt.

Thema des Tages

BVerfG zu Bundestagswahlrecht 2020: Die "kleine" Wahlrechtsreform der Großen Koalition verstieß nicht gegen das Grundgesetz, womit der aktuelle Deutsche Bundestag auf verfassungskonformer Grundlage gewählt wurde. Wahlgesetze sind nicht verfassungswidrig, weil sie kompliziert sind. Das entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit knapper Mehrheit und wies damit den Normenkontrollantrag von 216 Abgeordneten der FDP, Linken und Grünen gegen die 2020 verabschiedete Änderung des Bundeswahlgesetzes ab. Die Abgeordneten hatten unter anderem moniert, die Streichung von Ausgleichsmandaten für drei Überhangmandate beeinträchtige unzulässigerweise die Stimmengleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) sowie die Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG. Dem schloss sich der Zweite Senat jedoch nicht an, der Gesetzgeber habe hier einen "Gestaltungskorridor" mit Blick auf "die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl". Zudem genüge Paragraf 6 BWG a.F. dem Gebot der Normenklarheit, da Wähler:innen die Regelungen des Wahlgesetzes nur "in groben Zügen" erfassen können müssen, das deutsche Wahlsystem sei nun einmal anspruchsvoll. Entscheidend sei, dass die Normen für die Wahlorgane eindeutig sind. Drei der acht Richter:innen sahen dies jedoch anders und gaben ein Sondervotum ab. Die Wähler:innen dürften nicht "im Blindflug" wählen. Im Wahlrecht müsse eine Norm allen Bürger:innen verständlich sein. Zwar hat die "große" Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition die streitgegenständliche Reform inzwischen ersetzt. Gegen sie sind aber auch bereits Klagen in Karlsruhe anhängig. Es berichten ua SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath), LTO (Max Kolter) und tagesschau.de (Max Bauer).

Zwar seien die Wahlrechtsnormen "in der Tat selbst für Juristen kaum lesbar und für Wählerinnen schon gar nicht", dennoch habe Karlsruhe gut daran getan, das Argument eines zu komplizierten Gesetzes nicht durchgehen zu lassen, meint Wolfgang Janisch (SZ). Denn dadurch würde ein Instrument für die Opposition geschaffen, jedes Mal gegen das strukturell nun einmal komplexe Wahlrecht zu klagen. Ähnlich sieht es auch Christian Rath (RND). Gesetze seien eben kompliziert und wer schaue vor dem Gang ins Wahllokal schon ins Wahlgesetz. Der Ruf nach einfachen Lösungen sei bisher das Markenzeichen von Populisten gewesen. Gut also, dass die Mehrheit der Verfassungsrichter:innen sich dem nicht angeschlossen habe. Reinhard Müller (FAZ) hingegen fragt sich, was eine freie Wahl denn nütze, wenn "der Wähler die Folgen dieser Freiheit nicht verstehen" könne, weil die Regelungen völlig unverständlich seien. Das Bundesverfassungsgericht lege "die Axt an das Königsrecht in der repräsentativen Demokratie", wenn es Bürger:innen derart beschränke.

Rechtspolitik

BVerfG-Richterwahl: Im Interview mit beck.aktuell (Pia Lorenz), erläutert Christian Rath, rechtspolitischer Korrespondent, die Vorgänge um die Wahl von Peter Frank (und die Nicht-Wahl von Winfried Bausback) zum Verfassungsrichter. Er fordert, dass die Personen, die im Bundestag oder Bundesrat als Verfassungsrichter:innen gewählt werden sollen, mindestens zwei Wochen vorher öffentlich zu benennen sind, damit zumindest die Möglichkeit einer Diskussion gesichert ist. 

Justiz

BGH zu Erlös aus verjährter Straftat: Wegen illegaler Waffenlieferungen nach Mexiko wird der Waffenhersteller Heckler & Koch weitere 690.000 Euro an die Staatskasse zahlen müssen. Das entschied der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshof. Die Einziehung von Taterlösen darf zusammen mit dem Urteil angeordnet werden, auch wenn durch dieses das Verfahren wegen Verjährung eingestellt wird. Es bedürfe nach § 76a Strafgesetzbuch (StGB) keines gesonderten Einziehungsantrags der Staatsanwaltschaft, solange die Tat noch Gegenstand der Hauptverhandlung ist. Es berichtet beck.aktuell.

OLG Stuttgart zu Schmähkritik gegen Chebli: Die deutsche Politikerin Sawsan Chebli (SPD) muss die Bezeichnungen in einem Facebook-Beitrag als "dämliches Stück Hirn-Vakuum" nicht hinnehmen. Das hat das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden und den Verfasser des Posts zur Unterlassung verurteilt. Es handle sich um unzulässige Schmähkritik, die nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Denn bei den Äußerung habe nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Sache im Vordergrund gestanden, sondern nur die Diffamierung der Person Cheblis. Den ebenfalls geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch wiesen die Stuttgarter Richter:innen aber ab, da es an dem erforderlichen "unabwendbaren Bedürfnis" für die Zubilligung einer solchen Geldentschädigung fehle. Es berichtet LTO (Marie Winzek).

LG Wiesbaden zu Raser: Wegen heimtückischen Mordes, Gefährdung des Straßenverkehrs und verbotenem Kraftfahrzeugrennen hat das Landgericht Wiesbaden einen 25-jährigen Autofahrer zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Dieser war in einer Tempo-50-Zone in der Wiesbadener Innenstadt mit 130 km/h über mehrere rote Ampeln gefahren und schließlich mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengeprallt, dessen Fahrer seinen schweren Verletzungen erlag, wie spiegel.de berichtet.

OLG Celle – Morde in Gambia: Am heutigen Donnerstag wird das Oberlandesgericht Celle sein Urteil im Prozess gegen den heute 48-jährigen Bai L. wegen der Beteiligung an Völkerrechtsverbrechen in Gambia verkünden. Er soll Mittäter an zwei Morden und drei versuchten Morden in Gambia in den Jahren 2003 bis 2006 gewesen sein. Wie spiegel.de (Hannah El-Hitami) schreibt, war dies unter anderem dadurch bekannt geworden, da Bai L. die Taten in einem Interview schilderte, das zum Sturz des früheren Diktators Jammeh beitrug. Bai L. ist der erste ehemalige Mitarbeiter des Jammeh-Regimes, der weltweit nach dem Weltrechtsprinzip vor Gericht steht.

LG Hamburg zu Gruppenvergewaltigung: Im Nachgang der Urteilsverkündung des Landgerichts Hamburg von Dienstag im Prozess um die Gruppenvergewaltigung einer 15-Jährigen im Hamburger Stadtpark berichten FAZ und LTO über die im Netz grassierenden Hasskommentare und Todesdrohungen gegen die Vorsitzende Richterin der Jugendstrafkammer Anne Meier-Döring. Der Richterverein Hamburg bekundete deshalb seine Solidarität und verurteilte die Hetze als Angriff auf den Rechtsstaat.

Die Zeit (Christoph Heinemann/Elke Spanner) stellt das Verfahren in den Kontext der Verschärfungen des Sexualstrafrechts aus dem Jahr 2016, nach der bereits ein erkennbar entgegenstehender Wille des Opfers zur Strafbarkeit wegen Vergewaltigung führt. Eine Verurteilung mancher Täter wäre in diesem Prozess sonst nicht möglich gewesen. Dennoch bleiben die Hürden bei der Beweisbarkeit.  

Die SZ (Jana Stegemann) liefert statistische Daten zu Gruppenvergewaltigungen und befasst sich mit der Frage, ob und wie es gelingen kann, junge Täter von Gruppenvergewaltigungen überhaupt wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die jungen Männer bräuchten ein anderes Frauenbild.

LG Leipzig zu Gil Ofarim: Die FAZ (Sebastian Eder) berichtet über die möglichen Hintergründe von Ofarims Geständnis und wie es zu der Vereinbarung kam. Es könne sein, dass es sich nur um ein "prozesstaktisches Geständnis" gehandelt habe, erläutert Ofarims Anwalt Alexander Stevens, da beim Vorwurf der Verleumdung oder der üblen Nachrede faktisch eine Beweislastumkehr gelte, wonach der Angeklagte beweisen müsse, dass er unschuldig sei und nicht umgekehrt. Dies jedoch wäre Ofarim nur schwer gelungen.

Im Zusammenhang mit dem Geständnis von Gil Ofarim geht die FAZ (Jannis Holl) der Frage nach, was Menschen dazu bringt, falsche Anschuldigungen zu tätigen. Laut der Psychologin und rechtspsychologischen Gutachterin, Renate Volbert, kommen als Motive finanzielle Interessen, Aufmerksamkeit oder auch Rache in Betracht.

AG München zur Letzten Generation/Pressetelefon: Die Überwachung des Pressetelefons der "Letzten Generation" war rechtmäßig, entschied das Amtsgericht München. Zweck der Überwachungsmaßnahme sei die Ermittlung "innerer Abläufe" gewesen. Das Verfolgungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden habe gegenüber dem Grundrecht der Pressefreiheit der betroffenen Journalist:innen überwogen. Dies sehen die betroffenen Journalist:innen, die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) und Reporter ohne Grenzen (RSF) anders. Über die eingelegten Beschwerden muss nun das Landgericht München I entscheiden. LTO berichtet. 

Richterbesoldung in BB: Der Brandenburger Landesverband des Deutschen Richterbunds fordert eine Anhebung der Besoldung für Brandenburger Richter:innen um 25 Prozent. Nur so könnten genügend Bewerber:innen für die Arbeit in der Brandenburger Justiz interessiert werden, anderenfalls drohe ein Qualitätsverlust. LTO (Markus Sehl/Sevinc Onart) berichtet ausführlich.

Recht in der Welt

Türkei – Missachtung des Verfassungsgerichts: LTO (Marion Sendker) befasst sich ausführlich mit den Vorgängen in der Türkei hinsichtlich einer Entmachtung des Verfassungsgerichts. Hintergrund ist, dass die 3. Strafkammer des obersten türkischen Berufungsgerichts Anfang November ein Urteil des Verfassungsgerichts bezüglich der Freilassung des Abgeordneten Can Atalay nicht anerkannte und zudem Strafanzeige gegen neun der 15 Verfassungsrichter wegen der "Überschreitung von Befugnissen" einreichte. Seit ein paar Tagen ermittelt nun die Generalstaatsanwaltschaft, trotz diverser Ungereimtheiten, wie der Istanbuler Verfassungsrechtsanwalt Cem Murat Sofuoğlu erläutert. Das Vorgehen der Berufungsrichter wird von der Regierung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gedeckt, der das Verfassungsgericht zwar nicht abschaffen will, aber bereits eine Änderung des Individualklagesystems ankündigte.

Frankreich – Justizminister: Der französischen Justizminister Éric Dupond-Moretti hat sich nicht des Amtsmissbrauchs und der illegalen Interessenvermengung schuldig gemacht. Damit hat der Pariser Gerichtshof der Republik den berühmten früheren Strafverteidiger und Zögling von Präsident Emmanuel Macron freigesprochen. Dupond-Moretti war vorgeworfen worden, interne Verfahren gegen vier ihm unliebsame Staatsanwälte angestrengt zu haben, um diese zu belasten. Seit 1958 war keinem Minister im Amt mehr ein Prozess gemacht worden. Die SZ (Oliver Meiler) berichtet.

Pakistan – Nawaz Sharif: Der frühere Premierminister Pakistans Nawaz Sharif ist im Berufungsprozess von den erhobenen Korruptionsvorwürfen freigesprochen worden. Er war 2018 wegen Korruption in zwei Fällen zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr darf er nun wieder kandidieren, meldet die SZ.

EGMR/Bulgarien – Zwangsprostitution: Nun berichtet auch beck.aktuell (Michael Dollmann) über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Opfer von Menschenhändler:innen Anspruch auf Entschädigung für einbehaltene Einnahmen haben. Die Entschädigung könne nicht mit Verweis auf "moralisch verwerfliche" Verträge verweigert werden.

Sonstiges

Strafrecht und Soziale Bewegungen: Im Staat und Recht-Teil der FAZ plädieren Strafrechtswissenschaftler:innen dafür, zivilgesellschaftlichen Protest und menschenrechtliches Engagement nicht zu kriminalisieren. Das Strafrecht sei das schärfste Schwert staatlicher Macht und grundsätzlich nur für besonders gravierende Güter- und Interessenverletzungen vorgesehen. Soziale Bewegungen und ihre Aktionen der öffentlichen Meinungsbildung und politischen Einflussnahme hingegen, seien elementarer Bestandteil einer demokratischen Gemeinschaft. Ersticke sie diese vorschnell, unterdrücke sie "eine zentrale Ressource ihrer Entwicklungsfähigkeit". 

 

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LTO/ali/chr

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. November 2023: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53297 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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