Die juristische Presseschau vom 2. November 2023: Gip­fel­treffen zur KI-Regu­lie­rung / Reform des Völ­ker­straf­rechts geplant / EGMR zur Ver­pi­xe­lung von Poli­zisten

02.11.2023

Regierungschef:innen diskutierten Rechtsrahmen für KI. Die Bundesregierung will mehr Rechte für Opfer und mehr Straftatbestände im VStGB. Der EGMR rügte deutsche Gerichtsurteile gegen bild.de. 

Thema des Tages

KI: Regierungsvertreter:innen aus Europa, China und den USA haben sich auf einem Gipfeltreffen über die Regulierung von Künstlicher Intelligenz ausgetauscht. Während die USA vor möglichen Gefahren für die nationale Sicherheit, den Wettbewerb oder die Privatsphäre warnt, sprach sich Bundesdigitalminister Volker Wissing (FDP) für eine "innovationsfreundliche Regulierung" aus. China signalisierte Kooperationsbereitschaft zur KI-Regulierung, um existenzielle Gefahren zu verhindern. In einem zweiseitigen Abschlussdokument bekräftigten 28 Staaten ihr Wissen um die Risiken von KI sowie den Willen, diese gemeinsam zu managen. FAZ (Philip Plickert), Hbl (Torsten Riecke) und Welt (Claudia Wanner) berichten.

Im Gespräch mit der Zeit (Jochen Bittner/Götz Hamann) diskutieren die EU-Abgeordnete Katarina Barley (SPD) und der Geschäftsführer des KI-Bundesverbands Daniel Abbou über die Ausgestaltung der KI-Regulierung anhand des aktuellen EU-Entwurfs für einen AI Act. Abbou sieht in Barleys Forderung nach grundrechtsschützender KI-Regulierung einen großen Wettbewerbsnachteil europäischer Start-Ups gegenüber jenen KI-Unternehmen, die bislang "ohne jede Kontrolle" KI-Programme entwickeln konnten. Zudem bürde die im Entwurf des EU-AI Act vorgesehene Risikoanalyse "kleinen europäischen Firmen enorme Kosten auf".

Rechtspolitik

Völkerstrafrecht: Die Bundesregierung beschloss einen Gesetzentwurf zur Reform des Völkerstrafgesetzbuches. Die Novelle sieht vor, dass Opfer von Straftaten auch als Nebenkläger:innen gerichtlich auftreten können, sie einen Rechtsbeistand zugeteilt bekommen und eine psychosoziale Prozessbegleitung beantragen können. Zudem sollen Dolmetschende das Verfahren für ausländische Medienvertreter:innen zugänglich machen, die über in ihrem Herkunftsland begangene Straftaten berichten möchten. Der Straftatbestand des "Verschwindenlassens" soll weniger restriktiv ausgestaltet werden; weitere Straftatbestände werden übernommen, um die deutsche Rechtslage dem Statut des Internationalen Strafgerichtshof anzupassen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) begründet die Novelle mit Verweis auf die Aktualität des Völkerstrafrechts – nicht zuletzt aufgrund des russischen Angriffskrieg. Es berichten taz, LTO und beck-aktuell (Esther Wiemann).

Migration: Ein weiterer Gesetzentwurf, den das Bundeskabinett beschloss, sieht Änderungen im Ausländerrecht vor, die Asylsuchenden und Geduldeten einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen sollen. Geduldete sollen, sofern sie bis Ende 2022 nach Deutschland einreisten, grundsätzlich eine Beschäftigungserlaubnis bekommen; Asylsuchende sollen bereits nach sechs – statt wie bisher neun – Monaten einer Arbeit nachgehen dürfen. Des Weiteren sieht der Beschluss Strafverschärfungen für Schleuser:innen sowie einen automatischen Datenaustausch zwischen Ausländer- und Leistungsbehörden vor. Es berichten SZ (Constanze von Bouillon), FAZ (Dietrich Creutzburg), taz (Barbara Dribbusch), LTO und zeit.de.

Asyl/Obergrenze: Rechtsprofessor Daniel Thym spricht sich in der FAZ für eine unverbindliche Obergrenze für Asylsuchende aus. Es stimme zwar, dass "das EU-Recht und das Grundgesetz allen Verfolgten eine Schutzgarantie gibt", allerdings heiße das "nicht, dass immer Deutschland diesen Schutz gewähren muss." In einer Obergrenze sieht Thym einen Mittelweg zwischen denen, die die Zuwanderung gänzlich stoppen wollen, und denen, die allen Menschen ein Bleiberecht in Deutschland zusprechen möchten. Die Debatte über Obergrenzen sei "rechtlich zulässig, politisch unausweichlich und auch ethisch zu rechtfertigen", resümiert Thym.

Asyl/Sozialleistungen: Anlässlich des dreißigjährigen Inkrafttretens des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), das eine "Rechtsgrundlage für reduzierte Sozialleistungen für eine allein über den Aufenthaltsstatus definierte Personengruppe schuf", analysiert Rechtsprofessor Frederik von Harbou auf dem Verfassungsblog die Kompatibilität dieses "Sonderrechts" mit Menschenrechten. Das Bundesverfassungsgericht hatte wiederholt Vorschriften des AsylbLG mit Verweis auf das in Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung beanstandet. Vor dem Hintergrund des im UN-Sozialrechtspakt gewährleisteten Menschenrechts auf Gesundheit ist insbesondere der durch das AsylbLG eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung problematisch.

Asyl: Die Grünen-Politikerin Misbah Khan erinnert im Interview mit der taz (Dinah Riese) daran, dass "wir Menschen nicht deshalb Grundrechte absprechen können, weil unsere Infrastruktur überlastet ist." Sie fordert, dass "die dysfunktionale Verwaltung" nachhaltig an die heutigen Umstände angepasst werden muss. 

Antisemitismus: In einem Brief an die Landesjustizministerien, der der Welt (Benjamin Stibi) vorliegt, fordert Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zu einer konsequenteren Strafverfolgung antisemitischer Taten auf. Mit der Betonung auf die erforderliche Durchsetzung des bestehenden Strafrechts begegnet Buschmann den Forderungen einiger Länder nach Gesetzesverschärfungen. Bei der am 10. November stattfindenden Justizministerkonferenz werden Bund und Länder sich über den strafrechtlichen Schutz vor antisemitischen Taten austauschen.

Parteinahe Stiftungen: In einem Gastbeitrag in der FAZ bewertet Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz den Entwurf des Stiftungsfinanzierungsgesetzes, über den derzeit im Bundestag beraten wird. Gärditz stellt heraus, dass der derzeitige Entwurf ein an das Beamtenrecht angelehntes aktives Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Finanzierungsbedingung bestimmt. Dies sei zwar "weder willkürlich noch unverhältnismäßig." Indes sei es "unglaubwürdig", wenn die Bundesregierung eine ähnliche Extremismusklausel als Bedingung für Subventionen beim Demokratieförderungsgesetze ablehnt.

Arbeitszeit: Die FDP und Arbeitgeber:innen fordern laut Hbl (Frank Specht) die Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Demnach sollen Abweichungen von der täglichen Höchstarbeitsdauer sowie flexibere Arbeitszeitgestaltungen ermöglicht werden. Die FDP hatte im Frühjahr einen Entwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur Dokumentation von Arbeitszeiten als zu weitgehend abgelehnt; seitdem gibt es keine neueren Entwicklungen des Reformvorhabens.

Prostitution: Im Rahmen des Online-Symposiums über die Regulierung der Sexarbeit setzt sich die wissenschaftliche Mitarbeiterin Shari Gaffron auf dem Verfassungsblog mit dem oft unzureichenden Krankenversicherungsschutz von Sexarbeiter:innen auseinander. Zwar sieht das Prostituiertensschutzgesetz vor, dass Sexarbeiter:innen im Rahmen der Anmeldung über den möglichen Versicherungsschutz informiert werden, allerdings "adressiert die Vermittlung von Informationen nur den Umgang mit einer überkomplexen Ausgangslage, nicht die Ausgangslage selbst."

Justiz

EGMR zur Verpixelung eines Polizisten: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass Gesichter von Polizist:innen auf Pressefotos nicht stets verpixelt werden müssen. Entsprechende deutsche Gerichtsurteile gegen bild.de verstießen gegen die Pressefreiheit. In dem zugrundeliegenden Fall zeigte bild.de Bilder eines gewaltvollen Polizeieinsatzes vor einem Club. Darauf war auch ein Polizist unverpixelt zu sehen, der sich korrekt verhalten hatte. Der EGMR differenzierte nun zwischen zwei Berichten: während das gerichtliche Verbot des ersten Berichts, der einseitig lediglich die Polizeigewalt behandelte, rechtmäßig sei, stehe das Verbot des zweiten bild.de-Berichts, der auch die Vorgeschichte zeigte, die zu dem Polizeieinsatz führte, nicht im Einklang mit Art. 10 EMRK. LTO berichtet.

BVerfG zu Wiederaufnahme: Anlässlich des Urteils zur Verfassungswidrigkeit der Wiederaufnahmemöglichkeit gem. § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung erläutert die SZ (Karoline Meta Beisel) in der Rubrik "Aktuelles Lexikon" den Rechtsgrundsatz "ne bis in idem". Das heute in Art. 103 GG verankerte Doppelbestrafungsverbot wurde schon von einem griechischen Denker erwähnt und während der Französischen Revolution konkretisiert.

BGH zu antisemitischen Parolen: Das Urteil des Landgerichts Dortmund, das vier Neonazis wegen Volksverhetzung verurteilte, weil sie antisemitische Parolen skandierten, ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof stellte keine Rechtsfehler fest, wie die SZ berichtet.

OLG Stuttgart – Michael Ballweg: Nachdem das Landgericht Stuttgart Mitte Oktober nur eine Anklage wegen Steuerhinterziehung, nicht aber wegen Betrugs und Geldwäsche gegen den Querdenken-Gründer Michael Ballweg zuließ, hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart umgehend Beschwerde beim Oberlandesgericht Stuttgart eingelegt. Dessen Entscheidung ergeht voraussichtlich in den kommenden Wochen. Die Staatsanwaltschaft wirft Ballweg vor, Unterstützer:innen von denen er Geld erhielt, über die Verwendung betrogen zu haben. Der taz (Benno Stieber) zufolge sah das LG Stuttgart keinen hinreichenden Tatverdacht für Betrug gegeben, weil in Ballwegs Spendenaufruf nie behauptet wurde, das Geld für bestimmte Querdenken-Projekte einzusetzen.

LG München I zu Kita-Kündigung: Die AGB-Klausel eines privaten Kindergartens, die einseitig eine Kündigung des Betreuungsvertrags vor Beginn der Vertragslaufzeit ausschließt, benachteiligt die Eltern unangemessen und ist daher unwirksam. Damit gab das Landgericht München I einer Klage von Eltern gegen die Abbuchung von Kitagebühren in Höhe von mehr als 6.000 Euro durch den Kindergarten statt, so LTO.

LG Leipzig – Gil Ofarim: Kurz vor Auftakt des Strafprozesses vor dem Landgericht Leipzig am 7. November erinnern Zeit (Anne Hähnig) und bild.de (Jérôme Nussbaum) an die Hintergründe der Tat, die dem Musiker Gil Ofarim vorgeworfen wird. Ofarim, der sich wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung gerichtlich verantworten muss, hatte im Oktober 2021 behauptet, in einem Hotel Opfer antisemitischer Diskrimnierung geworden zu sein.

AG Frankfurt/M. zu Usmanow/Durchsuchungen: Nachdem das Landgericht Frankfurt/M. bereits im Mai 2023 vier Durchsuchungsbeschlüsse für Immobilien des usbekisch-russischen Oligarchen Alischer Usmanow mangels ausreichendem Tatverdacht für rechtswidrig erklärte, stellte ein Ermittlungsrichter des Amtsgericht Frankfurt/M. nun auf Antrag von Usmanows Verteidigung fest, dass auch weitere Durchsuchungen und die Sicherstellung mehrerer Wertgegenstände nicht rechtens waren. Gegen Usmanow, der seit dem russischen Angriffskrieg wegen Putin-Nähe auf der EU-Sanktionsliste steht, wird wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Welt (Philipp Vetter) und bild.de (Oliver Grothmann) berichten.

Videoverhandlungen: LTO (Marie Winzek) gibt aktuelle Rechtsprechung in Hinblick auf die bereits seit 2002 in § 128a Zivilprozessordnung vorgesehene Möglichkeit von Videoverhandlungen wieder. Eine Übertragung der Verhandlung setzt nach § 128a ZPO eine allseitige zeitgleiche Wahrnehmung voraus. Hierzu entschied der Bundesfinanzhof im Juni 2023, dass die Richterbank während der gesamten Verhandlungsübertragung vollständig sichtbar sein muss, damit die Parteien wahrnehmen können, ob alle Richter:innen ihren Ausführungen folgen können.

BVerwG: Ab dem 1. November werden am Bundesverwaltungsgericht alle Akten elektronisch geführt. Außerdem bekommt das BVerwG einen 11. Senat, der für energierechtliche Fragen zuständig sein wird. beck-aktuell schildert die Neuerungen.

Recht in der Welt

USA – Tesla-Autopilot: Nun berichten auch SZFAZ (Roland Lindner), LTO und bild.de (Raphael Schuderer) über die Entscheidung der Jury des kalifornischen Bundesgerichts, wonach der Autohersteller Tesla nicht für die Folgen eines tödlichen Unfalls mit einem Auto haftet, das über einen "Autopiloten" verfügt. Während die Hinterbliebenen Fehler im "Autopiloten"-System für den tödlichen Unfall verantwortlich machten, bestritt der Anwalt Teslas, dass der "Autopilot" angeschaltet war und wies darauf hin, dass Fahrer:innen auch im Assistenzfahrmodus des Autos jederzeit bereit sein müssen, die Kontrolle zu übernehmen.

USA – Bayer: Der Chemiekonzern Bayer hat vor US-Gerichten nun die dritte juristische Niederlage im Zusammenhang mit einem glyphosathaltigen Unkrautvernichtungsmittel erlitten. Ein Gericht in San Diego sprach einem 57-jährigen Mann 332 Millionen US-Dollar Schadensersatz zu. sueddeutsche.de, faz.net und spiegel.de schreiben, dass Bayer in Berufung gehen möchte, weil das Unternehmen Verfahrensfehler moniert und das Urteil unbegründet sowie die Summe verfassungswidrig findet.

Juristische Ausbildung

"Hall of Shame": Das Online-Portal Jurios ließ über die Aufnahme in die "Hall of Shame" der juristischen Ausbildung abstimmen – auf Platz 1 steht der FAZ-Artikel der Rechtsprofessorin Tiziana Chiusi, die den integrierten Bachelor als "Loser-Bachelor" betitelte. Die fehlende blinde Zweitkorrektur belegt Platz 2, dicht gefolgt von den gestrichenen Ruhetagen im Examen. beck-aktuell (Esther Wiemann) fasst die Abstimmungsergebnisse zusammen.

Das Letzte zum Schluss

Täuschend echtes Halloween-Happening: Das Halloween-Kostüm samt Attrappen eines Club-Besuchers war so täuschend echt, dass es strafrechtliche Ermittlungen auslöste: ein als Bankräuber verkleideter 21-Jähriger kam nach ein paar Getränken auf die Idee, das zu seinem Kostüm gehörende Falschgeld unter den anderen Disco-Besucher:innen zu verteilen, die es dann an der Bar ausgaben. Aufgrund des schummrigen Lichts bemerkten die Bar-Angestellten das Falschgeld erst nach Mitternacht und riefen die Polizei. Gegen den verkleideten Bankräuber wird nun wegen Inverkehrbringens von Falschgeld ermittelt, wie sueddeutsche.de und bild.de schreiben.

 

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LTO/lh/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. November 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53051 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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